Heldendichtung

Zum Basiswissen einer marxistischen Charaktermaskenkunde gehört, dass politische und ökonomische Krisen jeweils mit den für ihre Zeit spezifischen Akteuren daher kommen. Es verwundert deshalb nicht, wenn Verfechter dieser Charaktermaskenkunde sich nicht einfach aus der Ruhe bringen lassen und daher glauben, mit klarem Kopf das vor ihnen liegende Phänomen sezieren zu können. Wer Beispiele sucht, wird auf den – oft ästhetisch weniger ansehnlichen – Covern einer beliebigen Ausgabe einer beliebigen linksradikalen Theoriezeitschrift fündig werden.

Gegen dieses Ruhigbleiben ist trotz aller Liebe für aufständische Unruhen und spontan-ausbrechende Revolte auch erst einmal nichts einzuwenden. Sicherlich wirken die Texte oft distanziert und vom eigentlich behandelten Ereignis entfremdet, wenn die Wut bis zur Unkenntlichkeit sublimiert wurde. Garantiert macht es die meisten Zeitschriften weniger lesenswert, weswegen nur glühende Anhänger mehr als ein paar Ausgaben ernsthaft verfolgen. Jedoch ermöglicht diese Ruhe ein Krisenphänomen, wie das des Edgelords, unaufgeregt zu betrachten.

Wenn also Ulf Poschardt, seines Zeichens Häuptling aller prätentiöser Poser von der Nordsee bis zu den Alpen und nebenberuflich als Chefredakteur der Welt angestellt, einen Text über den 2010 verstorbenen marxistischen Theoretiker Karl Held schreibt, dann ist es durchaus angebracht zu fragen: Welches Interesse hat der werte Herr Chefredakteur solch einen Text zu veröffentlichen?

Allgemein kann man davon ausgehen, dass das Interesse der meisten in der postmodernen Medienproduktion darin besteht, die ihnen eigene Ware Arbeitskraft samt ihres popkulturellen Überbaus – die eigene Marke – gewinnbringend zu veräußern. Kurz: sie denken klassisch-bourgeois an erster Stelle an sich selbst. Wenn also in meinungsstarken Texten historische Anekdoten ausgegraben werden, dient dies in erster Linie dazu sich selbst mit gewichtigen Tant zu behängen: „Die Beute wird, wie das immer so üblich war, im Triumphzug mitgeführt“, wusste schon Walter Benjamin.

Wenn Ulf Poschardt über Karl Held schreibt, dann nicht, weil er seinen Lesern diesen linken Theoretiker näher bringen will und auch nicht um mit dessen Hilfe dogmatische Marxisten als Leser zu gewinnen – wer von denen hätte überhaupt ein Welt Plus Abo, um den Text lesen zu können? Ihm geht es darum sich selbst in – oder besser noch: als – Held zu sehen, dessen Vornamen er deshalb im Artikel auch für bürgerlich und obsolet erklärt. Um gar keinen Zweifel zu lassen endsubstantiviert er dessen Nachnamen im Weiteren und macht ihn zu jemanden der „heldet“, was das Nacheifern sicherlich erleichtert.

Held ist man, – wenn man den Text destilliert, dadurch, dass man auch auf „sprachlicher Ebene Dissidenz“ vollzieht und sich nicht gemein macht mit einem Zeitgeist, den Poschardt schon oft genug als woke umschrieben hat. Nur logisch, dass Held sich der „Kathederhaftigkeit“ des Hochdeutschen verweigert – während genau jenes, wie Klaus Bittermann in einer Antwort schreibt, eine Emanzipation aus dem Provinziellen versprechen könnte. Mit jeder Faser ist Held von der Gesellschaft abgekehrt, mit jeder Geste wird diese Distanz betont. Man muss nicht mal Nietzsche gelesen haben, um hier an seinen Übermenschen denken zu müssen. Denn Held sein heißt auch dann ruhig zu bleiben, wenn das Publikum wie auf dem Konkret Kongress 1993 lauthals buht. Es heißt stärker zu sein als die Anderen, weswegen ihn Poschardt sicherheitshalber zum Nihilisten im Stile eines Jewgeni Basarow macht.

Dezent unter den Tisch fällt bei ihm, dass Held nicht alleine gegen ominöse Andere stand, sondern sich immer als Teil der Marxistischen Gruppe (MG) verstand und in deren Marxistischer Streit- und Zeitschrift (MSZ) nicht als eigenständiger Autor genannt wurde. Wenn Poschardt also die MG zum bloßen Anhängsel von Held erklärt, liegt der Verdacht nahe, dass der Chefredakteur hier vor allem über sich und das von ihm gedachte Verhältnis zu seiner Zeitung schreibt. Dementsprechend war das Scheitern von MG und MSZ, die sich 1991 auflösten, für den 55jährigen Kreuzfahrer gegen die Wokeness keine Reaktion auf die verstärkt einsetzende Repression gegen die Organisation, sondern Teil der Idee. Der schon seit der Gründung 1971 an den Tag gelegte Verzicht auf realpolitischen Ehrgeiz deutet er dementsprechend als Konzeptkunst. Wer einmal auf einer Veranstaltung des MSZ-Nachfolgers Gegenstandpunkt war, kann dieser Deutung nur schwer widersprechen; wer Poschardts Onlineauftreten verfolgt, kann auch diesen kaum anders begreifen.

An dieser Stelle ist der Punkt erreicht, wo die marxistische Charaktermaskenkunde an eine Grenze gerät und die Frage nach dem Interesse kaum weiter hilft. Es ist jene Grenze, über die Held auf dem Konkret Kongress 1993 mit Wolfgang Pohrt und Hermann Gremliza stritt; jener Moment, in dem „die Psychologie des bürgerlichen Individuums“ nur noch durch die Massenpsychologie Sigmund Freuds verstanden werden kann. Wenn die Selbsterhaltung aufgegeben wird und aus Bürgern und Arbeiter nur noch Volksgenossen werden, dann gelangt der Marxismus seit 1938 immer wieder an diese unüberwindbare Hürde.

Besonders hebt Poschardt in seinem Artikel hervor, dass für Held all die mit der Wiedervereinigung einhergehende Gewalt gegen Migranten nur eine Fußnote des deutschen Imperialismus sei. In dieser Projektion verstecken sich zwei verschiedene Zeitebenen, die zusammen gedacht werden, aber nicht gehören. Während der Chefredakteur der Welt nicht müde wird der gegenwärtigen antirassistischen Bewegung vorzuwerfen nur ihr eigenen Befindlichkeiten im Sinn zu haben, richtete sich Held dagegen explizit gegen eine im Entstehen begriffene antideutsche Bewegung. Beides wird wiederum von Poschardt in einer Traditionslinie gesehen, weswegen er auch Wolfgang Pohrt und die Antideutschen als Superlinken und Ursprung der Identitätspolitik stilisiert.

Dieses nicht gerade originelle Feindbild hat sich der fränkische Dünnbrettbohrer aus den USA entliehen. Seit Jahrzehnten hetzen evangelikale Rechte gegen den so genannten Kulturmarxismus, wo so unterschiedliche Theoretiker wie Theodor W. Adorno und Judith Butler in eins fallen und an eine von langer Hand geplante Zersetzung des christlichen Zusammenlebens geglaubt wird. Dabei handelt es sich um ein antisemitisches und rassistisches Feindbild, welches auf Authentizität baut, die, gerade weil es sie in der Kulturindustrie nicht geben kann, mit Gewalt wahr gemacht werden muss.

In der MSZ stand Anfang der 1990er schon jede individuelle Leiderfahrung delegitimierend und an die Antideutschen adressiert, dass der nationale Taumel bloß für die „Manövriermasse deutscher Macht mit viel Menschelei zum Unterhaltungsgenuss aufbereitet worden“ sei; bloß ein Teil der „Grundlüge des Nationalismus“, welches den imperialistischen Anspruch auf das Staatsvolk zu einem Recht des Menschen macht, aber ohne wirklich reale politische Relevanz. Kein „altbekanntes faschistisches Kriegsprogramm nach außen und mörderisches Säuberungsprogramm nach innen“ ließen sich ausmachen. Anders lautende Analyse der sich angeblich anbahnenden Manifestation des neuen Deutschlands „fallen allerdings ganz unökonomisch aus.“

Es ist diese rational daherkommende Gleichgültigkeit, in der sich Poschardt wiederfindet, um jede Wut gegen die Zustände in diesem Land als obsolet und moralisch zu verwerfen. Dem Fühlen selbst wird der Kampf angesagt und nicht der geistigen Überhöhung des Fühlens. Dass MG und MSZ nach dem Scheitern der Studentenrevolte genau jenem entmenschlichenden Denken auf den Leim gingen, dass das Kapitalverhältnis jedem Politikern aufzwingt, gehört zur linken Tragödie des zwanzigsten Jahrhunderts. Dass Ulf Poschardt feuilletonistisch das kollektive Leiden individualisiert, wiederum zum faschistischen Programm des 21. Jahrhunderts.

Und während immer noch große Teile der Linken denken, dass die Begriffe des Marxismus – wie Klasse oder Imperialismus beziehungsweise Diktatur des Proletariats – unbeschadet aus der ersten Verdichtung hervor gegangen sind, verdichtet das „neoliberale Twitter-Rumpelstilzchen“ im Stile des 20. Jahrhunderts den Marxismus erneut zum antibürgerlichen Ressentiment. Beide tun so, als hätte sich die deutsche Volksgemeinschaft in den entscheidenden Phasen der Moderne nicht immer als blutrünstige Beutegemeinschaft konstituiert, wenn auch jeweils mit anderen Absichten.

Interessanterweise sind es aber die zum Feindbild aufgeladenen Antideutschen, die die Einfachheit des Antiimperialismus und des Klassenkampfes zu Nichte machen beziehungsweise die Liebe zur deutschen Kulturnation denunzieren. Auf dem Konkret-Kongress 1993 erinnerte ein Gast genau daran: „Dass ihr nie darüber diskutieren wollt, dass dieses Land das Land nach Auschwitz ist; dass dieses Land das Land von Auschwitz ist; dass diese Täter […] Brandsätze bei Nacht und Nebel werfen, weil sie über Gaskammern und Zyklon B noch nicht verfügen, weil aber Gaskammern und Zyklon B genau das sind, was in ihren dumpfen Köpfen umgeht. Darüber könnt ihr nicht Reden, weil ihr selber zu bescheuert seid.“

Der linke Kompromiss mit der Herrschaft

Antizionismus als linker Kompromiss mit der Herrschaft.

„In Wirklichkeit spekuliert diese Behauptung mit der Tatsache, daß der historische Ursprung des Antisemitismus im Herzen der westlichen Zivilisation liegt, um zu suggerieren, seine Geltung beschränke sich darauf. Aber die Gefahr besteht viel mehr darin, daß er alle ansteckt, die dem Einfluß dieser Zivilisation unterliegen.“
– Leon Poliakov 1


Der folgende Text ist der Versuch damit zu beginnen, die antisemitischen Ereignisse und das Verhalten der Linken hierzulande einzuordnen. Dabei werden viele Gedanken aufgegriffen, die wir an anderer Stelle bereits geäußert haben oder auch Andeutungen auf andere Autor:innen gemacht, die wir nicht in Gänze ausführen können, ohne dass der Text völlig überladen wird. Wir haben uns deshalb dafür entschieden, mit einem Fußnotenapparat zu arbeiten und so diverse Ergänzungen, Vertiefungen und Erklärungen einzuarbeiten. Wir wollen versuchen, unsere Texte durch diese Methode Leser:innen mit verschiedenen Hintergründen zugänglich zu machen.


Im Mai 2021 fanden die schwerwiegendsten Raketenbeschüsse in der Geschichte Israels statt. Wie immer, wenn Israel angegriffen wird, wurde auch dies von Demonstrationen und einigen antisemitischen Attacken in Deutschland begleitet. Trotz zahlreicher Lippenbekenntnisse gegen Antisemitismus – wobei die (radikale) Linke Bremens auffallend schweigsam war2 – wird gerne außer Acht gelassen, welche radikalen Ausmaße der Antisemitismus in der Gesellschaft annimmt. Dass Juden:Jüdinnen vor Synagogen angegriffen werden, ist leider nichts Neues. Die Aggressionen der Gleichsetzung von Juden:Jüdinnen mit dem Staat Israel, die exemplarisch in Gelsenkirchen zutage traten, lassen allerdings die oft vorgenommene Schlussfolgerung, dass Antisemitismus und sein gesellschaftlich anerkannter Bruder Antizionismus nur von sogenannten ewiggestrigen Heimatverliebten (und solchen, die sich dazuzählen) ausgehen, nicht zu.3 Denn auch auf einer sich als links definierenden Demo am Bremer Osterdeich wurde hemmungslos die Sehnsucht nach einem Nahen Osten ohne jüdischen Selbstschutz propagiert.4  Die Tragweite der Ideologie der islamischen Rechten wird in dieser einseitigen Debatte gerne einfach vergessen.5 Außerdem wird außer Acht gelassen, welche Kontinuitäten und Einflüsse diese Ideologie abseits fundamentalistischer Milieus bereits jetzt besitzt.6 Die im Minutentakt erfolgende Propaganda der „digitalen Intifada“ (Ben Salomo) und die daraus resultierenden Erklärungen, in denen der Nahostkonflikt mal eben in 5 Minuten gelöst wird, ist nur eine von vielen Begleiterscheinungen. Beispielsweise wird Tarek Baé als populärer Antirassist gefeiert. Baé, der ehemalige SETA- und heutige TRT-Mitarbeiter7 , der unter anderem berechtigte Kritik an den organisatorischen Verstrickungen des Zentralrats der Muslime in Deutschland mit türkischen Nationalisten als islamophob denunzierte, wird wie ein unabhängiger Qualitätsjournalist im Kontext des Nahostkonflikts zitiert und geteilt. Bevorzugt wird er dabei als Gegenspieler der als zionistisch imaginierten bürgerlichen Presse inszeniert.

Oft wird darauf verwiesen, dass diese Ideologeme der islamischen Rechten neue, isolierte Phänomene des rechten Rands seien, mit denen es bislang kaum Berührungspunkte gab. Dagegen spricht zum Beispiel in Bremen, dass es bereits 2017 Kontakte von muslimischen Gemeinden zur libanesischen Terrorzelle Hisbollah gab.8 Ein Reportagebeitrag der ARD von 2018 zeigt, dass der lange Arm des autoritären iranischen Regimes, dessen Ideologie inhärent die Vernichtung des Staates Israel fordert,9 bis nach Delmenhorst reicht. Aktueller lässt sich der Al-Quds-Tag nennen, der alljährlich die Vernichtung des israelischen Staates fordert und am 8. Mai in Bremen in Form eines Autokorsos begangen wurde. Doch nicht nur hier lässt sich erkennen, welche einfachen Erklärungen den Menschen nutzen, um dem Juden unter den Staaten das Existenzrecht abzuerkennen. Ebenfalls fand auf dem Bremer Domshof eine antizionistische Demonstration statt, auf der sich ein bekanntes Gesicht der Bremer Linkspartei und die Träger:innen mindestens einer Antifa-Fahne gemeinsam mit türkischen Nationalisten unter den Teilnehmenden einreihten.

Der sich auf Demonstrationen und in Aufrufen artikulierende Antizionismus geriert sich dabei als antikoloniales, ergo antirassistisches Unterfangen, das seinem Bestreben nach fortschrittlich und demnach über regressive Tendenzen wie Antisemitismus erhaben ist. Dieses Narrativ wird zum einen durch die demagogische Konstruktion Israels als koloniales Projekt des Imperialismus und zum anderen durch die stetige Abgrenzung von eindeutig antisemitischen Akteur:innen der islamischen wie deutschen Rechten gestützt. Zurückzuführen ist diese Tendenz auf den zunehmenden Einfluss der gegenwärtigen intersektionalen Ansätze, die Antisemitismus als bloße Herrschafts- und Unterdrückungsform begreifen. So können Unterdrückte – und jene, die als solche betrachtet werden – nicht selbst unterdrückenden Ideologien anhängen. Sie werden zu unmündigen Subjekten, denen die Möglichkeit, selbst zu unterdrücken, abgesprochen wird. Es fehlt ein Begriff davon, dass sich Antisemit:innen etwa in ihrem Hass auf „die da oben“ selbst als Unterdrückte wahrnehmen. Dieser Ansatz kann wesentliche Spezifika des Antisemitismus nicht erfassen und ist daher in seiner Analyse zwangsläufig verkürzt.10 Der Antisemitismusbegriff der pro-palästinenischen, woken Linken geht so in einem Gros der Fälle nicht über eine Form des Rassismus, die sich explizit gegen Juden und Jüdinnen richtet, hinaus. Dadurch verkommt die Antisemitismuskritik zu einem Lippenbekenntnis, das nur der Festigung der eigenen Position dient und keinerlei Widerspruch darin sieht, auf Demonstrationen implizit und explizit die Vernichtung des jüdischen Staates und seiner Bewohner:innen zu fordern.11 

Emanzipatorische Kritik an diesen Zuständen aus vorgeblich antideutschen Kreisen wird dabei allein mit Verweis auf die verortete Gesinnung der Kritiker:innen bestenfalls ignoriert, im Zweifelsfall aber diffamiert. Die explizite Abgrenzung sowohl gegenüber offen antisemitisch auftretenden Antiimperialist:innen als auch vermeintlich rassistischen bzw. „islamophoben“12 Antideutschen erinnert dabei partiell an eine innerlinke Adaption der Hufeisentheorie, als deren gesellschaftliche Mitte sich die Vertreter:innen des antizionistischen Antirassismus wähnen. Parallel zur herkömmlichen Hufeisentheorie werden auch hier Extreme konstruiert, die ohne weitere argumentative Grundlage aus dem konsensbedürftigen Diskurs ausgeschlossen werden können. Gleich der bürgerlichen Mitte ist allerdings auch die linksradikale Mitte nicht über regressive Tendenzen erhaben. Die äußerliche Distanzierung von offen zur Schau getragenem Antisemitismus bedeutet noch keine Absage an israelbezogenen Antisemitismus, Schuldabwehrantisemitismus oder die Relativierung der Shoah.  Die Stigmatisierung der Extrempole – Antideutsche und Antiimperialist:innen – erschwert eine solidarische, innerlinke Kritik an diesen Zuständen. Gerade die Linke, die vermittels der bürgerlichen Hufeisentheorie selbst diffamiert und marginalisiert wird, sollte derlei Immunisierungsstrategien wachsam und kritisch gegenüberstehen. Die aktuellen Entwicklungen weisen jedoch eher in eine gegenläufige Richtung.13

Allerdings wird das Narrativ der rassistischen Antideutschen und die damit verbundene Karte, Antisemitismus und Rassismus gegeneinander auszuspielen, durch Post-Antideutsche, die sich selbst als Rechtsantideutsche sehen, aktuell bestärkt. So gab es Stimmen aus diesem Umfeld, die sich nicht entblödeten, mit der Parole „Antifa heißt Abschiebung“ auf die antisemitischen Vorfälle zu reagieren und so implizit eine antisemitismusfreie westliche Gesellschaft zu proklamieren, anstatt Judenhass in all seinen Facetten als globales Phänomen zu begreifen. Sie reagieren so mit einer rassistischen Logik auf Antisemitismus. Wie nationalistisch und darüber hinaus fatal für Israel diese Logik ist, haben die Genoss:innen von antideutsch.org aufgezeigt: „Hypothetisch angenommen, man könnte überhaupt Antisemiten einfach so abschieben. Ignorieren wir einfach mal, dass Antisemitismus in Deutschland zu Hause ist und die Regierung mit dem Iran Deals macht, der Israel auslöschen will. Was dann? Man schiebt Menschen ab – was ohnehin eine Praxis ist, die kein Kommunist gut finden kann -, die ihren Vernichtungswunsch gegenüber Juden artikulieren und schickt sie in den Libanon oder Gaza-Streifen oder das West-Jordanland? Was tuen sie wohl dort? Man muss schon sehr national gesinnt sein und sich einen Scheiß für die Situation von Juden außerhalb Schlands interessieren, um so etwas zu fordern. Und dazu kommt nun noch all das, was zu recht seit Jahrzehnten von der radikalen Linken an Abschiebungen kritisiert wird.“14

Diese oben beschriebenen Post-Antideutschen sind wesensverwandt mit sich als antikolonial bezeichnenden Antisemiten. Wo sich bei den einen den Jüdinnen:Juden und dem „Jude[n] unter den Staaten“ (Hans Meyer) bedient wird und er zum nutzbaren Objekt gemacht wird, um dem eigenen Hass auf Rassifizierte ein Ventil zu geben, sind es bei den sich als antikolonial verstehenden Linken die fremden, urtümlichen Völker in der Peripherie der Welt, die gerecht und voller Ehrlichkeit ihren Kampf gegen den abstrakten jüdischen Staat und den „großen Satan“ in Form der Vereinigten Staaten von Amerika führen. Beide Logiken ergänzen sich so und nehmen in ihrer rassistischen Kritik des Antisemitismus Elemente antisemitischen Denkens auf, ebenso wie die antisemitische Kritik des Rassismus rassistische Elemente bedient.

Hier deuten sich zwei Seiten derselben Medaille an. Beide Weltbilder sind sich ähnlicher, als sich die sich vermeintlich unversöhnlich gegenüberstehenden Parteien je eingestehen würden. Bei den Post-Antideutschen und bei Teilen der „antikolonialen“ Linken sind die gesellschaftlich Rassifizierten bloße Objekte Weder Juden:Jüdinnen noch Rassifizierte kommen in dieser Logik als selbständige Subjekte vor, sondern bloß als politische Verhandlungsmasse, die die eigenen Herrschaftsvorstellungen legitimiert.. Ob man nun den Jihadisten, der in Gaza nicht in die Norm passende Menschen verbrennt, als Freiheitskämpfer verklärt oder den vor dem Krieg Geflüchteten mit ebenjenen Jihadisten gleichsetzt, um seinem Verlangen nach Rassimus nachgehen zu können -das „Fremde“ ist für beide eine homogene Masse, an der sich eigene Wünsche und Triebregungen entladen können.15 

Der rechtsantideutsche Philozionismus ist nichts anderes als ein Spiegelbild anstelle der notwendigen Überwindung des Antizionismus. Dieser Antizionismus, der sich gegen den jüdischen Agenten der Herrschaft von Staat und Kapital richtet, ist eine konformistische Rebellion, die am Ende die tatsächliche Rebellion gegen die Herrschaft verhindert. Solange Israel existiert, kann die Hamas ihre Herrschaft legitimieren und die notwendig gewalttätigen Anteile dieser Herrschaft auf Israel abspalten. Linke in Deutschland beteiligen sich daran ideologisch, weil auch sie gedanklich den Frieden mit der Herrschaft gemacht haben, wenn sie verlangen, dass sich der Mensch unter irgendein über den Menschen stehendes Konstrukt – wie Kultur, Ethnizität oder Identität – einzuordnen hat. In einem Kollektiv gibt es stets Differenzen, wenn das Kollektiv gemeinsam etwas untergeordnet ist – selbst wenn es nur eine Idee ist – muss es diese Differenzen abspalten können, um handlungsfähig zu bleiben.16 Dass Rechte Antisemit:innen sind, erachten wir im Übrigen nicht weiter für erwähnenswert, erklärt es sich doch von selbst, dass Kollektive von Menschen, die der Herrschaft affirmativ gegenüberstehen, auch kein Problem mit herrschaftslegitimierenden Ideologien haben. Doch dass Linke, die wir eigentlich als Genoss:innen im Kampf gegen Herrschaft sehen, in ihrem Denken einen Kompromiss mit der Herrschaft gemacht haben, können wir nicht so einfach akzeptieren – schließlich brauchen wir die Bundesgenossenschaft mit ihnen im Kampf gegen Staat, Kapital und ihre rechten Verteidiger.

Die Theorien des Anti- und Postkolonialismus versagen in ihrem Versuch, die Problematik des Antizionismus zu verstehen. Das hat einerseits damit zu tun, dass der Antikolonialismus historisch – so gerechtfertigt er im konkreten Moment sicherlich auch war – kein Angriff gegen die Herrschaft als solche ist, sondern der Versuch, die Herrschaft in die Hände des eigenen Volkes zu legen. Daraus resultieren tendenziell die oben beschriebenen Abspaltungsmechanismen. Vor allem aber liegt es oft daran, dass Kolonialismus als Erklärung nicht weiter in historische Entwicklungen eingebettet wird und Europa als ein kolonisierender Block verstanden wird. So fällt etwa unter den Tisch, dass kolonialistische Bewegungen überhaupt Juden:Jüdinnen aus dem heutigen Israel vertrieben, dass Osteuropa, die neue Heimat vieler Juden:Jüdinnen, selbst wiederum koloniale Spielfläche dreier imperialer Großmächte war und nicht zuletzt, dass die koloniale Expansion sehr häufig mit Versuchen einer antisemitischen Homogenisierung im Inneren einherging: 1492, das Jahr, in dem Kolumbus die Kolonisierung der Amerikas einleitete, war auch das Jahr, in dem Juden aus Spanien vertrieben wurden.

Kapitalismus – als dessen immanente Bestandteile Kolonialismus und Imperialismus verstanden werden müssen – lässt sich spätestens seit dem historischen Moment, in dem Herrschende und Beherrschte sich kollektiv zum Judenmord zusammenschlossen, nicht auf ein einfaches Herrscher versus Beherrschende-Schema reduzieren17. Der antikoloniale Befreiungskampf, der sich gegen koloniale Herrschaft auflehnt, schafft es nicht aus dem kapitalistischen System herauszutreten und fällt selbst in kapitalistische Muster zurück, wenn er etwa einen Staat errichtet. Zugleich wird die für den antikolonialen Befreiungskampf notwendige Kollektivierung selbst repressiv nach innen, weil auch sie eine Triebunterdrückung von ihren Mitgliedern verlangt. Antizionismus und Antisemitismus können die hier nötige Abfuhr angestauter Triebe und zugleich eine Legitimation des Verzichts liefern. Diese Mechanismen werden jedoch von einer Kritik des Kolonialismus, die sich einer dialektischen Betrachtung des Kapitalverhältnisses verweigert, nicht erfasst. Im Gegenteil, sie werden sogar reproduziert.

Das in postkolonialen Zusammenhängen verbreitete Narrativ der weißen und rassistischen Antideutschen wiederum erfüllt das, was Sartre als Tatbestand des Antisemitismus definiert: die totale Wahl. Die eigene Anschauung wird unangreifbar, indem Kritiker:innen des Antisemitismus als Rassisten betrachtet und so aus der Linken ausgeschlossen werden. Mit Verweis auf psychoanalytische Theorien des Antisemitismus kann man davon ausgehen, dass, je vehementer das Narrativ bedient wird, desto mehr die antisemitischen Individuen selbst eine Ahnung davon besitzen, dass sie antisemitisch agieren oder sich in ihrem Denken noch längst nicht frei von den Denkformen des Kapitals gemacht haben. Eine Ahnung, die sie sich nicht eingestehen können, sehen sie sich doch als Postkoloniale im essentialistischen Antagonismus zur gesellschaftlichen Herrschaft. Die antisemitische Projektion ist das bewährteste Mittel, um dieses fetischisierte Denken – die immer nur relativ mögliche Rebellion wird in das Individuum hineingelegt – aufrechtzuerhalten: Das Festhalten am Antisemitismus und die Verdrängung der schmerzhaften Einsicht der eigenen Verstrickung erfüllt so die Funktion von „self care“.18 Wir haben am eigenen Leib erfahren, wie sich antisemitische Narrative materialisieren und wie kollektiv die ausgeübte Gewalt rationalisiert wird, um jede schmerzhafte Selbsterkenntnis im Keim zu ersticken.

Den hier angedeuteten antisemitischen Angriff haben wir in zwei früheren Texten mehrfach analysiert und Falschbehauptungen richtig gestellt.19 Dennoch scheint es angesichts der sich hartnäckig haltenden Lügen relevant zu sein, zumindest den Versuch zu wagen, diesen entgegenzutreten. Trotz unseres Bewusstseins, dass die Personen, welche die Wahl getroffen haben, Antisemit:innen zu sein, sich von einer weiteren Darstellung wenig beeindrucken lassen, hoffen wir zumindest darauf, dass diesen Antisemit:innen und ihren Falschbehauptungen künftig mehr Gegenwind anstelle von unkritischer Zustimmung und Verbreitung entgegenschlägt.

Nach der Ermordung von Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar, Kaloyan Velkov und Gabriele Rathjen20 am 19. Februar in Hanau durch einen faschistischen Terroristen gab es in vielen Städten Gedenkveranstaltungen für die Ermordeten. So wurde auch in Bremen ein Gedenkspaziergang durch das Viertel in Richtung Innenstadt veranstaltet, der bereits zuvor als Demo nach einem rechten Brandanschlag auf die Friese angemeldet war. Zu dieser Demonstration trafen sich viele über die Anschläge Erschütterte zum gemeinsamen Gedenken, so auch unsere Gruppe. Da wir auf diesem Gedenkspaziergang auf den antisemitischen Hintergrund des Täters aufmerksam machen wollten, nahmen wir uns zwei (ca. 20x15cm große) Israelfähnchen mit. Getroffen wurde zwar kein Jude* und keine Jüdin* dennoch waren auch sie mit dem Angriff gemeint.21 Nach Erreichen des Versammlungsorts entdeckten wir weitere Nationalflaggen, unter anderem kubanische und kurdische, welche offensiv geschwungen wurden.22 Dieser Eindruck verleitete uns zu dem Trugschluss, dass unsere im Vergleich winzigen Flaggen mit dem Davidstern kein großes Aufsehen erregen würden.

Nach einem erfreulichen Kommentar zu den israelischen Fähnchen und zwei irritierenden Gesprächen setzte sich der Zug in Bewegung. Nach ein paar Minuten zerstreute sich unsere Gruppe, da wir nicht mit Bedrohungen auf einer Gedenkveranstaltung rechneten. Als zwei Gruppenmitglieder mit den Fähnchen an einer ca. 10-15 Personen umfassenden Gruppe vorbeilief, erfolgte der antisemitische Angriff. Aus dieser großen Gruppe heraus löste sich zuerst ein (mittlerweile in Hamburg lebender) stadtbekannter Antisemit und versuchte lautstark und aggressiv, einem erschrockenen Gruppenmitglied die Flagge mit dem Davidstern zu entreißen. Das besagte Gruppenmitglied suchte Schutz am Rande der Demo, doch der Aggressor, angestachelt von der tatkräftigen Unterstützung seiner Gruppe, versuchte weiterhin uns die Flaggen zu entreißen. Nur durch das beherzte Eingreifen weiterer Demoteilnehmer:innen konnte der Angriff auf unsere bei weitem unterlegene Gruppe abgewendet werden. Im Nachgang wurden wir noch bespuckt und verängstigt und gedemütigt von den Angreifer:innen zurückgelassen. Diese konnten trotz unserer Berichterstattung den Anmelder:innen gegenüber weiter an der Demo teilnehmen und uns noch ein weiteres Mal verbal bedrohen, bis wir die Demo verließen. Später durften wir mehrfach lesen, dass wir nicht Opfer eines antisemitischen Angriffes gewesen seien, sondern rassistische Aggressoren.23

Die im Nachgang immer wieder ins Gespräch gebrachte Kategorisierung um den Begriff Rassismus zeugt im Kontext des Antisemitismus von einer unzureichenden Analyse des Nationalsozialismus. Das Verständnis von Nationalsozialismus als kolonialistisch-imperialistisches Phänomen, also als Symptom des Kapitalismus, verkennt, dass die nationalsozialistische Volksgemeinschaft die negative Aufhebung des Widerspruchs von Kapital und Arbeit war, die zum kollektiven Massenmord der Shoah führte. Die Shoah wurde nicht aus wirtschaftlichem Interesse begangen, sondern um die als übermächtig imaginierten Juden:Jüdinnen auszulöschen. Hier zeigt sich auch der bereits zuvor angesprochene Unterschied zwischen Rassismus und Antisemitismus, den viele Postmoderne und Antiimperialist:innen oftmals ignorieren. Rassismus geht von den minderwertigen Anderen aus, während Antisemitismus von den übermächtigen Juden und Jüd:innen ausgeht, die wegen ihrer Übermacht umso konsequenter vernichtet werden müssen, denn der/die Antisemit:in geht von der drohenden eigenen Vernichtung aus. Deswegen wurden auch vor allem Osteuropäer:innen zur Zwangsarbeit eingesetzt, während Juden und Jüd:innen primär vernichtet wurden. Die postmoderne Faschismustheorie begreift den Nationalsozialismus zwar nicht nur als kolonialistisch bzw. imperialistisch, wie im antiimperialistischen Verständnis, sondern auch als weiß. Jedoch bezog sich die nationalsozialistische Rassenideologie – zumindest in erster Linie – auf andere Kriterien als dem der Hautfarbe, mit denen die Grenze zwischen Volksgemeinschaft und den zu versklavenden Osteruopäer:innen, den Sinti und Roma und den zu vernichtenden Juden und Jüd:innen gezogen wurde. 

Die Außenpolitik des Deutschen Reiches war unter anderem weniger weiß im postmodernen Sinne und vielleicht sogar antikolonial in den Augen einiger postkolonialen Antizionist:innen.24 Mit einem arabischsprachigen Propaganda-Sender wurde antisemitische Propaganda mit islamistischem Kitsch aus Zeesen bei Königs Wusterhausen nach Jerusalem gesendet. Das Narrativ von Großbritannien und den USA als jüdisch kontrolliert und nach der Vernichtung des Islams strebend kombiniert mit der historischen Tatsache, von diesen Kolonialmächten besetzt und ausgebeutet worden zu sein, bot einen verlockenden Anreiz, um der antisemitischen Ideologie zu verfallen und auf ihr das eigene homogenisierte und ideologisch mobilisierte nationale Projekt aufzubauen. Auch wenn Hitler in „Mein Kampf“ über Araber:innen herzieht25, versuchte er sie als Teil eines antisemitischen Zweckbündnisses zu mobilisieren, um die Gründung eines jüdischen Staates zu verhindern.26 Im Zweifel überwindet die Volksgemeinschaft ihren Rassismus, solange der Antisemitismus eint.

Die Zusammenarbeit und Propaganda blieb nicht folgenlos. 1945 lebten 900 000 Juden und Jüdinnen in den arabischen Staaten. Aktuell sind es 4500.27 Juden sind zwischen die Fronten im ungleichen Krieg zwischen Orient und Okzident geraten, den postkoloniale Theoretiker:innen und Aktivist:innen zu Recht untersuchen und kritisieren.28 Israel, der Schutzraum der Juden:Jüdinnen, war und ist kein kolonialer Staat, auch wenn er heute diverse Institutionen der westlichen Staaten übernommen hat.29 Doch waren die ersten strategischen Partner Israels nicht westliche Staaten, sondern die Sowjetunion und die slawischen Staaten, deren Bewohner:innen die Opfer des innereuropäischen Kolonialismus und Nationalsozialismus waren. Eigentlich ist Israel ein antikoloniales Projekt, weil es den im Kolonialismus Entwurzelten – europäischer wie arabischer Provenienz – eine Heimat bietet, da in der Frontstellung, die der Antikolonialismus produziert, Juden nirgends dazugehören. Doch genau diese Erkenntnis geht im Zuge der einseitigen Betrachtung verloren, ebenso wie die historische Tatsache, dass im Antisemitismus Herrschende (deutsches Bürgertum bzw. Europa) und Beherrschte (deutsches Proletariat bzw. arabische Welt) sich gegen die Juden zusammentun.

Dies alles kann nur eine erste Skizzierung der Problemkonstellation sein. Wir hoffen jedoch, dass sie zumeist die Grundlage für eine dringend notwendige Debatte schafft, die im Mai ausgeblieben ist. Uns geht es hier wie anderswo darum, aufzuzeigen, wie sich Denkformen der Herrschaft des Kapitals auch in den Köpfen derer niedergeschlagen haben, die nicht selbst herrschen oder die Herrschaft gutheißen. Wir werden uns in den nächsten Monaten weiter mit den hier angeschnittenen Themen beschäftigen und dazu auch einige Diskussionsveranstaltungen organisieren.

In diesem Sinne,
Nie wieder Deutschland,
Solidarität mit Israel,
& für den Kommunismus,
Solarium.

1 Weiter schreibt Poliakov, Shoah-Überlebender und Autor der umfangreichen Studie „Geschichte des Antisemitismus“, in seiner Polemik „Vom Antizionismus zum Antisemitismus“: „So tritt etwa im 19. Jahrhundert das facettenreiche Phänomen des jüdischen Antisemitismus auf. Und in den USA hat sich in jüngster Zeit gezeigt, daß Schwarze den besten Nährboden für den Antisemitismus abgeben. Soll man da wirklich glauben, dass einzig und allein die Araber sich einer Immunität oder gar einer besonderen Allergie gegen den Antisemitismus erfreuen?“ Mehr zum Antisemitismus der US-amerikanischen Black Panther Bewegung: : https://monde-diplomatique.de/artikel/!5568215

2 Als Ausnahme ist hier das Bremer Bündnis gegen Rechts zu nennen, das auf Twitter ein Statement veröffentlichte: https://twitter.com/bgrBremen/status/1400725367195906049

3 Als solch vermeintlich „Ewiggestrige“ können sowohl klassische Neonazis wie die NPD als auch nicht-autochthone Autoritäre wie die Grauen Wölfe verstanden werde. Beide sind als Teil einer globalen Rechtsradikalen offen antisemitisch und auch antizionistisch.

4 Wie AfD-Watch Bremen berichtet – und dafür durchaus Kritik erntet – wurde auf dieser Demo, die sich von Antisemitismus distanzierte, die Parole „From the river to the sea – Palestine will be free“ gerufen. Diese Parole imaginiert ein Palästina, das vom Fluss Jordan bis zum Mittelmeer reicht und impliziert die Vision eines Nahen Ostens ohne Israel. Dass dieser Nahe Osten ohne Israel auch ein Naher Osten ohne Juden wäre, zeigt die Geschichte des Ausschlusses – zumeist antizionistischer – Juden aus der palästinensischen und anderen arabischen Nationalbewegungen, die der Staatsgründung vorausging und maßgeblich zur Verbreitung der zionistischen Idee unter den Juden der arabischen Welt beitrug. Lesenswert dazu: Nathan Weinstock – Der zerrissene Faden, besonders das Kapitel: „Das heilige Land“.

5 Weil sich die Demo am Osterdeich von dieser „islamischen Rechten“ distanzierte, meinten Teilnehmende in mehreren Diskussionen, dass diese Demo auch frei von derartigen Ideologien wäre. Eine Reflexion darüber, wie weit diese Ideologien bereits in der positiven Bezugnahme auf die palästinensische Nation (und die Akzeptanz des von ihr definierten Ausschlusses von Juden:Jüdinnen) stecken, fand nicht statt. Stattdessen wehte die palästinensische Fahne als einzige auf der Demonstration, weder die rote noch die Antifa-Fahne oder sonstige über die Nation hinausweisende Fahne waren zu sehen.

6 Der Begriff des Volkes (oder auch der Nation) ist ein hervorragendes Beispiel dafür, wie rechte Ideologien es – nicht nur in diesem Fall – in linke Mobilisierungen und Gedanken hineingeschafft haben. Eine Nation ist nie etwas anderes als die kulturelle Homogenisierung eines Staatsvolkes und somit notwendigerweise affirmativ gegenüber den bestehenden Verhältnissen. Ihr wohnt immer ein Moment des Abschlusses inne. Auch Israel ist hier keine Ausnahme, sondern bloßer Beweis der Macht dieser Verhältnisse, in denen Juden:Jüdinnen gezwungen sind, auf ebenjene Homogenisierung zurückzugreifen, um nicht selbst vernichtet zu werden. Der Staatsgründung Israels gingen zwei an dieser Homogenisierung gescheiterte jüdische Emanzipationen voraus: die der Juden:Jüdinnen zum Staatsbürger und die zum Sowjet, da sowohl die bürgerlichen Staaten des Westens als auch die Sowjetunion ihre staatliche Homogenisierung – ergo Machtstabilisierung – auf dem Rücken der jüdischen Gemeinschaft ihrer jeweiligen Länder ausübten. In einem Redebeitrag haben wir dazu mal gesagt: „Es geht nicht darum, dass Israel im Gegensatz zu anderen Staaten irgendwie humaner wäre, sondern darum, dass Israel durch die Inhumanität der anderen Staaten zur einzig möglichen Verteidigung der Jüdinnen und Juden geworden ist.“ Siehe: https://antideutschorg.wordpress.com/2020/01/30/im-eingedenken-an-die-opfer-des-nationalsozialismus-2/

7 SETA ist eine wissenschaftliche Stiftung, die dem Erdogan-Regime nahesteht. TRT ist das türkische Pendant zu Russia Today, also ein Propaganda-Instrument des Erdogan-Regimes. Es wundert also nicht, dass Baé keine Probleme mit dem Einfluss türkischer Nationalisten im Zentralrat der Muslime hat.

8 Siehe: https://www.mena-watch.com/deutsches-islam-zentrum-sammelt-geld-fuer-die-hisbollah/]

9 Zur antisemitischen Ideologie des iranischen Regimes ist das Buch „Suicide Attack“ von Gerhard Scheit zu empfehlen, der zum Thema auch diverse Vorträge gehalten hat, die auf YouTube zu finden sind: https://www.youtube.com/watch?v=On1VWbKjaa8 & https://www.youtube.com/watch?v=pmwEnnHAr44

10 Es verwundert nicht, dass der Antisemitismus – anders als der Rassismus – das Anti bereits im Namen trägt und auch in seinem Selbstverständnis diese gefühlte Rebellion trägt. Während der Rassismus die Höherwertigkeit einer ethnischen Gemeinschaft postuliert und so ihre Herrschaft positiv stützt, imaginiert der Antisemitismus die Herrschaft einer Elite, gegen die er sich positioniert. Näheres zum Verhältnis von Rassismus und Antisemitismus hat Joachim Bruhn geschrieben, der im Antisemitismus den Hass auf die vermeintlichen Übermenschen und im Rassismus den Hass auf die vermeintlichen Unmenschen sieht: https://www.ca-ira.net/wp-content/uploads/2018/06/bruhn-deutsch_lp.pdf

11 Dadurch ergibt sich auch eine Gemengelage, in der sich ein antisemitischer Antirassismus artikuliert, den wir an anderer Stelle bereits kritisiert haben: https://antideutschorg.wordpress.com/2020/03/28/die-provokation-der-juedischen-existenz-reloaded/. Siehe auch https://taz.de/Autorin-ueber-modernen-Antisemitismus/!5784415/

12 Wir haben den Begriff in Anführungszeichen gesetzt, weil er unserer Meinung nach fälschlicherweise einen Rassismus – der die Religion lediglich als Mittel zum Zweck, als inhaltliche Ausgestaltung seines Ressentiments sieht – mit einer Kritik an einer Religion in einen Topf wirft. Es ist kein Zufall, dass der Begriff vom iranischen Regime, dem die islamische Religion zur Legitimation ihrer Herrschaft dient, popularisiert wurde. In der Taz konnte man dazu bereits 2010 lesen: „Wenn man sich die Entstehungsgeschichte des Wortes anschaut, muss man an dessen Tauglichkeit und begrifflicher Trennschärfe zweifeln. Glaubt man den Publizistinnen Caroline Fourest und Fiammetta Venner, dann kam das Wort erstmals im Iran nach der Islamischen Revolution von 1979 auf: Den Mullahs diente er als politischer Kampfbegriff, um ihre Gegner zu diffamieren.

Bis in die Gegenwart wird der Begriff in diesem Sinne durch islamische und islamistische Organisationen wie die Islamic Human Rights Commission in Großbritannien instrumentalisiert, die fast jede kritische Stimme mit diesem Schlagwort belegt. Zum anderen steht „Phobie“ von der Wortbedeutung her für ein besonders ausgeprägtes Gefühl der Angst, das über ein vertretbares Maß hinausweist. Es soll hier aber nicht um individuelle Emotionen, sondern um reale Diskriminierung gehen und um eine Feindseligkeit, die sich gegen Muslime als Muslime richtet.“ Siehe: https://taz.de/Debatte-Islamophobie/!5135490/

13 Auch das ist ein Beispiel für die linke Übernahme eines rechten Ideologems. Der Rechten dient die Hufeisentheorie dazu, sich einerseits des eigenen antisemitischen NS-Erbes zu entledigen, während man zugleich jede Form linker Gesellschaftskritik, die nach den Ursprüngen der NS-Ideologie und ihrer Massenbasis in der Mitte fragt, diffamiert. Die Übernahme dieser Denkstruktur in der Linken hat den gleichen Effekt: das antisemitische Erbe, das über Stalinismus und Maoismus bis hin zur postkolonialen Theorie Edward Saids reicht, wird verdrängt, während zugleich die grundlegende Kritik am Antisemitismus diffamiert wird.

14 Siehe: https://twitter.com/antideutsch_org/status/1394712751587594248

15 Projektionen wie die hier dargelegten verraten einem nie etwas über den Gegenstand, aber immer viel über jene, die von ihm sprechen. Wer im Jihadismus einen Freiheitskampf sieht, der träumt von einer Welt, in der jede Form der bürgerlichen Vermittlung von Herrschaft aufgehoben ist, gerade weil man selbst dermaßen in diesen verstrickt ist. Wer den Geflüchteten per se als Jihadisten sieht, der weiß um die eigenen Triebregungen, die der bürgerlichen Vermittlung im Weg stehen und spaltet sie so auf das rassifizierte Objekt ab.

16 Hier sind wir wieder beim Punkt der Homogenisierung. Dazu haben wir an anderer Stelle geschrieben: „1998 erschien Leah C. Czolleks Text Sehnsucht nach Israel, in dem sie sich mit der Allgegenwart eines linken und feministischen Antisemitismus beschäftigte, die Weigerung der deutschen Linken, das Problem des Antisemitismus ernst zu nehmen, scharf kritisierte und ihre eigene Erfahrung als Jüdin innerhalb dieser Gruppen durchzuarbeiten versuchte. Der Text ist getragen von der Enttäuschung einer linken und feministischen Jüdin, dass ausgerechnet ihre Genoss*innen, mit denen sie gegen die herrschende Gesellschaft kämpfen möchte, den Antisemitismus der herrschenden Gesellschaft selbst reproduzieren. 18 Jahre später reflektierte sie erneut diesen Text und stellte erschüttert fest: „Solidarität haben Juden und Jüdinnen in der feministischen und antirassistischen Szene nicht zu erwarten.“7 Die Überlegungen, die sie zu diesem Urteil kommen lassen, können einiges zum Verständnis der hier behandelten Debatte beitragen. Für Czollek beginnt das Problem bereits in der geforderten Positionierung, welche die Illusion beinhaltet, eine gesellschaftliche Position ließe sich auf einen klaren Nenner bringen, gewissermaßen essentiell im Individuum fixieren.8 „Jede Irritation“, schreibt sie, „soll vermieden werden. Auf irgendeine Art soll die Unberechenbarkeit der Pluralität, die Unübersichtlichkeit der Pluralität, das Chaos der Pluralität gebannt werden.“9 In diesem Zwang zur Positionierung – auf den wir bereits im letzten Statement mit dem Begriff Zwangs-Outing eingegangen sind – manifestiert sich ein Streben nach „Reinheit und Einfachheit. Es sollen sichere Orte geschaffen werden, indem alles draußen zu bleiben hat und jene vor der Tür bleiben müssen, die die Reinheit stören.“10 Die Reinheit der Allianz gegen Diskriminierung wird dabei jedoch nicht dadurch gestört, dass Antisemit*innen im Block mitlaufen, sondern einzig und allein durch zwei israelische Flaggen, die diesen Zustand erst deutlich machen und deshalb als Eindringlinge ausgemacht und mit aller Macht abgewehrt werden müssen.“ Siehe: https://antideutschorg.wordpress.com/2020/03/28/die-provokation-der-juedischen-existenz-reloaded/

17 Genau darin liegt für Kommunist:innen die Besonderheit von Auschwitz. In der antisemitischen Massenvernichtung wurden die Unterschiede zwischen Herrschenden und Beherrschten, Arbeiter:innen und Kapitalist:innen aufgehoben. Es waren nur noch Deutsche, die gemeinsam die Endlösung anstrebten. Genau diese Möglichkeit der absoluten Vereinigung der Klassen – ohne sie abzuschaffen – bietet der Antisemitismus noch heute.

18 In dem die Unterdrückungserfahrung nicht mehr als Produkt gesellschaftlicher Verhältnisse gesehen wird, sondern in die Körper der Unterdrückten selbst hineingelegt wird, wird sie fetischisiert. Anstatt zu erkennen, dass Unterdrückte in bestimmten Situationen selbst unterdrücken, müssen Opfer des Antisemitismus der Unterdrückten zu Weißen und damit per se zu Tätern gemacht werden. Die eigene Verstrickung in Herrschaft kann so abgespalten werden.

19 Siehe: https://antideutschorg.wordpress.com/2020/02/22/die-provokation-der-juedischen-existenz/ & https://antideutschorg.wordpress.com/2020/03/28/die-provokation-der-juedischen-existenz-reloaded/

20 Auch die Mutter des Täters war ein Opfer. Dieser Femizid darf in der Betrachtung des Attentates nicht unter den Tisch fallen gelassen werden,

21 Ein Blick in das Manifest des Attentäters zeigt diese Verstrickung von Antisemitismus und Rassismus sehr deutlich.

22 Die Behauptung, dass nicht die Israelfahne, sondern generell das Tragen einer Nationalfahne der Grund für den Angriff – der gerne als Intervention abgetan wird – war, ist und bleibt eine Verdrehung der Tatsachen. Wie wir bereits in der Antwort auf ein Statement der Administratoren der Telegram-Gruppe Hütbürger:innen Watch klargestellt haben: „Das Statement schließt damit, dass erneut Falschaussagen über den antisemitischen Angriff auf unsere Gruppe Anfang des Jahres 2020 verbreitet werden, um uns als „Wiederholungstäter:innen“ darstellen zu können. Das Narrativ, dass wir „als weiß männlich dominierte Gruppe“ auf der Demo aggressiv eine Eskalation erzwingen wollten und dabei für „Faschos“ gehalten wurden, ist dabei ebenso an den Haaren herbeigezogen wie das angebliche Verbot von Nationalflaggen, über das wir uns hinweggesetzt hätten. Es gibt ein Video, das deutlich zeigt, dass wir mit zwei kleinen Israelfähnchen versuchten, den BIPoC-Block zu passieren, um in den vorderen Bereich der Demo zu gelangen. Dabei wurden wir von einem – nicht nur uns bekannten Antisemiten – als Hurensöhne beleidigt und angespuckt. Im danach entstehenden Tumult konnten wir nur durch die Hilfe von uns Unbekannten unbeschadet aus der Situation herauskommen. Hätten wir provozieren wollen und die Auseinandersetzung gesucht, wären wir sicherlich besser auf derartige Reaktionen vorbereitet gewesen. Der Angreifer trug übrigens eine Kuba-Fahne, was ebenso wenig wie sein antisemitischer Angriff als Grund gesehen wurde, ihn von der Demo zu verweisen. Wir haben uns in zwei Texten ausführlich zu diesen Vorwürfen geäußert und werden auch in naher Zukunft die Beweislage in Gänze veröffentlichen, um derartige Mythenbildung und Täter/Opfer-Umkehr als das zu entlarven, was sie sind: antisemitische Propaganda. Diese Propaganda wird von dem Statement von „Hutbürger:innenwatch Bremen“ erneut verbreitet, was die zahlreichen Bekenntnisse gegen Antisemitismus in etwa so glaubwürdig erscheinen lassen wie die eines Heiko Maas.“ Siehe: https://antideutschorg.wordpress.com/2021/05/13/statement-zu-hutbuergerinnenwatch-bremen/

23 Die genaue Ausführung des Vorfalls haben wir bereits im direkten Anschluss der Demo veröffentlicht: https://antideutschorg.wordpress.com/2020/02/22/die-provokation-der-juedischen-existenz/

24 Es gab zahlreiche Sympathie für den Nationalsozialismus bei den Kolonisierten des britischen Empires, wie Uli Krug basierend auf einem Buch von Dan Diner hier darlegt: https://jungle.world/artikel/2021/14/der-vergessene-ozean)

25 Folgerichtig kursieren im arabisch-sprachigen Raum überarbeitete Ausgaben, die entsprechende Passagen heraus kürzten und bis heute ideologischen Einfluss auf nationalistische Bewegungen ausüben.

26 Siehe dazu: https://www.deutschlandfunk.de/ns-und-naher-osten-exportierter-antisemitismus.886.de.html?dram:article_id=461073 

27 Siehe dazu das bereits erwähnte Buch von Nathan Weinstock: Der zerrissene Faden.

28 Bei Edward Said, der den Orientalismus als Diskurs des Okzident untersuchte, werden Juden:Jüdinnen pauschal dem Okzident zugezählt. Um dies argumentativ aufrechtzuerhalten, muss er dann auch die gesamte Kooperation der deutschen mit den arabischen Antisemit:innen unterschlagen. Diese Kooperation beweist einmal mehr das Potential des Antisemitismus, Herrschende (Okzident) und Beherrschte (Orient) zusammenzubringen.

29 Auch das hat historische Gründe. Denn es war die westliche Demokratie und die auf westlichen Prinzipien basierende Sowjetunion, welche historisch den Juden:Jüdinnen die Emanzipation von feudaler Unterdrückung versprachen.

What other Germany?

Dieser Text wurde ursprünglich als Diskussionsbeitrag für eine angestrebte Reflexion des sogenannten Antifa-Sommers in einer Zeitschrift gegen die Realität geschrieben. Er bezieht sich bewusst auf unseren Jungle World Artikel vom letzten Jahr und wurde seit dem Sommer 2020 nicht mehr bearbeitet.

»Das deutsche Volk wird kämpfen, bis es die Niederlage spürt. Wenn es soweit ist, wird niemand mehr unschuldig sein. Sie werden alle kommen und sagen: ›Wir waren dagegen.‹ Das ist der entscheidende Punkt, dem wir uns stellen müssen, und wenn wir daran scheitern – was keine schöne Vorstellung ist –, dann steht vielleicht ein neuer Krieg bevor: ein Krieg, aus dem niemand außer dem ›gutwilligen deutschen Anti-Nazi‹ lebend herauskommen wird.«
– Walter Loeb1

Was vor 20 Jahren im sogenannten Antifa-Sommer zur Staatsdoktrin der Berliner Republik wurde, war die Mär vom anderen Deutschland. Eine Erzählung, die schon zu Zeiten des Londoner Exils deutscher KommunistInnen und SozialdemokratInnen geprägt wurde. Mittlerweile hat die deutsche Erinnerungspolitik die militärische Niederlage in einen moralischen Sieg verwandeln können. Die Kinder und Enkel der Volksgemeinschaft, die nur mit äußerster Härte an ihrem mörderischen Treiben gehindert werden konnte, werfen die Erblast gekonnt ab und inszenieren sich werbewirksam als Nachkommen eines antifaschistischenDeutschlands. Diese Bewegung kulminiert in einem staatstragenden Antifaschismus der Zivilgesellschaft, in dem der 8. Mai als Tag der Befreiung zum Nationalfeiertag erhoben werden soll, ganz so, als wäre man nicht jene Nation, von der die Welt zumindest kurzzeitig befreit worden ist.2 So sehr die Kritik deutscher Erinnerungspolitik zum festen Bestandteil des linksradikalen Einmaleins geworden ist, so wenig wurde die eigene Rolle und Abkehr von der Militanz des revolutionären Antifaschismus in den Fokus gerückt. Doch der Antifa-Sommer und die daraus resultierende zivilgesellschaftliche Politik der Berliner Republik sind einer von vielen Belegen, wie sich eine radikale Linke erfolgreich in das kapitalistische Staatswesen hat domestizieren lassen.3

Das andere Deutschland als Herrschafts-Legitimation

Es gehört zum linksradikalen Allgemeinwissen, dass es bei staatlicher Aufarbeitung der Vergangenheit im Besonderen um gegenwärtige Interessen geht. Was sich im Begriff der Gedenkpolitik widerspiegelt, ist die von Walter Benjamin schon zur Zeit des Nationalsozialismus denunzierte Tatsache: »auch die Toten werden vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein«4. In einer staatlich-verfassten Welt darf es nicht verwundern, dass Staaten versuchen, ihre Legitimation aus der Geschichte zu ziehen: Niemand hat mehr als eine Fortsetzung der Herrschaft zu erwarten. Dass die Geschichte der Erschlagenen nur als Beute der Herrschenden denkbar ist, folgt dieser brutalen Logik. Das sollte niemals außer Acht gelassen werden, wenn über staatliches Gedenken gesprochen wird. Nicht zuletzt gilt das für die zahlreichen linken Oppositionsparteien, auf die so manche in Zeiten der AfD ihre antifaschistischen Hoffnungen setzen.5 Wie schon Karl Marx anmerkte, sind diese als Regierungsparteien im Wartestand zu begreifen, deren Wirken sich nie gegen die Herrschaft und Gewalt als solche richtet, sondern immer nur gegen das aktuelle Regierungspersonal. Die Opposition strebt nicht danach mit der Instrumentalisierung der Toten zu brechen, von der Benjamin sprach. Ihr geht es um eine inhaltliche Verschiebung. Exemplarisch zeigte das die deutsche Sozialdemokratie nach 1918,6 die den Klassenkampf als potenziellen Sieg und nicht als Notwendigkeit das Siegen an sich zu beenden sah, in großer Regelmäßigkeit.

Im Londoner Exil der frühen Vierzigerjahre bewies die deutsche Sozialdemokratie, was realpolitischer Gehalt der geschichtsphilosophischen Überlungen Benjamins war, die zur gleichen Zeit in Paris entstanden. Unmöglich war es ersterer zu großen Teilen, dem deutschen Volk – das aus parteipolitischer Sicht aus potenziellen Wählern bestand – eine Schuld an den Verbrechen des Nationalsozialismus zu geben. Wie 1914 schickte man sich an zu beweisen, dass deutsche ProletarierInnen sehr wohl ein Vaterland hätten. Das schöne Gerede von Solidarität wurde bereitwillig auf dem Altar der nationalen Sache geopfert. Wie alle Altklugen hielt man diese Aufgabe der jugendlichen Radikalität für einen Beweis der eigenen Reife. (Das haben Ex-Linksradikale immer gemeinsam, ob sie nun in den zwanziger Jahren kämpfende KommunistInnen oder in den neunziger Jahren militante Antifas waren.) Mit aller Kraft nahm die deutsche Exil-Sozialdemokratie den nationalen Kampf gegen jene Minderheit von ExilantInnen auf, die bereit waren, das Vaterland für das Wohle der Menschheit zu verraten und dabei gemeinsam mit nicht-deutschen Politikern wie dem tschecho-slowakischen Exilpräsidenten Edward Beneš7 oder dem britischen Premierminister Winston Churchill radikal gegen die durch Massenvernichtung zum Behemoth synthetisierte Volksgemeinschaft agitierten.

Während für jene der bedingungslose Antifaschismus als Gebot der Stunde erkannt wurde, konstruierten ihre damaligen GenossInnen fleißig den Mythos vom anderen Deutschland, das lediglich von einigen wenigen Nazis verführt wurde und nur noch befreit, aber sicher nicht umerzogen werden müsse. Die radikalen und antideutschen AntifaschistInnen sahen keine Möglichkeit, innerhalb der Sozialdemokratie etwas zu bewegen. Sie schlossen sich zur FightForFreedom-Gruppe zusammen und arbeiteten zunächst mit konservativen britischen Kräften zusammen, auch weil die britische Sozialdemokratie sich gegen das Behaupten einer deutschen Kollektivschuld wehrte.8 Die Gründungsresolution der FightForFreedom-Gruppe definierte den Unterschied zwischen »jenen, die das nationale Interesse und die Interessen des deutschen nationalen ‹Sozialismus› über Erwägungen der internationalen Gerechtigkeit und über die gemeinsamen Interessen aller Völker – heute namentlich über die Interessen der vergewaltigten Völker – stellen und jenen, deren Anschauungen und Politik den nationalistischen Strömungen nicht unterworfen sind, und die sich Sinn für politische Gerechtigkeit erhalten haben.«.9

Nach der militärischen Niederlage des Nationalsozialismus wurden die von den Alliierten besetzten Gebiete in die bis Ende der Achtziger die Weltpolitik dominierende Blockkonfrontation des Kalten Krieges eingegliedert. Die mit der Verdopplung Deutschlands einhergehende Hoffnung, dass zwei Staaten weniger deutsch wären als einer, entpuppte sich als eklatante Fehleinschätzung. Während in der BRD die Verfolgung der Nationalsozialisten peu à peu eingestellt wurde und stattdessen die Partei der KommunistInnen und ihre SympathisantInnen gejagt wurden, verhängte die Staatsführung der DDR ein Verbot der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) und integrierte ehemalige Nationalsozialisten wie Curt-Heinz Merkel in den Staatsapparat. Auf beiden Seiten der Mauer verloren die nationalsozialistischen Verbrechen und ihre Aufarbeitung angesichts der Blockkonfrontation an Bedeutung und spielten nur noch im Kontext einer Delegitimierung der gegenüberliegenden Seite eine Rolle. Jede Seite sah sich als Nachfahr des im Exil entdeckten anderen Deutschlands und wies jede Schuld am Nationalsozialismus von sich. Stattdessen sah man dessen Fortwesen entweder im totalitaristischen Osten oder imperialistischen Westen. Beiden galt die eigene Bevölkerung zügig als demokratisiert, wobei weder Reeducation in der BRD noch der verordnete Antifaschismus in der DDR wirklich Früchte getragen haben.

Weder SED noch SPD setzten sich mit dem Scheitern der deutschen Arbeiterbewegung im Abwehrkampf gegen die Nationalsozialisten auseinander. Der Sozialdemokrat Kurt Schumacher verteidigte die Deutschen vehement gegen eine Kollektivschuld, welche angeblich von den Alliierten kolportiert würde. Wie ein Beserker stand der bekennende Lassalleaner der Bevölkerung in ihren Bemühungen, die eigenen Verstrickung zu leugnen, bei. Anstatt den Kampf vieler SozialistInnen und SozialdemokratInnen in den Vordergrund zu stellen, setzte sich 1951 die Parteiführung um Schumacher bei den Alliierten dafür ein, dass 28 in Nürnberg von den Alliierten zum Tode verurteilten führenden Nationalsozialisten begnadigt werden. Im „besseren“ Deutschland klammerte man sich derweil an antifaschistische Superhelden wie den heimattümelnden Stalinisten Ernst Thälmann, während tatsächlich militante Antifaschisten wie Georg Elser in der Aufarbeitung des Widerstandes keinerlei Rolle spielten. Der systematische Versuch der Vernichtung des europäischen Judentums durch die Nationalsozialisten galt als Kollateralschaden eines aggressiven Nationalismus. Dies spiegelte sich z.B. in der Aufteilung in Kämpfer gegen den Faschismus und Opfer des Faschismus wider. Mitglieder beider Arbeiterparteien und ihrer Vorfeldorganisationen galten als wackere StreiterInnen gegen den Nationalsozialismus. Als Opfer wurden zumeist nur Juden eingeordnet. Mit dieser selektiven Geschichtsschreibung konnte die SED ein weiteres Problem umgehen: Ihr eigenes Versagen als Arbeiterpartei vor 1933, das sinnlose Verheizen von zehntausenden ParteigenossInnen in den ersten beiden Jahren der NS-Herrschaft musste nicht zur Sprache kommen.

Neues Deutschland? Die Berliner Republik

Am 8. Mai 1985 begann mit der Rede von Richard von Weizäcker die Verschiebung der Erinnerung im westlichen Deutschland, die mittlerweile das offizielle Gedenken und die Publikationen des zivilgesellschaftlichen Antifaschismus bestimmt: Der 8. Mai sollte als Tag der Befreiung gewürdigt werden. Es gingen mehrere Jahre ins Land, bis das politische Establishment der Berliner Republik vollends »den Mehrwert des Schuldbekenntnisses«10 erkannt hatte. In dieser Hinsicht überlebte die Bonner Republik – in Gestalt von Helmut Kohl – die DDR um ganze acht Jahre. 1995, zehn Jahre nach der Rede von Weizäckers, erklärte der ewige Kanzler: »Niemand hat das Recht festzulegen, was die Menschen in ihrer Erinnerung zu denken haben«.11 Was der hellsichtige von Weizäcker besser als Kohl verstand und was Alexander Gauland nur mit dem Verrat an seinem Traum von einer Volkssouveränität akzeptieren kann, ist nicht weniger als die Wiedergeburt der deutschen Volksgemeinschaft nach dem Nationalsozialismus. Es war die Rehabilitierung der durch die Geschichte gänzlich verdreckten Ideen von Familie und Heimat als schützende Kollektive. »Beide nämlich«, so Uli Krug, »salviert das geläuterte Deutschland, bereinigt sie vom Makel der Vergangenheit, nicht, indem es sie verschweigt, sondern indem es in ihr schwelgt, narrativiert und personalisiert.«12 Wie sehr die Volksgemeinschaft der Berliner Republik unter etablierten Parteien Konsens geworden war, zeigte nicht zuletzt das Aufkommen einer Partei, die sich, und das für viele Wähler scheinbar glaubwürdig, als fundamentale Alternative gegenüber jenem Konsens präsentieren kann.

Die AfD muss gegen die Berliner Republik und von Weizäcker mobilisieren, weil ihre Konzeption einer Volkssouveränität nicht mit einer postnazistischen Volksgemeinschaft denkbar ist, die in die Institutionen des Parlamentarismus eingehegt wurde. Denn die »Ausstellung der Schande« (Martin Walser), durch die sich die Berliner Republik als geläuterter Global Player inszeniert, belegt, dass das Volk als solches fehlbar ist und eines demokratischen Rahmens bedarf. Genau dieser künstliche Rahmen, das von den Vereinigten Staaten auferlegte System des Rechts, steht über dem Lebhaften des Politischen – wie es von Carl Schmitt und seinen Anhängern gedacht wird. Auch die CDU der Bonner Republik und Helmut Kohl konnten mit der »List der Vernunft« (Hegel), die im Erlangen eines Sieges durch die Akzeptanz einer Niederlage steckt, wenig anfangen. Erkannte sie doch, dass die Erinnerungen der Bevölkerung – insbesondere der eigenen Wählerschaft – an den 8. Mai noch viel zu lebhaft und die erlebte Trauer über die brutale Zerschlagung des eigenen mörderischen Traums zu tiefgreifend war, als sie ernsthaft daran denken konnten, Oma, Opa oder Hans-Peter glauben zu machen, dass man befreit worden wäre. Die CDU der Bonner Republik wusste sehr gut, dass Saul Friedländer mit seinen Beobachtungen aus dem Jahre 1945 Recht hatte. Sie bedienten ihr ex-nazistisches und ihr ins Private gekehrtes Klientel so gut es ging, indem beispielsweise der Traum von der Eroberung Moskaus, eingebettet in das „Sternen und Streifen Banner“, weiterleben konnte.

Als im November 1989 die Mauer fiel und im Schnellverfahren die ehemalige SBZ an die Bundesrepublik angeschlossen wurde, offenbarten sich die unter Westbindung und Sowjettreue fortwesenden Kontinuitäten in Städten wie Solingen, Mölln, Rostock-Lichtenhagen oder Hoyerswerda. Fortan nahm es die radikale Linke selbst in die Hand. Ob in Recherche- oder Sportgruppen, stets wurde dem pädagogischen Verständnis ihre Strategie des Dialogs entgegengehalten: »Was wir reichen sind geballte Fäuste, keine Hände.«13 Die Selbstorganisation jenseits von Parteien wurde durch bundesweite Organisationen und lokale Hochburgen postautonomer Strukturen ermöglicht: ein militantes Netzwerk, das sich erfolgreich dem Zugriff des Staates entzog. Fast ein Jahrzehnt konnte der revolutionäre Antifaschismus sich als linksradikale Praxis abseits von ostalgischem ML-Kitsch und mit explizit artikulierter Staatsferne etablieren, um gegenüber Deutschland und seinen Nazis – im wahrsten Sinne des Wortes – schlagkräftig, autonom und handlungsfähig zu bleiben. Doch alles war, wie so viele linksradikale Bewegungen, nur von kurzer Dauer.

Der Antifa-Sommer 2000 und der damit einhergehenden Etablierung der Berliner Republik als antifaschistischer Gedenkweltmeister, das Aufkommen des Rechtspopulismus und -extremismus in ehemals von Deutschland besetzten Ländern bzw. in Ländern, die gegen den Nationalsozialismus kämpften, führten zu einer Verschiebung der Wahrnehmung. Die gezielte Tötung von Kaukasiern auf offener Straße in Moskau durch russische Neonazis, das Aufkommen des Front National, der Versuch der Islamischen Republik Atombomben herzustellen, die gesellschaftliche Ausgrenzung der Sinti und Roma in Osteuropa, die Wahl von George W. Bush jr. oder die tiefgreifende Ablehnung von Homosexualität im katholischen Polen verführten zur irrigen Annahme, dass zumindest bestimmte Regionen Deutschlands eine Oase des Glücks darstellen, zu dessen Verteidigung die kategorische Staatsferne aufgegeben werden konnte. Dass diese angebliche Liberalität zu einem großen Stück einer wirtschaftlichen Situation geschuldet war, die nur dank der großzügigen Hilfe der US-Amerikaner nach dem Zweiten Weltkrieg ermöglicht wurde und in Krisenzeiten stets als Erstes vom postnazistischem Staat und seinem Volk geopfert würde, wurde verdrängt.

Bereits zwei Jahre nach dem als Aufstand der Anständigen ausgerufenem Antifa-Sommer konstatierte das Antifaschistische InfoBlatt (AIB): »Der rechte Rollback auf allen Ebenen trifft viele unabhängige Antifas unvorbereitet.« Das Fachmagazin, dessen ästhetische Nähe zur Militanz ihm den zivilgesellschaftlichen Erfolg von Der Rechte Rand bis heute verwehrt, sah die antifaschistische Bewegung durch den Zusammenbruch der überregionalen Organisierung als »dramatisch geschwächt« an. Die Redaktion stellte nüchtern fest, dass »subjektive, alle Sicherheitskriterien und Ideen von Kollektivität außer Acht lassende Aktionsbeschreibungen z.B. bei Indymedia ein schlechter Ersatz für gemeinsame, überregionale Diskussionen, Analysen und durchdachte Kampagnen« seien. Vor allem die »Streicheleinheiten der Zivilgesellschaft« und das Offenlegen von Strukturen, »die nicht an die Öffentlichkeit gehören« wurden als Todeskuss einer Bewegung gesehen, deren cleverer Teil das kleine Schwarze nach dem Studienabschluss erfolgreich gegen ein Sakko tauschen konnte und nun erfolgreich in Zivilgesellschaft macht. Die Floskel »Antifa in der Krise«, dass verrät ein kurzer Blick in das Archiv des AIB, ist seitdem in der Publikation häufiger zu finden.14

Das AIB erkannte, anders als es das notwendig falsche Bewusstsein der berufstätigen Ex-Linksradikalen zulassen könnte, dass die Zivilgesellschaft nicht als anti-staatlicher Akteur, Arbeitgeber oder Kooperationspartner einer linksradikalen Bewegung zu sehen ist. Sie ist vielmehr als gegensouveränistische Verlängerung des Staates zu verstehen, die einen Beitrag zur Konstitution der deutschen Souveränität leistet.15 Die Zivilgesellschaft ist selbst verstaatlicht, denkt in den vom Staat gesetzten politischen Kategorien des Rechts und greift dem Staat dort unter die Arme, wo dieser seit der rot-grünen Entschlackungskur selbst nicht mehr aktiv werden kann oder will, was sich besonders im ehrenamtlichen Engagement äußert. Natürlich steht die Zivilgesellschaft nicht Seite an Seite mit dem Verfassungsschutz oder der Polizei, aber gerade durch diesen synthetisierten Widerspruch von Freiheit und Zwang konstituiert sich die deutsche Souveränität und die Legitimation durch Partizipation der Bevölkerung. Wenn sich die Zivilgesellschaft einmal zur Polizeikritik hinreisen lässt, dann bewegt sich diese auf einer rein inhaltlichen Ebene der Ausgestaltung des staatlichen Gewaltmonopols, wodurch die Existenz der Gewalt bereits verdrängt und der Staat fetischisiert wurde. Nicht nur sorgt die Zivilgesellschaft so für ein ruhiges Hinterland, welches ein außenpolitisch umtriebiger deutscher Staat dringend benötigt. Sie leistet auch die Resteverwertung einer sich einst revolutionär gebärdenden Jugendbewegung und ihrer wichtigsten Protagonisten. Die #Antifa ist staatstragend geworden und hat sich mit der Polarisierung der Gesellschaft durch die AfD auf die Seite von Weiszäckers, der Berliner Republik und des postnazistischen Sozialpakts geschlagen. Als Alexander Gauland daran erinnerte, dass das deutsche Volk am 8. Mai eine Niederlage erlangte, wurde dies in den sozialen Medien mehr als deutlich.

Nationalfeiertag oder Staatskritik

Denen, die sich mit diesem Label ins politische Geschäft begeben und mit dem Slogan Wer nicht feiert, hat verloren das Ablassgeschäft mit der deutschen Kollektivschuld ritualisiert haben, kam Gaulands Äußerungen gelegen, um die eigene politische Agenda voran zu treiben. Die Forderung? Der Tag der Befreiung solle zum Nationalfeiertag werden, wodurch sich eine ganze Nation als Gemeinschaft von WiderstandskämpferInnen und ihren Nachfahren inszenieren, gleichzeitig das Erbe des NS auf das dunkle Deutschland und seine blaue Partei abgespalten werden könne. Die Diskrepanz zwischen denen, die 1945 befreit wurden, und denen, die als Teil der deutschen Nation diese Befreiung feiern, ist himmelschreiend. Als Testemonial für diese Kampagne kürten sie die Holocaust-Überlebende und bekennende Antizionistin Esther Bejarano. Der mit dieser Entscheidung einhergehende Verrat an jenem Land, das als einziges der Welt die richtigen Konsequenzen aus dem Nationalsozialismus zog und noch heute dafür sorgt, dass Juden niemals wieder unbewaffnet ihren Peinigern gegenüberstehen sollen, ist den Adepten des deutschen Antifaschismus nicht einmal aufgefallen.

Mit der Forderung eines Nationalfeiertages ist man endgültig erwachsen geworden. Man hat die eigene Militanz als »linksradikale Kinderkrankheit« (Lenin) erfolgreich kuriert. Während der autonome Aktionismus zur Jugendsünde oder dem Erwerb von soft skills herabgewürdigt wird, hat man Staatskritik erfolgreich in eine materialistische Staatstheorie und damit zahnlose akademische Disziplin verwandelt. Der Abgesang auf das Konzept des revolutionären Antifaschismus war die Grundlage für eine erfolgreiche Integration in die wiedergutgewordene Zivilgesellschaft, als deren human ressources und brainpool sich die einstigen Antifas heute sehen.16 Zwang einen die praktische Militanz zur Staatsferne, hat man mittlerweile das Prinzip Georg Elser ausgerechnet gegen den Antifaschismus von KPD und SED getauscht, von dem jener so bitter enttäuscht wurde. Indem man gegen AfD und für Nationalfeiertage breite Bündnisse schmiedet und die Einheit eines aufrechten, guten, anständigen und anderen Deutschlands beschwört, unterscheidet man sich im Konformismus nicht mehr von den marxistisch-lenistischen Traditionslinken, gegen die man als Jugendbewegung aufbegehrte. Letztere übrigens haben in Gestalt der DKP der breitgefächerten Bündnispolitik von einst eine strikte Absage erteilt. Wenn man Nie Wieder sagt, dann dünkt man sich heute noch bedeutend klüger als jene mit ihrem Nie wieder Krieg. Doch wie der Marxismus-Leninismus hat man selbst seinen Frieden mit dem deutschen Staat gemacht. Die #Antifa-Haltung erinnert nur noch vom Namen her an ihren Ursprung. Sie ist notwendig falsches Bewusstsein all jener, die in der Zivilgesellschaft oder den deutschen Parteien ihr Geld verdienen, den karrieretechnischen Bedürfnissen entsprechend zurechtgestutzt worden sind.

Dass die breite Kampagne für den Nationalfeiertag auf wenig bis gar keine Resonanz stieß, zeigt vor allem eins: Der deutsche Staat hat es nach dem Antifa-Sommer 2000 und dem Willkommens-Sommer 2015 längst nicht mehr nötig, international zu Kreuze zu kriechen. Ohne dass es allzu große Aufmerksamkeit erzeugen würde, kann mittlerweile frei von der Leber weg Israel für sein nationalistisches und egoistisches Gedenken an die Shoah kritisiert werden. Ganz so, als wäre die Notwendigkeit eines nationalen Egoismus der Juden nicht die einzig mögliche Antwort auf einen allgegenwärtigen Antisemitismus in einer Welt von Staat und Kapital. Dieser Aufstieg Deutschlands, vom Juniorpartner der USA zum Hegemonen innerhalb Europas, verlief nicht gradlinig, erst recht nicht reibungslos, führte letztlich aber zum Erfolg. Der dritte Griff zur Weltmacht der vor 75 Jahren besiegten Volksgemeinschaft wird kaum auf militärische Mittel zurückgreifen.17 Niemand begeht dreimal denselben Fehler. Der Krieg der deutschen »Anti-Nazis«, von dem Walter Loeb im Eingangszitat sprach, wird mit friedlichen Mitteln geführt. Er zielt direkt auf das Herz der Bestien. Im Bündnis mit Schurkenstaaten wie der Islamischen Republik Iran, autoritären Regimen wie Russland und atheistischen Diktaturen wie der Volksrepublik China robbt sich Old Europe unter Führung Deutschlands langsam, aber sicher an der Hegemonialmacht USA vorbei.

1 Walter Loeb: Deutsche Propagandisten in Curt Geyer, Walter Loeb u.a. : Fight for Freedom – die Legende vom anderen Deutschland. Freiburg, 2009, 95-104, hier 103.
2 Ausführlicheres zum staatstragenden Antifaschismus siehe: Redaktion Antideutsch.org: Antifa heißt nicht Zivilgesellschaft in Jungle World 2020/26.
3 In der Regierungsperiode von Rot-Grün 1998-2005 betrifft dies verschiedene Generation des linksradikalen Protestes. Neben den ehemaligen Spontis, die nun auf den Regierungsbänken Platz nahmen, waren es ehemalige Antifas und Autonome, die die neugeschaffenen Stellen innerhalb der Zivilgesellschaft annahmen. Beide Generationen folgten so dem unsäglichen Diktum: Wer mit 19 kein Revolutionär ist, hat kein Herz. Wer mit 40 immer noch ein Revolutionär ist, hat keinen Verstand.
4 Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte (Werke und Nachlass Band 19), Berlin, 2010, 96.
5 Siehe dazu: The Future is Unwritten: Gestern radikal – heute Landtagswahl in konkret2019/09. Online: https://www.unwritten-future.org/index.php/gestern-radikal-heute-landtagswahl/
6 Mit Willy Huhn ließe sich argumentieren, dass in der deutschen Sozialdemokratie 1918 gar kein Umschwung gegen die Revolution stattgefunden habe und die Parteielite weder ein ernsthaftes Interesse an der Marxschen Kritik noch an revolutionären Erhebungen hatte. Als Belege führt er dazu nicht nur die nationalistische Positionierung 1914 an, sondern deren generelle auf die staatliche Politik ausgerichtete Struktur. Siehe dazu: Willy Huhn: Der Etatismus der Sozialdemokratie – Zur Vorgeschichte des Nazifaschismus. Freiburg, 2003.
7 Näheres zur Rolle von Beneš im Londoner Exil: Florian Ruttner: Pangermanismus – Edvard Benes und die Kritik des Nationalsozialismus. Freiburg, 2019.
8 Zur FightForFreedom-Gruppe siehe: Geyer et al. 2009. Darin befindet sich auch eine historische Einordnung durch Jan-Georg Gerber und Anja Worm.
9 Fritz Bieglik, Curt Geyer, Carl Herz, Walter Loeb, Kurt Lorenz & Bernhard Menne: Der Kampf gegen den Nationalismus in der deutschen Arbeiterbewegung muß von vorne begonnen werden. Erklärung der Fight-for-Freedom-Gruppe vom 2. März 1942 in: Geyer et al. 2009, 65-70, hier 67.
10 Uli Krug: Böser Adolf, guter Richard in Bahamas 71/Sommer 2015.
11 Zitiert nach: ebenda.
12 Ebenda.
13 Brothers Keepers: Adriano (Letzter Warnung).
14 Alle Zitate im vorherigen Absatz aus: Antifa in Bewegung. In Antifaschistisches Infoblatt 56/02.2002. Online: https://www.antifainfoblatt.de/artikel/antifa-bewegung
15 Hier ist der aktuellen Blattlinie der Bahamas explizit zu widersprechen, wenn sie die Zivilgesellschaft für ein Untergraben der Souveränität kritisiert und sich im politischen Spiegelspiel auf die Seite des Souveränismus schlägt. Ausführlicheres dazu: Redaktion Antideutsch.org: Clash of what…? Online: https://antideutschorg.wordpress.com/2019/05/21/europwahl/
16 Wie sehr ehemalige AntifaschistInnen in der Zivilgesellschaft angekommen sind, zeigt sich, wenn in öffentlich-rechtlichen Medien über Antifa gesprochen wird und dabei Beschäftigte des akademischen Betriebs zu Wort kommen, deren Themenwahl und Alter zumindest Berührungspunkte mit dem militanten Antifaschismus der Neunziger nahelegen. Beim Deutschlandfunk wird zum Beispiel offen ausgesprochen, was hier polemisch formuliert wurde: »Viele professionell und halbprofessionell arbeitende Fachjournalistinnen texten für Internetseiten und soziale Medien. Es gibt etablierte Archive, Vereine, die aus antifaschistischen Strukturen hervorgegangen sind.« (Schnee, Philipp: Zwischen Engagement und Gewalt. Online: https://www.deutschlandfunk.de/mythos-antifa-zwischen-engagement-und-gewalt.724.de.html?dram:article_id=463089 )
17 Lesenswert dazu: Ilka Schröder (Hg.): Weltmacht Europa – Hauptstadt Berlin? Hamburg, 2004.

Antideutsche Identitätskrise (Leser:innenbrief)

Anlässlich des 30ten Jahrestages der Wiedervereinigung und des antinationalen re:kapitulation Kongresses veröffentlichen wir einen Leser:innebrief aus diesem Frühjahr (nach Erscheinen unseres Artikels im Distanz Magazin). Wir sind der tiefsten Überzeugung, dass es fatal wäre die Kritik der deutschen Nation den Antinationalen zu überlassen, wissen aber zugleich um die gegenwärtige Unfähigkeit der potenziellen antideutschen Kritiker:innen. Wir haben uns aus diesem Grund entschieden uns erst einmal nicht weiter zur Thematik zu äußern und damit weiter zu machen, was wir am besten können: Kritik der Tradition und Tradition der Kritik.

Sehr geehrte Redaktion antideutsch.org,
wir geben zu, wir sind nach wie vor mehr als nur skeptisch was euer Vorhaben angeht, den Faden der „antideutschen Kritik“ wieder aufzugreifen und weiter zu treiben. Wir müssen uns aber auch eingestehen, dass wir mit dem was ihr bisher versucht habt als eure „antideutsche Kritik“ zu umreißen – insbesondere dort wo ihr versucht an die Kritik der linken Bewegungen eines Wolfgang Pohrt oder der Kritik des Arbeitermarxismus von Joachim Bruhn anzuknüpfen – doch mehr anfangen können, als uns das selbst lieb ist.

Wir wollen euch die Details unseres Werdegangs ersparen und auch keine identitäre Selbstbestimmung vornehmen – oder gar Sprechortposition einnehmen. Zum Verständnis der folgenden Zeilen ist es vielleicht dennoch hilfreich, wenn wir versuchen die Tradition unserer Kritik offen darzulegen. Als loser Zusammenschluss können wir eine temporäre Zugehörigkeit – was auch immer das am Ende, abseits von individuellen Identitätsbedürfnissen, heißen mag – in den meisten Erscheinungen dessen, was nach 1990 als antideutsch galt, vorweisen. Sei es als Teil von Politgruppen oder Lesekreisen, als leidenschaftliche Leserinnen der einschlägigen Szenepublikationen, Besucherinnen und Diskutantinnen auf unzähligen Vorträgen und Konferenzen. Gemeinsam ist uns, dass uns allen – wenn auch auf ganz individuelle Weise – das antideutsche Festhalten am Existenzialurteil der kritischen Theorie (oder: das Festhalten am Existenzialurteil, dass uns zu Antideutschen machte) zum privaten Verhängnis wurde.

Obwohl die Rede davon, dass alle Verhältnisse umzuwerfen seien in denen die Spaltung der Gattung fortbesteht, mittlerweile zur ritualisierten Phrase verkommen ist, die man vor sich hinbetet, bevor man dann doch seinen Frieden mit dem falschen Ganzen macht und Karriere in Politik oder Akademie anstrebt, hat sie nichts an ihrer Wahrheit oder Aktualität verloren. Im Gegenteil: allein durch die nicht begründbare Verranntheit in sie, ist es überhaupt möglich die Momente zu erkennen, in denen sie zur Phrase wird. Anders als es die zahlreichen ehemaligen Weggefährtinnen von uns behaupten werden, hatten wir nie die Absicht Recht zu haben – sondern wurden von der Hoffnung getrieben, widerlegt zu werden. Hinter dem von uns zeitweise angenommenen Begriff „antideutsch“ sollte zu keinem Zeitpunkt mehr stecken, als das Festhalten am Kommunismus gegen diejenigen, die sich trotz ihrer Kompromissbereitschaft mit der falschen Gesellschaft selbst zu Kommunistinnen machten, irgendwie begrifflich zu fassen. Doch jenes Wörtchen taugt eigentlich nicht mehr als Platzhalter für diesen Begriff – das wisst ihr wahrscheinlich besser als wir.

Wenn es stimmt, dass sie Erschlagenen durch das Vergessen ein zweites Mal erschlagen werden – und wir wüssten nicht womit sich diese Feststellung widerlegen ließe – dann werden sie nicht durch Identifikation mit ihnen plötzlich wieder lebendig. Die tragisch gescheiterten Versuche, das Einfache das schwer zu machen ist zu verwirklichen, können nur als Farce wiederholt werden. Die historische Möglichkeit sich als Revolution zu bewahrheiten lässt sich nicht beliebig reproduzieren. Beim Leninismus wird nie etwas anderes herauskommen als autoritärer Staatssozialismus, der mit seinem Versuch den Staat gegen das Kapital in Stellung zu bringen beide Verhältnisse manifestierte und die Kritik an ihnen zur Legitimationsideologie verkommen lassen muss. Wie bei den anderen linken Zerfallsprodukten ist sein Scheitern zu akzeptieren, um seine utopischen Momente nicht auf dem Müllhaufen der Geschichte zu entsorgen oder – was das gleiche ist – zur Kohle der Lokomotive der Geschichte des Fortschritts werden zu lassen.

Gemeinsam ist all den gescheiterten Versuchen ihre mangelnde Treue zu besagtem kategorischen Imperativ – was sicherlich meistens erst im historischen Rückblick klar erkennbar ist. Erst als Emma Goldman nach den Ereignissen des Oktobers 1917 in die Sowjet Union reiste und die Gegenwart nach der angeblichen proletarischen Revolution sah, konnte sie die Oktoberrevolution selbst kritisieren. Eine derartige Kritik halluziniert sich dem zu Folge nicht ins Cockpit der Weltgeschichte und erörtert, was 1917 hätte anders gemacht werden müssen, sondern hält das Scheitern in seiner grausamen Brutalität fest. Analoges gilt für all die kleinen und großen Streitigkeiten innerhalb dessen, was wir im vollsten Bewusstsein aller internen Verwerfungen, als kommunistische Bewegung bezeichnen.

Das Wörtchen „antideutsch“ war ein passendes Label, um nach dem Jahr 1990 die unzähligen blutigen Niederlagen des kurzen zwanzigsten Jahrhunderts und ihre Gründe auf den Begriff zu bringen. Es war wichtig und richtig nach dem Ende der Nachkriegszeit auf das sich ständig perpetuierende Scheitern vom 30. Januar 1933 und Auschwitz als seine bisher ohne Vergleich gebliebenen Folge zu reflektieren. Die schon oben erwähnten Joachim Bruhn und Wolfgang Pohrt haben genau das geleistet – das gilt es zu bewahren. Doch in der Gesellschaft der Kulturindustrie – die sich nicht auf Kunst beschränken lässt, sondern nur als Totalität und (bis zu ihrer Abschaffung) unvermeidliches Schicksal aller dem falschen Ganzen widerstrebenden feinen Dinge verstanden werden kann – verschwimmen die Unterschiede zwischen Vergessen und Kulturalisierung, wovon die Meterware des Marxismus Zeugnis ablegt. Der Kampf gegen das Vergessen mit den Mitteln der Kulturindustrie – und wenn wir von ihr Sprechen gehen wir auch von ihrer Totalität aus – ist ein Kampf gegen Windmühlen. Oder anders gesagt: in der subkulturellen Szene hat sich die Kritik zur Ware verhärtet und die Erschlagenen Kritiker werden im Gedenken an sie ein zweites Mal erschlagen.

Wenn Antideutsche von einem zu wenig an Staat und dem Verlust der vermittelten bürgerlichen Souveränität an den angeblich unmittelbaren islamischen Gegensouverän faseln, weil die physische Präsenz der Staatsmacht nicht mehr vorhanden sei oder das Patriarchat für beendet erklären, weil die christlich-abendländische Kultur im Vergleich zur islamischen Religion der Frau mehr Freiheiten in der Sphäre der Reproduktion gibt, dann ist ihnen die gleiche Untreue am kategorischen Imperativ vorzuwerfen wie dem Leninismus. Sie verlieren die negative Totalität der falschen Gesellschaft aus dem Auge, wägen ab und fangen an politisch zu denken. Sie vergleichen Religionen als in sich geschlossene Subsysteme – klassisch-idealistisch auf der Basis ihrer Schriften (!) – miteinander oder halluzinieren sich den Gegensouverän als autonome Bedrohung, gegen die es sich abzuschotten gilt, anstatt diese als jeweils verschiedene Ausdrücke des Verhältnisses von Staat und Kapital zu begreifen. Weil sie die Totalität nicht mehr denken, können sie auch nicht mehr nach ihrer Umwerfung und Abschaffung streben. Wer wüsste besser als ihr, dass Antideutsche oder Ideologiekritikerinnen dies tun. Die folgerichtige Konsequenz daraus wäre, dass man Antideutsche als ebenso gescheiterte historische Erscheinungen ansieht wie Leninisten.

Doch wir müssen euch zustimmen, wenn ihr nun argumentiert, dass das eben dargestellte keine „antideutsche Kritik“ sein kann, sondern nur die Theorieproduktion von Leuten, die sich das Label geben und wir müssen euch auch weiter zustimmen, wenn ihr uns darauf aufmerksam macht, dass die spezifischen historischen Bedingungen der antideutschen Kritik – die Zeit nach der Nachkriegszeit – weiter existieren und die „antideutsche Kritik“ der einzige Anknüpfungspunkt für deren Kritik ist, den wir im Moment haben. Waren wir uns zunächst sicher, dass wir euch euer Festhalten an diesem Label als identitären Kitsch kritisieren müssen (und das obwohl wir in der Sache kaum widersprechen können), so müssen wir uns nun die Frage stellen, ob nicht das Bedürfnis der Absage an dem und der Historisierung des Begriffs das größere identitäre Bedürfnis ist. Womit wir wieder am Anfang wären: Wir müssen uns eingestehen, dass wir mit dem was ihr bisher versucht habt als „antideutsche Kritik“ zu umreißen mehr anfangen können, als uns selbst lieb ist.

In diesem Sinne verbleiben wir fürs erste mit Skepsis und Zustimmung,
gezeichnet:
einige Kommunistinnen in der Identitätskrise.

Katalysator der allgemeinen Beschissenheit.

Viel ist noch nicht bekannt über das Covid-19-Virus. Der statistischen Methode fehlen die dringend benötigten Relationsgruppen und die den Anforderungen der formalen Logik entsprechenden Versuchslaufzeiten.1 Die Überführung von qualitativen Merkmalen in quantitative Relationen ist die bevorzugte Art der instrumentellen Vernunft, die Welt zu erfassen (von Erfahren kann nicht mehr gesprochen werden). Kurz zu den wichtigen Fakten: Seit Anfang des Jahres breitet sich das neuartige Virus Covid-19 auf allen Kontinenten aus. Obwohl es „vor Corona“ bereits Pandemien gegeben hat, ist diese Pandemie wegen ihres totalen globalen Ausmaßes ein Novum. Der Globalisierung des Virus geht die spätkapitalistische Globalisierung des Marktes voraus und all der damit verbundene Kapital-, Waren- und dafür benötigten Warenhüterverkehr – schließlich können „die Waren nicht selbst zu Markte gehen und sich nicht selbst austauschen.“2

Entgegen der herrschenden Meinung ist das Ausmaß der Pandemie das einzige, was wirklich neuartig ist. Weder die von der einen Seite als apokalyptisch prognostizierte Wirtschaftskrise noch die von der anderen Seite als totalitär dargestellte autoritäre Verschärfung des staatlichen Handelns können als Neuheit begriffen werden. Dass zum Zweck der Aufrechterhaltung der Kapitalakkumulation Einschränkungen des Handels, der Bewegungsfreiheit oder des Demonstrationsrechts durchgesetzt werden, gehört zum kapitalistischen Normalbetrieb: „Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, dass der ‚Ausnahmezustand‘, in dem wir leben, die Regel ist.“3 Wenn auch die Dimensionen neu sind, verweisen Handelsboykotte gegen andere Staaten, Ein- und Ausreiseverbote für Individuen aus bestimmten Herkunftsländern oder erteilte Ausgangssperren in Kriegs- beziehungsweise Krisenzeiten doch nur auf den zwischen allen Staaten permanent gegenwärtigen Konkurrenzzustand.

Sicherlich, auch die noch zu errichtende befreite Gesellschaft könnte unter einer derartigen Pandemie leiden. Eine Gesellschaft, in der die äußere und innere Natur nicht vom Menschen unterworfen wurde, sondern in symbiotischer Co-Existenz mit ihnen lebt; in der die Menschen selbst weder Untertanen noch bloße Mittel, sondern immer Zweck sind; eine Gesellschaft, in der jeder nach seinen Fähigkeiten produziert und nach seinen Bedürfnissen lebt; in der die Befriedigung der Bedürfnisse nicht mehr an die Warenform gebunden ist; in der schlussendlich keine Kosten/Nutzen-Abwägungen getroffen werden müssen, ob temporäre Einschränkungen des Verkehrs das Spielen mit Menschenleben wert sei; eine solche Gesellschaft erzeugt in einer solchen Situation weniger Leid. Das kann nur von jenen bestritten werden, die mit ihrem fetischisierten Bewusstsein zwischen brennenden Autos und brennenden Asylbewerberheimen keinen Unterschied mehr sehen wollen. Dass Staat und Regierung sich in solchen Krisenzeiten die Frage der Rentabilität stellen und der völlig widerlichen Logik dieser verkehrten Gesellschaft folgend stellen müssen, um nicht durch einen folgenden Konjunktureinbruch die Möglichkeiten der Selbsterhaltung für einen Teil der Bevölkerung aufzugeben, ist der himmelschreiende Skandal dieser Gesellschaft. Dieser kann erst dann abgeschafft werden, wenn „keinem Mensch mehr ein Teil seiner lebendigen Arbeit vorenthalten“4 wird.

Solange das nicht der Fall ist, bleibt den Entscheidungsträger*innen während einer Pandemie einzig die Wahl zwischen Abwarten, wie anfangs Großbritannien oder immer nochSchweden, und Notstandsrecht. In beiden Erwägungen tauchen Menschen nur als potenzielle Warenhüter auf. Die einzige Möglichkeit, in der eine solidarische Vernunft sich hier artikulieren kann, ist vermittelt durch staatlichen Zwang. Die einzige Form einer Achtung des Individuums ist die egoistische. An eine Versöhnung des Individuums mit der solidarischen Vernunft, an Verhältnisse, in denen das Wohl aller nicht gegen das Wohl einzelner ausgespielt wird, wird innerhalb dieser Debatte selbst in linksradikalen Medien nicht gedacht. Entweder klingen die Vorstellungen der befreiten Gesellschaft wie bürgerliche Vertragstheorien und propagieren, ein Zwang sei keiner, wenn er nur von allen akzeptiert wird – oder aber es wird vor lauter bohemistischem Individualismus ein antistaatliches Recht des Stärkeren formuliert. Fast so, als wäre der Zwang zur Verwertung und mit ihm das fetischisierte Bewusstsein magisch über Nacht verschwunden.

Deutschland – Weltmeister der Krise

Den aufmerksamen Beobachter*innen und Kritiker*innen der Weltpolitik wird es weder verwundern, noch dürfte es ihnen entgangen sein, dass die oben gestellte Frage für einen deutschen Staat keine Frage sein kann. Abwarten, das kann man in diesem Scheiszland ausgerechnet dann, „wenn im ganzen Schlamassel einmal etwas Vernünftiges geschieht und ein antisemitischer Diktator abgesetzt werden soll.“5 Was sich auf der individuellen Ebene der Subjektkonstitution als probates, alltägliches und deutsches Mittel zur Krisenlösung eignet, funktioniert im makroökonomischen Rahmen immer hervorragend: „[D]ie faschistische Flucht nach vorne.“6 Die „Diskussionsorgien“ (Merkel), die sich angeblich durch die deutsche Gesellschaft ziehen, ob der Staat die Maßnahmen, die zur Bekämpfung des Virus dienen, lockern oder festigen solle, finden in der Corona-Krise ihre nationalistische Synthese in einem als Soldaten gegen den Virus vorgehenden autoritären Charakter.7 Das enttarnt sich bei genauerer Betrachtung als der alte Streitpunkt zwischen dem als souveränistisch autoritär auftretenden Citoyen und der eigenen (Kapital-)Interessen verfolgenden Bourgeoise.

Den autoritären Charakter gibt es nach favorisierter Geschmacksrichtung und um sich selbst die gelungene nationale Synthese nicht eingestehen zu müssen: in der moralisch-individualistischen Bourgeois-Version und der staatstreu-citoyenistischen Blockwart-Edition.8 Dass es Christian Lindner nicht schnell genug gehen kann, bis wieder in gewohnter Art Kapital akkumuliert wird, heißt demzufolge nicht, dass er kein autoritärer Charakter ist – wenn das einige post-antideutsche und prä-materialistische Ideologiekritiker*innen mit einer Leidenschaft für die gewagte politische Parteinahme sicherlich anders sehen werden.

Die gesamte Grausamkeit der Welt des Kapitalverhältnisses wird in dieser Pandemie deutlich. Entgegen der verbreiteten Annahme, die Pandemie mache uns alle gleich und sehe keine Unterschiede, werden erst recht Klassengegensätze deutlich. Wessen Charaktermaske ist systemrelevant und kann dementsprechend in Krisenzeiten vollständig weiter Wert realisieren? Wer von denen, die es nicht sind, kann es sich leisten, seinen Job zu verlieren oder Zeitarbeitsgeld in Anspruch zu nehmen? Wer ist medizinisch genug abgesichert? Wessen psychische oder chronische Krankheiten werden weiter behandelt? Für wen ist das Zuhause ein sicherer Rückzugsort und keine menschengemachte Hölle, in der man mit gewalttätigen Familienmitgliedern eingesperrt wird oder bei völliger Missachtung aller hygienischen Empfehlungen mit über hundert anderen Menschen eingepfercht ist? Wie soll man „Zuhause“ bleiben, wenn man keines hat? Der einzige Lichtblick für diejenigen, die darauf angewiesen sind, dass sie die einzige Ware, über die sie verfügen – ihre eigene Arbeitskraft – verkaufen und dabei kaum genug zum Überleben rausschlagen können, ist, das Nikotin vielleicht vor Corona schützt und bei ihnen noch ein deutlich höherer Prozentsatz raucht, als bei jenen, bei denen das Mimikry an die Ware mittels Selbstoptimierung und Gesundheitswahn weiter fortgeschritten ist.

Die Unmenschlichkeit der sogenannten „Asylpolitik“ wird hierbei mehr als deutlich. Wenn die katastrophale Situation in den Lagern und an der europäischen Außengrenze vor lauter Corona-Statistiken und -Warnungen nur noch am Rande thematisiert wird, sollten diese Bildern all jenen, die sich trotz kapitalistischer Zurichtung einen Rest menschliches Mitgefühl bewahren konnten, allgegenwärtig sein. Der als „ausländisch“ empfundene Virus mobilisiert die rassistischen und protektionistischen Affekte. Grenzschutz wird plötzlich zum allgemein anerkannten Vernunftsgebot – bis die Urlaubssaison anfängt und man merkt, dass man auch selbst unter dieser Politik leidet. Was die souveränistischen Chauvinist*innen und ihre nationalistische Partei schon seit 2015 verkünden, scheint in Krisenzeiten auch in der sogenannten politischen Mitte anerkannt zu werden: An der Grenze stehen keine Menschen mehr, sondern nur noch „Fremde“ und deshalb unkontrollierbare „Wilde“, was sie mindestens zu potenziellen Krankheitserregern wenn nicht sogar zur menschgewordenen Seuche macht. Mit aller Kraft versuchen die europäischen Staaten deshalb ihre Grenzen zu sichern. Was für Studierende aus Bremen und Niedersachsen, die nun auf die illegalen heimischen Cannabisprodukte von geringerer Qualität angewiesen sind, wenn sie den Leistungsdruck in Kombination mit der Vereinzelung des digitalen Semesters allabendlich im sprichwörtlichen Rauch auflösen wollen, sicherlich ärgerlich ist. Und was, wenn nicht ein geeigneter und allgemein anerkannter Sündenbock zur triebökonomischen Abfuhr gefunden werden kann, spätestens in den großen Ferien zu kleinbürgerlichen Schlägereien mit genervten Familienvätern an den Grenzstationen führen wird. Aber das ist für den Menschen, der aus einem Kriegsgebiet flieht, um dann an der Grenze mit Tränengas und scharfer Munition zurückgetrieben zu werden, fast gleichbedeutend mit dem Tod.

In Krisenzeiten zieht es die deutsche Volksgemeinschaft vor, unter sich zu bleiben und die von ihr ausgehenden Probleme außerhalb der Landesgrenzen solange zu ignorieren, bis die südeuropäischen Staaten – wie in der durch Europäische Verträge und in der durch den inner-deutschen Niedriglohnsektor abgewehrten Finanzkrise 2011 – sich kaum noch über Wasser halten können. Diese desaströse Lage nutzt die europäische Zentralmacht gerne, um die Peripherie in eine finanzielle Abhängigkeit zu bringen und ihnen erneut heftige ökonomische Reformen aufzuzwingen. Dass diese ein Einschnitt in das oft durch Streiks hart erkämpfte Arbeitnehmer*innenrecht bedeuten, erklärt sich in Anbetracht des Führungsanspruchs eines Staates, in dem die Gewerkschaften Klassenbewusstsein durch Moral ersetzt haben und allen Ernstes während der größten Einschnitte in den Sozialstaat auf die Straße gehen, um den Bundeskanzler dafür zu bejubeln, dass er sich nicht an der militärischen Zerschlagung eines antisemitischen Regimes beteiligt, von selbst – von nicht bezahlten Nazischulden und unter den Tisch gekehrten Kriegsprofiten ganz zu Schweigen. Trotzdem inszeniert sich Deutschland als moralische Instanz und humanistischer Retter, wenn die Regierung jüngst voller Großmut beschloss, eine paar Waisenkinder aus Moria aufzunehmen. Am liebsten wären nicht nur Steffen Seibert junge Mädchen, die mit Mundschutz und angemessenem Sicherheitsabstand einmal gemeinsam mit der Kanzlerin in die Kameras lächeln dürfen, um dann anonymisiert im deutschen Lagersystem zu verschwinden.9

Während Deutschland also in der Corona-Krise weiterhin zuallererst an seine eigenen Interessen denkt und nur Politik für diejenigen seiner Bürger*innen macht, die in diesen Kalkulationen vorkommen oder symbolisch zur Sicherung der Harmonie abgespeist werden, kann die wortwörtliche Abschiebung der Probleme international als vorbildliche Krisenlösung inszeniert werden. Wenn Katrin Bennhold – Berliner Büroleiterin der New York Times – ihre Lobeshymne auf die deutsche Sonderrolle anstimmt und erklärt, „why the country’s Coronavirus death rate is low“, kann man sich als Vergangenheitsaufarbeitungsweltmeister*in erneut darin bestätigt fühlen, dass man nicht nur im besten aller Länder lebt, sondern auch im besten aller Systeme: Der sozialen Marktwirtschaft oder das, was von ihr noch übrig ist. Die verstärkte Besinnung auf Volk und Nation kann man symptomatisch auch in der Nachrichtenwelt feststellen, wo vor allem nationale Fallzahlen von Interesse sind.

Erfüllungsgehilfen staatlicher Souveränität

Dort, wo der starke Staat oder die Volksgemeinschaft nicht bereit oder nicht in der Lage dazu sind, Sicherheit zu schaffen oder zu suggerieren, wird diese Aufgabe von gegensouveränistischen Rackets übernommen, was der Umgang von Drogengangs in den brasilianischen Favelas mit der aktuellen Epidemie deutlich zeigt. Die Menschen dort, die in dieser Krise stärker von der religiös-autoritären Regierung im Stich gelassen werden als im Rest des Landes, zahlen den Preis für die in vollem Maße weiterlaufende Kapitalakkumulation. Drogenkartelle nahmen schlussendlich die Aufklärung über den Virus selbst in die Hand. Sie vollzogen alternativ den ausbleibenden staatlichen Zwang und verhängten die Ausgangssperre: „Wir wollen das Beste für die Bevölkerung. Wenn die Regierung uns nicht hilft, tut es das organisierte Verbrechen.“10 Was wie ein Akt der Menschlichkeit wirkt, ist dabei jedoch – wie immer bei Staatsgewalt antizipierenden Rackets – in erster Linie dem Interesse an einer weitergehenden Wertrealisierung der eigenen Produkte auf dem Schwarzmarkt geschuldet. Nicht nur rekrutieren die Gangs aus den Favelas viele ihrer Mitglieder, sie haben dort einen Teil ihres Kundenstammes und die Infrastrukturen der eigenen Produktion.

Auch in Deutschland sind einige der Meinung, dass die staatliche Gewalt nicht ihr Nötiges tut und willkürliche Kontrollen von Jungs mit schwarzen Haaren, die ohne Mundschutz vor einer Dönerbude stehen und auf ihr Essen warten, noch zu wenig seien. Hier formieren sich eversive Elemente, die die bestehende Ordnung nur deshalb kritisieren, weil sie von einer „noch ordentlicheren Ordnung“11 träumen. Es wittern altbekannte Blockwarts neue Chancen, wenn sie bei Gruppenbildungen in ihrem Kiez sofort frohlockend wegen die neuerlangten Macht gegenüber jeder Form der Selbstbestimmung die Polizei herbeirufen, welche die schwammigen Gesetze so auslegt, wie sie es für richtig hält. Die bereits in den Krisen-Verordnungen selbst angelegte Polizeigewalt und/oder -willkür, wird von der breiteren Öffentlichkeit wenig kritisiert, hat sie doch unser aller Wohl im Sinn. Wie es in der Tagesschau vom 03.05.2020 ein deutscher Pressevertreter behauptete: In Krisenzeiten wäre die mediale Verbreitung der staatlichen Verordnungen schließlich wichtiger als eine kritische Auseinandersetzung damit. Dass es die autoritären Drecksäcke nicht bei der ehrenamtlichen Unterstützung der Arbeit der Sicherheitsbehörden belassen, sondern, wenn sie es für nötig erachten, auch das Gesetz selbst in die Hand nehmen, gehört zum antideutschen Basiswissen und ist die schmerzliche Erfahrung eines jeden, der versuchte, seine Jugend mit Sprühdosen, lauter Musik, Drogen oder sonstigem volkszersetzenden Verhalten ein bisschen bunter zu gestalten.

Immer öfter fühlen sich einige Deutsche einem Jihad gegen all das Fremde verpflichtet, welches die idyllische Dorfgemeinschaft – Sei es auf dem Land oder im Herzen der Metropole –gefährden könnte. Es werden Menschen, die von Rassenkundlern a.D. als asiatisch klassifiziert werden, angegriffen. In den Provinzen, in die sowieso kein Biodeutscher, der ein Interesse an der eigenen körperlichen Unversehrtheit hat, einen Fuß setzen würde, solange er es nicht muss, wird an Autos mit fremden Kennzeichen das Virus bekämpft. Wo der Hass auf das Fremde und das Bedürfnis der Abgrenzung gegen alles krankheitserregende Leben keine vermeintlichen „Ausländer“ findet, an denen sich abreagiert werden kann, fallen die stolzen Deutschen gerne wieder ideologisch in Kleinstaaterei zurück und lassen die eigene Scholle bereits an der Grenze des Landkreises beginnen. Der Fremde wird wieder aktiv mit dem in Verbindung gebracht, womit er sonst nur schemenhaft assoziiert wird. Durch den von außen kommenden und als unrein erscheinenden Kranken wird die vermeintlich gesunde Gemeinschaft in Gefahr gebracht. Die Angst vor dem abstrakten und unsichtbaren Virus wird durch Personifizierung sichtbar gemacht und schlussendlich am fremden Objekt bekämpft. Mit dem sich der individuellen Kontrolle entziehenden Virus wird ideologisch ähnlich umgegangen, wie mit der sich ebenfalls der individuellen Kontrolle entziehenden eigenen Verwertbarkeit: Im rassistischen und antisemitischen Umschlag des fetischisierten Bewusstseins versucht man beides am Objekt der Verachtung konkret machen zu können, um so die drohende Gefahr – fehlende Verwertbarkeit oder Krankheit – direkt bekämpfen zu können.

Es ist dieses sich immer wieder erneuernde und nie einlösbare Versprechen des Rassismus, mit dem die AfD seit der sogenannten Flüchtingskrise immer wieder Wahlen gewinnen kann. Ist angesichts der geschlossenen Grenzen, der autoritären Verschärfung im Inneren und der zahlreichen sich immer wieder rassistisch entladenden Ängste der feuchte Traum der pseudo-konservativen und wannabe-faschistischen AfD nicht wahr geworden? Vielleicht, doch am Ende ist die AfD auch eine politische Partei wie jede andere. Und als solche kann es für sie nichts Schlimmeres geben, als wenn ausgerechnet die verweichlichten und etablierten Parteien der Berliner Republik die autoritären Sehnsüchte des deutschen Volkes bedienen. Und so schien sie in der Krise kurzzeitig an Bedeutung verloren zu haben. Die AfD hatte es lange nicht geschafft, eine einheitliche Position zu finden.

Doch keine Sorge, liebe Tarnkappen-Wahlkämpfer*innen12 vom Unteilbar-Bündnis, ihr müsst euren politischen Fokus nicht neu justieren: Die die AfD hat es geschafft, sich zwischen antisemitischen Verschwörungstheoretiker*innen, kleingeistigen Lockdown-Gegner*innen und neoliberalen Wachstumsfanatiker*innen ins Nest zu setzen und wieder ihre Liebe zum faktenverachtenden und -resistenten Wutbürgertum zu verfestigen.13 Man kann sich weiterhin bewusstlos im Namen der Zivilgesellschaft an der AfD abarbeiten und ist nicht gezwungen, kurz innezuhalten und darüber nachzudenken, dass man sich auch im berechtigten und richtigen Kampf gegen die AfD, und oft gegen den eigenen ausgesprochenen Willen, ehrenamtlich in den Dienst des eigenen Staates stellt. Spannend bleibt allein, ob der politische Opportunismus so weit getrieben werden kann, dass man am Ende eine Öffnung der Grenzen fordert, die nun im Namen der Nation gegen die Idee der Europäischen Union geschlossen wurden. Zumindest Wines könnte man der AfD dann nicht mehr vorwerfen: die mangelnde Integration gegenüber der politischen Kultur dieses Landes.

In Zeiten der nicht greifbaren Krise ist es nicht verwunderlich, dass antisemitische Verschwörungstheorien einen Halt geben und das nicht Greifbare einfach und schnell verständlich zu machen scheinen. Antisemiten wie Ken Jebsen, wandelnder Aluhut und Initiator der „Friedensmahnwachen“, nutzen dieses Bedürfnis der Menschen in der Krise und tönen vom angeblich lebensgefährlichen Impfen und den Eliten welche die Menschen mithilfe einer „erfundenen und nicht tödlichen Krankheit“ kontrollieren wollen. Gerne wird der Name des Multi-Milliardärs Bill Gates genannt, der sich mit den „Feinden des Volkes“ und den „Eliten“ verbündet hätte und nun mithilfe eines Impfstoffes Mikrochips zur völligen Kontrolle den Menschen injizieren möchte.

Den Ausführungen dieser zum Großteil sehr bizarren Theorien sind vermeintlich keine Grenzen gesetzt, ebenso wie ihrer Akzeptanz in Teilen der Bevölkerung. In zahllosen Chatgruppen gehen entsprechende „Enthüllungen“ in Wort und Bild umher und finden reißenden Absatz; auch unter Prominenten, die immer häufiger ihren Fans die „Wahrheit“ in selbst erstellten Telegram-Gruppen oder Ähnlichem zur Verfügung stellen. Antisemitische Verschwörungstheorien, die bis zuletzt von großen Bevölkerungsteilen als Hirngespinste einiger Spinner abgetan wurden, schaffen ihren Weg in das Leben von immer mehr Menschen. Sie befriedigen das Bedürfnis nach Pseudo-Systemkritik und zeitgleich Simplifizierung einer Welt, welche für die meisten immer schwerer zu verstehen ist.

Und zwischen Impfgegnern und Neoliberalen fühlt es sich wohl, das Gespenst vom „China-Virus“, welches dem „guten Deutschen“ bewusst Schaden an Volk und Wirtschaft bereitet.

Social distancing als Selektionsprozess

Wenn einem die Kassiererin bei Penny durch den Mundschutz nicht mehr versteht, ist die Kommunikation beim Warentausch auf den Preis und die Form seiner Bezahlung reduziert. Die während Corona allgemein erhobene Forderung des social distancing und die nun ausgerufene Maskenpflicht hat der Arbeit und dem Warentausch den „rührend-sentimentalen Schleier abgerissen“.14 Mit der digitalen Lehre haben sich die seit den 1960er Jahren immer wieder aufkommenden Illusionen von kritischen Studierenden endgültig als ein nicht gewünschtes Abfallprodukt des „qua Studentenbewegung artikulierte[n] Bestreben[s] der Betroffenen nach einem ihrem Ausbildungsanspruch gemäßen und ihren Berufsaussichten förderlichen Reorganisation der Hochschuleinrichtungen und inhaltlichen Neubestimmungen des Wissenschaftsbetriebs“15 erwiesen. All dies ist gleichbeutend damit, dass die wenigen die warenförmige Tristesse transzendierenden Momente, die zwischen Leistungsdruck und Konsum kurz aufscheinen könnten, ebenfalls gestrichen worden sind. Aktionen oder Orte, die versuchen diese Vereinzelung nur für einen kurzen Moment zu durchbrechen und erträglich zu machen; wo Menschen zueinander finden und einen Lichtstreif der unmittelbaren Verbindung zwischen einander erfahren könnten; fallen wegen fehlender Systemrelevanz weg. Was Solidarität und Zuflucht spenden konnte, birgt jetzt potenzielle Gefahren für jedes Individuum, vor allem für die Kranken und körperlich Schwachen der Gesellschaft.

Für Familien, Wohngemeinschaften und Einpersonenhaushalte kann der Zwang, so viel wie möglich in den eigenen vier Wänden zu bleiben, verheerende (psychische) Folgen haben. Entscheidend ist nicht zuletzt, über wie viel Geld verfügt werden kann. Der Lagerkoller stellt sich zu viert in einem mehrstöckigen Einfamilienhaus mit Garten deutlich später ein, als mit der gleichen Anzahl von Personen in einer beengten Wohnung. Das Zurückgeworfen Sein auf die eigene Familie bedeutet für viele Menschen, vor allem Frauen und Kinder, noch häufiger das Opfer häuslicher Gewalt zu werden. Rückzugsmöglichkeiten gibt es keine mehr. Zu Beginn der Krise wurden von heute auf morgen laufende psychologische Therapien eingeschränkt, die mittlerweile teilweise bloß virtuell oder telefonisch fortgeführt werden. Der Unterschied, der hier zwischen einer suizidalen Person und einer Person mit akuten und lebensbedrohlichen körperlichen Leiden gemacht wird, lässt sich für uns nicht nachvollziehen, wenn man sich allein die Lebensgefahr die für die beiden Personen ausgeht anschaut. Es kommt der Verdacht auf, dass andere – ökonomischere – Parameter diesbezüglichen Entscheidungen zu Grunde liegen. Ohne die genaue Hierarchie innerhalb einer Gesellschaft von atomisierten Individuen zu kennen und die Verwertungslogik bis ins kleinste Detail analysiert zu haben – vielleicht haben GegenStandPunkt oder Bahamas in ihren nächsten Ausgaben ja einen solchen Artikel im Angebot, der sich nicht der Einfühlung in die widervernünftige Logik verweigert – wird der innerhalb einer staatlich verfassten Gesellschaft vorgenommene Selektionsprozess deutlich. Dass man sich von einer Lungenentzündung bis zur vollständigen Verwertbarkeit erholen kann, erscheint dabei wahrscheinlicher als bei Depressiven. Die bei Depressionen oder anderen psychischen Erkrankungen immer gerne geleugnete gesellschaftliche Dimension verschwindet endgültig, wenn die zweite Natur der sozialen Verhältnisse sich angesichts einer Bedrohung der ersten Natur als endgültig alternativlos darstellen kann.

Am Schlechtesten geht es den Gruppen, denen es unmöglich ist, social distancing zu praktizieren: Menschen ohne festen Wohnsitz. So wurden mögliche Schlafplätze geschlossen, Essenausgaben haben ihren Betrieb eingestellt oder ihn zumindest heruntergefahren. Es sind weniger Menschen unterwegs, die man nach etwas Geld fragen könnte. Die gestiegene soziale Stigmatisierung, die Menschen, die gezwungen sind, auf der Straße mit ihren eher dürftigen Hygieneangeboten zu leben, entgegenschlägt, können wir nur erahnen. Aktuell sind sie wohl die perfekte Projektionsfläche für die sozialdarwinistischen Einstellungen aller Art. In diesen werden die gestiegene gesundheitliche Gefährdung statt als kollektives Scheitern der gesamten Menschheit als individuelle Befreiung von störenden Straßenzeitungsverkäufer*innen wahrgenommen. Doch großen Teilen der Öffentlichkeit scheint das egal zu sein. Obdachlose haben keine Lobby, mit der sie auf die Politik zugehen könnten. Wem in der Krise das kapitalistische Gebot vom Überleben des Stärkeren, nun ohne die bloß als Kitsch der Nächstenliebe erscheinende Menschlichkeit, gilt, für den gibt es erst wieder einen Grund, den Schwächsten zu helfen, wenn die eigene Existenz wieder in trockene Tüchern gepackt werden konnte. Vor allem dann, wenn es sich dabei um Menschen, die aufgrund ihrer fehlenden Lohnabhängigkeit sowieso nicht als „echte“ Staatsbürger*in und Teile der Gesellschaft anerkannt werden handelt.

Gibt es die radikale Linke eigentlich noch?

Was macht eigentlich unserer „Verein“ (Pohrt), während die Welt jeden Tag ein bisschen beschissener wird? Corona zeigt deutlich, dass wir als radikale Linke momentan daran scheitern, uns abseits von Staat und Kapital so zu organisieren, dass Solidarität auch anders als von den wieder unter strengen Auflagen erlaubten Demonstrationen praktisch werden kann. Wir sind aktuell dazu verdammt, ohnmächtig auszuhalten, wenn wir nicht nur in einen Pseudo-Aktivismus mit Onlinedemos und netten Soli-Sprüchen am Fenster verfallen wollen. Wir alle sind, nicht zuletzt was die medizinische Versorgung oder die Entschädigungen bei Arbeitsausfall angeht, abhängig von staatlichem Handeln. Damit sind wir – entgegen dem eigenen Selbstbild – alles andere als autonom. Damit ist kein Argument gegen die radikale Linke vorgebracht worden, sondern nur ein weiteres gegen die von Linksradikalen oft verdrängte kapitalistische Totalität. Doch eine radikale Linke ist handlungsunfähig, wenn sie die eigene Handlungsfähigkeit hypostasiert und die Macht des Staates auf „den wirklichen Staat“ und seinen Polizeiapparat reduziert. Sie kann nicht erklären, dass die Machthabenden zufällig mitunter auch das mehr oder weniger Richtige tun und dabei doch stets aus den falschen Gründen handeln.

Auch wenn Corona einiges offenlegt, was nicht erst seit Beginn der Warenproduktion in dieser Gesellschaft falsch läuft, wollen wir Corona und die Krise noch lange nicht als „Chance“ sehen. Wenn Menschen sterben, obwohl dieser Tod, wie oben dargelegt, nicht unausweichlich ist, kann in keinem Moment von „Chance“ geredet werden. Selbst dann nicht, wenn Staaten deshalb beginnen, den freien Markt einzugrenzen. Diese zutiefst bürgerlichen Vorstellungen, die sich ähnlich im Jakobinismus oder in Hobbesbawms Bereitschaft zur Legitimierung des stalinistischen Terrors finden lassen, wenn dieser die versprochene Welt tatsächlich verwirklicht hätte, ist utilitaristischer Wahn, gegen den wir uns entschieden stellen wollen. Das auch bei Linken nicht unpopuläre Gefasel davon, dass die Welt sich selbst reinigen würde a là „der Mensch ist das wahre Virus“ ist so ekelhaft, dass wir darüber keine weiteren Worte verlieren wollen. Auch wenn noch nicht abzusehen ist, wie die Welt nach der Pandemie aussehen wird, kann es nicht schaden, die Waffen der kommunistischen Kritik scharf zu halten, was uns zu unserem letzten Punkt bringt:

Heute kann Bange machen, wie es Adorno bereits im amerikanischen Exil festhielt, gerade für die radikale Linke nicht gelten. Solange die radikale Linke noch nicht in der Lage ist, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes ein geknechtetes Wesen ist,“16 muss sie sich zumindest als ein zu kritischen Gedanken und subversiven Handlungen fähiger Zusammenschluss am Leben erhalten: Auf dass sie den St. Nimmerleinstag der Revolution noch erleben und auf dem Weg dorthin den politischen Normalvollzug so viel wie möglich stören kann. Eine ehrliche Selbsteinschätzung und die Stärkung der eigenen subkulturellen Strukturen wären ein Anfang.

#ShutdownLindenstraße
#SupportSuppenEngel

Bis dahin, passt auf euch auf!
Mit sonnigen Grüßen,
Solarium

Hinweis: Der Text ist die Dokumentation einer internen Diskussion, die wir in der ersten Phase des Lockdowns (also März/April) geführt haben. Uns ist bewusst, dass der alles umwälzende Fortgang des katastrophalen Kapitalverhältnisses mittlerweile einiges von dem, was wir hier geschrieben haben bereits überholt hat. Dennoch wollten wir nicht, dass dieser Text als Analyse der ersten Phase der Pandemie zur Zeit jener Phase einfach auf unseren Festplatten verschwindet. Noch hatten wir die Kapazitäten alle Ereignisse der mittlerweile begonnen zweiten Phase in ihn einzuarbeiten, ohne seinen Rahmen zu sprengen. Zur zweiten Phase empfehlen wir die Lektüre von Georg Seßlen: ‚Die Krise in der Krise in der Krise‚ (Jungle World 20/2020, leider nicht online) – wenn wir auch so unsere Kritikpunkte haben, dürfte sein Text aktuell die beste Grundlage sein um über die zweite Phase diskutieren zu können.

1Ausführlich beschäftigte sich damit die Redaktion des Magazin, weswegen wir an dieser Stelle nicht darauf eingehen werden: http://www.magazinredaktion.tk/corona9.php & http://www.magazinredaktion.tk/corona.php
2Marx, Karl: das Kapital, MEW 23: 99.
3Benjamin, Walter: Über den Begriff der Geschichte (posthume Abschrift), WB WuN 19: 97.
4Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik: 176.
5Antideutsche Kommunisten Berlin: Letzte Warnung: http://adk.atspace.com/pub/global/letztewarnung.htm
6Bruhn, Joachim: Was deutsch ist – Zur kritische Theorie der Nation: 166.
7„Denn hätte Marx nur weitergelesen und -kritisiert, dann wäre ihm aufgefallen, daß Hegel in den §§ 321–329 “Die Souveränität gegen außen” behandelt, sodann “Das äußere Staatsrecht” darstellt und da eben die Vermittlung von Bourgeois und Citoyen gibt, deren Absenz Marx ihm ankreiden will: in der Gestalt des Soldaten. 
Die Vermittlung also existiert allerdings, nicht jedoch als Versöhnung, sondern als Tod, in der bedingungslosen Pflicht zum Töten und zum Opfer. 
Der Staat darf, sagt Hegel, “nicht nur als bürgerliche Gesellschaft” betrachtet werden (Grundlinien § 324, Zusatz), sondern als die Nation in ihrer Grenze, die das “Hingeben der persönlichen Wirklichkeit” an den “absoluten Endzweck”, an die “Souveränität des Staates” (§ 328) impliziert. 
Der Soldat versöhnt, in äußerster Negativität, den konkreten Egoismus mit dem abstrakten Altruismus des in der Form des Subjekts konstituierten Individuums, er verkörpert das “Bereitsein zur Aufopferung im Dienste des Staates” (§ 327). Die Subjektform ist die Uniform, Rechtsform ist Mordauftrag.
Darin ist “das Interesse und das Recht des Einzelnen als ein verschwindendes Moment gesetzt” (§ 324), also der Kamerad und Volksgenosse, und letztlich die Verwandlung der bürgerlichen Gesellschaft ins Mordkollektiv, d.h. der “Umschlag der Gleichheit des Rechts ins Unrecht durch die Gleichen” und die Verwandlung der Subjekte aller Klassen in “eine hundertprozentige Rasse” (Theodor W. Adorno/Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung).“ 
Aus: Bruhn, Joachim: Subjektform ist die Uniform, auf: https://www.ca-ira.net/verein/positionen-und-texte/bruhn-subjektform-uniform/
8Lesenswert dazu: Kleine Typologie der Corona-Genießer: http://www.magazinredaktion.tk/corona2.php
9Die beschlossene Zahl der Bundesregierung liegt bei 1000 bis 1500, allerdings hängt die tatsächliche Zahl von der Bereitschaft der 16 verschiedenen Landesregierungen ab.
10Wie die Jungle World 2020/14 berichtet: https://jungle.world/artikel/2020/14/so-ist-das-leben-eben
11Agnoli, Johannes: Subversive Theorie – die Sache selbst und ihre Geschichte: 14.
12 Dazu hörenswert von The Future is Unwritten: gestern radikal, heute Landtagswahl: https://soundcloud.com/user-677609373/gestern-radikal-heute-landtagswahl-parlamentarismuskritik-in-zeiten-des-rechtsrucks
13 https://twitter.com/voellig_egal71/status/1256700204838989830?s=19
14Engels, Friedrich / Marx, Karl: Manifest der kommunistischen Partei, MEW 8: 465.
15Enderwitz, Ulrich: Die Republik frißt ihre Kinder: 42.
16Marx, Karl: Einleitung zur Kritik der hegelschen Rechtsphilosophie, MEW 1: 387.

Die Provokation der jüdischen Existenz – reloaded.

Dieser Text liegt schon ein kleines bisschen in der Schublade. Da die Ereignisse um Corona in der letzten Zeit sich überschlugen, haben wir mit der Veröffentlichung gewartet. Nun, damit in der staatlich verodneten Tristesse eine kritische Auseinandersetzung nicht versandet und der Text vollends an Aktualität verliert, veröffentlichen wir ihn doch. Stay save.

I – Versuch einer Erwiderung auf das Statement des BIPoC-Blocks.
Zugleich: Parteinahme gegen jede Rationalisierung des Antisemitismus.

Wir haben uns entschieden, nicht auf all die Unterstellungen, die im Statement des BIPoC-Blocks gegen uns erhoben werden, einzugehen. Unserer Meinung nach haben wir bereits in unserem letzten Text das Wesentliche zu den Vorfällen und der versuchten Rationalisierung antisemitischer Aggressionen gesagt. Unser diesbezüglicher Text hieß nicht zufällig Die Provokation der jüdischen Existenz. Wir sind der Meinung, dass die gesamten Angriffe und die im Nachgang geäußerten Vorwürfe gegenüber unserem Verhalten im Kern gegen die israelische Flagge gerichtet sind. Erst als wir diese verbal – und zugegebenermaßen auch emotional aufgebracht – verteidigten, meldeten sich einige Leute zu Wort und forderten uns zur Ruhe auf. Das verstärkte unseren Eindruck, dass nicht die antisemitischen Hasstiraden und Angriffe als Problem wahrgenommen wurden, sondern die Träger*innen der Fahnen. Wir bekamen das Gefühl, dass der Antisemitismus im Nest niemanden störte, aber die Kritiker*innen dieses Antisemitismus als Nestbeschmutzer*innen ausgemacht wurden.1 Der Text des BIPoC-Bündnisses gibt das nun offen zu und bestätigt unsere Ahnungen: „Auf uns schien es, als versuchten sie, uns durch das Schwenken der israelischen Nationalflagge zu provozieren.“ Die Israel-Flagge scheint trotz einiger vorangehender hehrer Worte gegen den Antisemitismus des deutschen Postnazismus und einer angeblichen Parteinahme für Israel nicht anders denkbar zu sein als als eine Provokation gegen BIPoCs. Anstatt darüber nachzudenken, was es heißt, dass diese Fahne einen physischen Angriff provozieren konnte und sich zu fragen, wie es sein kann, dass der Angreifer – der nicht zum ersten Mal als Antisemit auffällt – nach dem Angriff weiter unbehelligt im BIPoC-Block mitlaufen konnte, werden die Angegriffenen zu Aggressor*innen und Provokateur*innen. Uns als Kommunist*innen war und ist die Fahne jedoch immer nur eine Selbstverständlichkeit, die wir, wie wir an anderer Stelle diverse Male ausgeführt haben, auf jeder antifaschistischen Demonstration tragen werden.

In klassischer Manier des linksdeutschen Postnazismus versucht Ihr das Problem des Antisemitismus mit einigen Phrasen wegzuwischen, doch die Ungereimtheiten in diesen Phrasen und die Weigerung, auf die Phrasen ein Handeln folgen zu lassen – der Angreifer wurde nicht aus eurem Block geworfen (wie man unschwer in einem öffentlich zugänglichen Video2 erkennen kann), eine selbstkritische Auseinandersetzung darüber findet bei euch nicht statt – sprechen Bände. Mit diesem Verhalten seid Ihr so glaubhaft wie die SPD-Politiker*innen, die nach dem Anschlag von Halle voller Mitgefühl über die Gefahren für jüdisches Leben in Deutschland sprachen, um am nächsten Tag weiter Lobbyarbeit für Handelsbeziehungen mit der Islamischen Republik Iran zu machen, die keinen Hehl aus ihrem eliminatorischen Antisemitismus macht. Was Kommunist*innen, nicht nur in dieser Hinsicht, von der deutschen Sozialdemokratie und all ihren ideellen Gesinnungsgenossen halten müssen, dürfte allgemein bekannt sein.

Ihr geht in eurem Statement zunächst von einer Sonderstellung Israels aus, wenn Ihr schreibt: „Israel hat nach wie vor eine besondere Stellung für viele Juden*Jüdinnen. Bis heute ist Israel der einzige Staat, der ihnen Schutz vor dem weltweiten Antisemitismus bieten kann.“ Dagegen gibt es von unserer Seite nichts einzuwenden. Im Gegenteil, dieses Bewusstsein über die Rolle Israels als einzige „Zufluchtsstätte, wo Überlebende und Verfolgte nach langer Wanderschaft sich in tiefer Erschöpfung niederließen“3, wie der bis zu seinem selbstgewählten Lebensende jeder Zeit mit linkem Antizionismus kämpfende Shoah-Überlebende Jean Amery schrieb, ist für uns der Grund, warum wir die Israelfahnen mit auf die Demonstration nahmen. Angesichts eines weltweiten Antisemitismus, der sich auch und gerade in den jüngsten Anschlägen in Deutschland zeigt, darf nicht vergessen werden, dass ein Jude in Europa zumindest eine Sicherheit hat, „daß, wenn es ihm, wo immer, an den Kragen ginge, ein Fleck Erde da ist, der ihn aufnähme, unter allen Umständen. Er weiß, daß er, solange Israel besteht, nicht noch einmal unter schweigender Zustimmung der ungastlichen Wirtsvölker, günstigstenfalls unter deren unverbindlichen Bedauern, in den Feuerofen gesteckt werden kann.“4 Wir scheinen uns hier alle einig zu sein, dass es keine Alternative zur Parteinahme für Israel mehr geben kann und jede Neutralität ein Hohn auf die Opfer der alltäglichen antisemitischen Gewalt ist.

Später im Text ist Israel dann plötzlich nur eine Nation unter vielen. Seine Fahne ist nicht mehr Symbol für die jüdische Selbstverteidigung, sondern eine bloße Nationalfahne, die – im Gegensatz zur kubanischen Flagge des Angreifers und den zahlreichen kurdischen Fahnen – Grund genug für eine „Aufforderung dreier Personen an die Gruppe Solarium ihre mitgebrachte Nationalflagge wieder einzupacken, um den transnationalen Charakter der Demonstration zu stärken“ war. So ganz passt das nicht zusammen: Ist Israel nun eine Nation unter anderen (und als bürgerliche sogar eine schlimmere als die kubanische oder kurdische) oder eben doch der Jude unter den Staaten? Beides ist nicht möglich. Entweder ist Israel die „staatsgewordene jüdische Emanzipationsgewalt“5 und das Tragen ihres Symbols wird damit zur Selbstverständlichkeit einer jeden linken, antifaschistischen und antirassistischen Demonstration oder aber Israel ist nur ein Staat wie jeder andere. Dass schlussendlich einzig die israelische Fahne den „transnationalen Charakter“ stört, ist mehr als bezeichnend und entlarvt den nur schlecht als antinationale Staatskritik getarnten Antizionismus, der politischen Entsprechung des Antisemitismus.6 Auch die hier dargebotene Rationalisierung von Anspucken, Anschreien und physischer Gewaltanwendung, die besagtes Video dokumentiert und die nur durch die Intervention Dritter verhindert werden konnte, zu einer „Aufforderung“ kann da nicht mehr sonderlich verwundern.

Wir möchten noch einmal einige Dinge über die von Euch angesprochene „Aufforderung“– die wir weiter als das bezeichnen werden, was es war: ein antisemitischer Angriff sowie eine physische und verbale Delegitimierung der jüdischen Selbstverteidigung – klarstellen: Wir konnten die Situation des Angriffs nicht in Gänze überblicken, ein Teil unserer Gruppe zog sich verängstigt zurück, manche waren auf Grund des Gedränges zunächst außer Sicht- und Hörweite und mehrere uns Unbekannte kamen und solidarisierten sich mit uns. Sollten in dieser Situation von Dritten rassistische oder sexistische Aussagen gefallen sein, dann verurteilen wir dies aufs Schärfste und würden dem gerne nachgehen. Bloß abstrakte Vorwürfe, die sich pauschal gegen unsere gesamte Gruppe richten – woher auch immer Ihr erkennen könnt, welche der zahlreichen Personen im Gedränge zu unserer Gruppe gehörten und welche nicht – machen jedoch eine selbstkritische Reflexion unmöglich. Denn weder wissen wir, was gesagt oder getan wurde, noch können wir für alle im Gedränge beteiligten Personen sprechen, noch sprechen diese für uns oder liegen innerhalb unseres „Kontrollbereichs“. Um die Möglichkeit der selbstkritischen Reflexion beraubt, gibt es für uns als Gruppe nach eurem Statement nur zwei Möglichkeiten: Der pauschale Büßergang der gesamten Gruppe sowie der Verzicht auf eine Thematisierung und Kritik des antisemitischen Angriffes oder aber die Aufrechterhaltung dieser Kritik und damit die scheinbare Bestätigung eures Vorwurfs des Rassismus gegen uns. Damit tut Ihr erneut das, was wir bereits in unserem letzten Statement befürchteten und kritisierten: Ihr spielt Rassismus gegen Antisemitismus aus und tragt damit zu einer Verdrängung der gesellschaftlichen Dimension beider bei.

1998 erschien Leah C. Czolleks Text Sehnsucht nach Israel, in dem sie sich mit der Allgegenwart eines linken und feministischen Antisemitismus beschäftigte, die Weigerung der deutschen Linken, das Problem des Antisemitismus ernst zu nehmen, scharf kritisierte und ihre eigene Erfahrung als Jüdin innerhalb dieser Gruppen durchzuarbeiten versuchte. Der Text ist getragen von der Enttäuschung einer linken und feministischen Jüdin, dass ausgerechnet ihre Genoss*innen, mit denen sie gegen die herrschende Gesellschaft kämpfen möchte, den Antisemitismus der herrschenden Gesellschaft selbst reproduzieren. 18 Jahre später reflektierte sie erneut diesen Text und stellte erschüttert fest: „Solidarität haben Juden und Jüdinnen in der feministischen und antirassistischen Szene nicht zu erwarten.“7 Die Überlegungen, die sie zu diesem Urteil kommen lassen, können einiges zum Verständnis der hier behandelten Debatte beitragen. Für Czollek beginnt das Problem bereits in der geforderten Positionierung, welche die Illusion beinhaltet, eine gesellschaftliche Position ließe sich auf einen klaren Nenner bringen, gewissermaßen essentiell im Individuum fixieren.8 „Jede Irritation“, schreibt sie, „soll vermieden werden. Auf irgendeine Art soll die Unberechenbarkeit der Pluralität, die Unübersichtlichkeit der Pluralität, das Chaos der Pluralität gebannt werden.“9 In diesem Zwang zur Positionierung – auf den wir bereits im letzten Statement mit dem Begriff Zwangs-Outing eingegangen sind – manifestiert sich ein Streben nach „Reinheit und Einfachheit. Es sollen sichere Orte geschaffen werden, indem alles draußen zu bleiben hat und jene vor der Tür bleiben müssen, die die Reinheit stören.“10 Die Reinheit der Allianz gegen Diskriminierung wird dabei jedoch nicht dadurch gestört, dass Antisemit*innen im Block mitlaufen, sondern einzig und allein durch zwei israelische Flaggen, die diesen Zustand erst deutlich machen und deshalb als Eindringlinge ausgemacht und mit aller Macht abgewehrt werden müssen.

In dieser antisemitischen Projektion spielt es keine Rolle, dass wir diesen Teil der Demo nur passierten, um in den vorderen Block zu gelangen – in dem wir schon bei der Sarrazin-Demo standen. Unsere Intention war es niemals in den BIPoC-Block zu gelangen oder irgendeine Konfrontation zu erzeugen. Wir rechneten naiv nicht damit, dass wir von jemandem angegriffen werden, der uns „Hurensöhne“ nennt und im Nachgang deshalb als sexistische Angreifer*innen dargestellt werden würden, weil wir aus tiefster Überzeugung das Symbol der jüdischen Selbstverteidigung auf einer antifaschistischen Demonstration tragen und jede*n, der*die sich daran stört als Antisemit*in bezeichnen. Anders als es nun behauptet wird, wurden wir zu keinem Zeitpunkt von Women of Color während der Demo auf unser vermeintlich „sexistisches“ oder „rassistisches“ Verhalten angesprochen, im Gegenteil, wir wurden zweimal aggressiv dafür kritisiert mit der israelischen Fahne zu „provozieren“ (mit mehr Menschen hatten wir auch nicht Kontakt nach dem Angriff, weil wir die Demo vorzeitig verlassen haben). Beide Male war unsere Antwort stets die gleiche Frage: „Was provoziert dich an jüdischer Existenz? Wenn du dich an jüdischer Selbstverteidigung störst, dann sag es doch gerade raus, dass du Juden diese nicht gönnst.“ Die zusätzliche Unterstellung deshalb, es gäbe einen pauschalen Antisemitismus-Verdacht unsererseits gegenüber BIPoC ist deshalb haltlos, weil wir nur Dank der Hilfe Unbeteiligter körperlich unversehrt aus der Situation heraus gekommen sind. Hätten wir diese Situation provozieren wollen oder mit rassistischer Konnotation antizipiert, wären wir sicher besser vorbereitet auf den physischen Angriff gewesen, schließlich besteht von unserer Seite keinerlei Interesse an Märtyrertum.

In Eurem Text scheint es so, als wüsstet Ihr ganz genau über das antisemitische Moment, das sich hier aus eurem Block heraus gebildet hat. Ihr scheint es jedoch mit Hilfe des postnazistischen Jargons kleinreden und die Debatte lieber auf einen von uns ausgehenden Rassismus und Sexismus lenken zu wollen. Aus einer kleinen Gruppe – die auf Grund des Gedränges am Rand der Demo nicht geschlossen unterwegs sein konnte und so zum Zeitpunkt des Angriffes nur noch aus zwei Personen bestand – und zwei israelischen Fähnchen wird so eine faschistische Aggression. Aus antisemitischer Gewalt ein legitimes Mittel der Selbstverteidigung. Die direkt angegriffene Person, die nicht vermummt und klar zu erkennen war, ist dem Angreifer und anderen Beteiligten des BIPoC-Blocks übrigens bekannt. Bereits auf einer Busfahrt zu einer antifaschistischen Demonstration in Ostdeutschland wurde gemeinsam über Antisemitismus diskutiert und der Angegriffene wurde im letzten Sommer an seinem Arbeitsplatz vom Angreifer lautstark als „antideutscher Hurensohn [sic!]“ begrüßt. Nicht der eigene Antisemitismus und die Bereitschaft zur Gewalt gegen Israelfahnen lassen an der „Reinheit“ des eigenen Kollektivs zweifeln, sondern die Opfer dieser Gewalt. Soweit so bekannt, bedenkt man die seit Jahren in Deutschland herrschende linke Verklärung antisemitischer Terrorattentate zu einem revolutionären Befreiungskampf oder die permanente mediale Delegitimierung der jüdischen Selbstverteidigung des israelischen Staates. Neu ist vielmehr die versuchte Verschleierung mit Hilfe eines verbalen Zugeständnisses.

Und so schließen wir mit der traurigen Feststellung, dass auf einen antisemitischen Angriff mit Delegitimierung der Opfer geantwortet wird und man uns lieber des rassistischen Vorurteils bezichtigt, dass wir BIPoCs pauschal des Antisemitismus verdächtigen würden, anstatt sich zu fragen, wieso der Angriff überhaupt passieren konnte. Für uns ist überhaupt niemand des Antisemitismus unverdächtig, auch wenn wir nicht mit Angriffen dieser Art gerechnet und gewissermaßen der sublimatorischen Elemente der hansestädtischen Subjektkonstitution zu viel Vertrauen geschenkt haben. Wie wir bereits geschrieben haben, gehen wir davon aus, dass Antisemitismus eine notwendige Zutat der Subjektkonstitution innerhalb des Kapitalverhältnisses ist. So berechtigt die Kritik des BIPoC-Blocks am Antisemitismus des Postnazismus ist: Die Kritik am Antisemitismus der Anderen verschleiert immer nur den eigenen Antisemitismus. Dass wir mit dieser kommunistischen Kritik des Antisemitismus uns für die Autor*innen verdächtig machen, weil wir uns nicht mit postmodernen und essentialistischen Vorstellungen gemein machen können, wurde bereits auf der Demonstration deutlich: In einer Diskussionen, die uns über die Fahne aufgezwungen wurde, fragten wir, warum denn die jüdische Existenz so sehr provoziere. Wir bekamen darauf die Antwort, dass „diese Karte“ hier nicht funktioniere. Deutlicher kann man nicht sagen, dass man es nicht für nötig erachtet, sich mit dem eigenen, dem System inhärenten, Antisemitismus auseinanderzusetzen oder sich und seine Position innerhalb der Gesellschaft zu reflektieren. Damit zeigt sich die Wahrheit von Leah C. Czolleks Ausführungen: Der Platz für Jüdinnen und Juden war und ist in den geforderten Allianzen der Diskriminierten immer prekär – das bekam nicht zuletzt Jean Amery immer wieder zu spüren – erinnert doch alles Jüdische an das, was man stets bemüht ist im Namen der eigenen „Reinheit“ zu verdrängen. Auch wenn wir davon ausgehen müssen, dass es nicht das letzte Mal ist, dass nach antisemitischen Angriffen die Schuld beim Opfer gesucht wird, hoffen wir doch inständig, solche zutiefst menschenverachtenden Diskussionen und Diskursverdrehungen nicht mehr mitmachen zu müssen.

II – Versuch über den Antisemitismus der antirassistischen Pseudokritik.
Zugleich: Agitation für einen kommunistischen Antirassismus.

Die aktuelle Debatte zeigt, dass es nicht schaden kann, wenn versucht wird, die im ersten Teil behandelte Gemengelage auf einen allgemein gültigen Begriff zu bringen, sodass die Hoffnung aufkommen kann, Ähnliches könne in Zukunft von mehr Leuten selbst dechiffriert werden und nicht jede Rationalisierung des Antisemitismus werde fleißig geteilt, sofern sie nur im richtigen Jargon formuliert wird und mit Floskeln gegen israelbezogenen Antisemitismus versehen wird. Der zweite Teil möchte dazu beitragen, dass antisemitische Momente es zukünftig ein wenig schwerer haben, sich als Gesellschaftskritik auszugeben. Wir verstehen ihn als Beitrag zur Agitation für die kommunistische Sache, die mit der Erkenntnis über die falsche Einrichtung stehen und fallen muss und deren Verteidigung von jeher unser Motivation in der Kritik eines linken oder antirassistischen Antisemitismus war. Erst eine Menschheit, die den in dieser Gesellschaft internalisierten Antisemitismus im freudschen Sinne individuell durchgearbeitet hat, kann die „Einheit des Vielen ohne Zwang“ überhaupt erst antizipieren – was die Voraussetzung einer Umsetzung wäre.

Der Antisemitismus erfüllt für zu Subjekten degradierten Individuen11 im Kapitalverhältnis eine triebökonomische Funktion. Im Antisemitismus gelingt es dem Subjekt, den Schein der eigenen Handlungsfähigkeit zurück zu erlangen und sich wieder als Souverän seiner selbst einzusetzen. Die Zumutungen, denen ein Individuum in der kapitalistischen Vergesellschaftung ausgesetzt wird und an denen es als konsumierendes und lohnarbeitendes Subjekt nicht gerade unbeteiligt ist, finden hier eine psychohygienische Lösung. Die verdrängten, der Zurichtung zuwiderlaufenden, Wünsche und die eigene Beteiligung an der Zurichtung können vom Individuum abgespalten werden und auf das antisemitisch konstituierte Objekt projiziert werden. Die notwendigen Ambivalenzen des eigenen – vom Doppelcharakter der Geldware nicht unberührten – Trieblebens kann durch diese Projektion abgespalten werden und das eigene Ich kann eine einheitliche (und reine) Identität behaupten. Im Antisemitismus finden die Subjekte ein System, dass der unverstehbaren zweiten Natur auf ähnliche Weise Herr werden will, wie es der mythische Animismus in grauer Vorzeit bereits mit der unverstandenen ersten Natur tat. Im Juden finden sich die abstrakten – wie Naturgewalten wirkenden – sozialen und ökonomischen Gewalten personalisiert und damit rationalisiert wieder.12

Es ist zwar nicht falsch festzustellen, dass Antisemitismus ein Teil des gesamtgesellschaftlichen Verblendungszusammenhangs ist und sich auch innerhalb der Linken findet, da diese – trotz aller Kritik an ihr – keine Möglichkeit hat, aus der kapitalistischen Totalität einfach auszusteigen. Es kann allerdings nicht schaden, sich im Zuge der aktuellen Debatte einmal über die besonderen Spezifika eines antirassistischen13 Antisemitismus, wie er nicht zuletzt im Statement und Verhalten des BIPoC-Blocks deutlich wird, zu verständigen. Keineswegs soll damit gesagt werden, dass sich der antirassistische Antisemitismus von anderen Formen des Antisemitismus komplett differenzieren ließe. Im Gegenteil, jede Spielart des Antisemitismus beinhaltet den gleichen Kern: das Ausagieren der Zumutbarkeiten, die das Individuum in der Gesellschaft von Staat und Kapital ertragen muss, an den Juden und ihrem Staat.14

Das Statement, in dem die Vorwürfe gegen unsere Gruppe formuliert werden, stellt zunächst klar, dass sich die Autor*innen gegen Antisemitismus positionieren und derartige Angriffe auch verurteilen. Unklar ist allerdings, was sie unter Antisemitismus verstehen. Genau diese Lücke zwischen Verurteilung einer Sache und Uneinigkeit über ihren Begriff zeichnet die klassische Situation einer jeden Antisemitismus-Debatte innerhalb des Postnazismus im Allgemeinen und der Linken im Besonderen aus. Dass Ablehnung einer Sache wertlos ist, sofern der Begriff nicht im Ansatz der Sache entspricht, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass der antisemitische Angreifer in einem sich selbst als antisemitismuskritisch wähnenden Block weiter mitlaufen darf. Deutlich wird bei diesem Taschenspielertrick, dass man gerne bereit ist, den Antisemitismus der anderen zu kritisieren – und in dieser Kritik einige wahre Momente aufdecken kann – über den eigenen aber schweigen möchte. All die wahren Momente der Kritik des Antisemitismus werden zur Ideologie, wenn sie den eigenen Antisemitismus außen vor lassen. Diesen rhetorischen Kniff hat übrigens selbst die AfD mittlerweile erfolgreich für sich entdeckt, wenn sie linken und migrantischen Antisemitismus benennt, aber von den Drecksäcken in ihren eigenen Reihen schweigt und darauf noch genug Leute reinfallen.15 Die verbale Distanzierung von Antisemitismus allein kann nicht als Gradmesser dafür gelten, ob der Vorwurf des Antisemitismus legitim ist oder nicht. Ebensowenig können ethnische Identität oder erlebte Diskriminierungserfahrungen Begründung genug für einen Freispruch sein, meint man es mit einer fundamental-kommunistischen Kritik des Antisemitismus als inhärentes Moment der kapitalistischen Vergesellschaftung ernst. Das gilt natürlich auch umgekehrt: Alle Menschen innerhalb der kapitalistischen Vergesellschaftung stehen gleichermaßen unter dem Generalverdacht der kommunistischen Kritik, auch wenn uns da ehemalige Genoss*innen mit ihrer Fixierung auf den Islam vehement widersprechen würden. In einer Welt, in der die Menschen zu Subjekten zugerichtet werden und diese Zurichtung über sich ergehen lassen müssen, um überhaupt in dieser falschen Welt partizipieren zu können, müsste ein Individuum erst einmal begründen, warum es kein antisemitisches Individuum ist. Antisemitismus kann und muss allgemein unterstellt werden.

Der Vorwurf an uns, dass wir in rassistischer Weise davon ausgehen würden, dass BIPoCs antisemitisch wären, verkennt gerade dieses Moment der Totalität der Vergesellschaftung und verkehrt die Kritik des Antisemitismus ins Gegenteil: Identitätspolitik. Bedeutet der Vorwurf in diesem Fall tatsächlich: Warum nehmt ihr niemand aus eurem Generalverdacht heraus? Insbesondere in einem Moment, in dem der antisemitische Charakter einiger Personen innerhalb des Blocks durch deren Verhalten offen zu Tage tritt, der Block zunächst keinen diesbezüglichen Handlungsbedarf sieht und sich die allgemeine Unterstellung so bereits zu einem begründeten Verdacht erhärtet, muss diese Kritikabwehr als konterrevolutionär denunziert werden. Das Benennen von Antisemitismus als rassistisch zu diffamieren, weil einer bestimmten Gruppe keine Unschuldsvermutung gegeben wird, versucht, eben jene bestimmte Gruppe frei von Antisemitismus zu sprechen. Damit betreibt sie einen Essentialismus, dem wir als Kommunist*innen diametral gegenüber stehen. Auch hier wird wieder ein Taschenspielertrick angewandt: Nach einem antisemitischen Angriff wird plötzlich über Rassismus gesprochen. Die Unwilligkeit, über Antisemitismus zu reden, macht stutzig. Wenn man ihn doch konsensual ablehnt, wie man behauptet, warum muss das Thema der Debatte verschoben werden? Warum tut man sich so schwer, sich von den Antisemit*innen in den eigenen Reihen zu distanzieren? Der Verdacht liegt nahe, dass die Ablehnung des Antisemitismus nicht ganz glaubwürdig ist. Wenn dann ein Text geschrieben wird, der sich diesbezüglich an mehreren Stellen in Widersprüche verstrickt, dann kommt dies beinahe einem unbewussten Schuldeingeständnis gleich. Es gilt zu fragen, wo der Antirassismus –um den es hier geht, der vom BIPoC-Block vertreten wird – sich mit der falschen Gesellschaft so weit arrangiert hat, dass es einen Antisemitismus als psychologisches Ventil braucht, um die eigene Zugehörigkeit zum kritisierten Gegenstand abwehren zu können.

Einem antisemitischen Antirassismus geht es im Verhältnis zu Staat und Kapital wie den meisten linken Protestbewegungen: Sie wähnen sich selbst in einer verbalen Distanz und beanspruchen die Kritik für sich, scheitern aber daran, diese Kritik in ihrer Radikalität aufrecht zu erhalten und brauchen den Antisemitismus als Fluchtpunkt. Wie allzu häufig werden Staat und Kapital allein als konkrete und empirische Gegebenheiten begriffen, wie sie in Bankern oder Polizist*innen auftreten. Die berechtigte Wut gegenüber beispielsweise einer rassistischen Politik richtet sich gegen Subjekte, die diese Politik durchsetzen – ohne aber zu erkennen, dass diese Subjekte in diesem Moment bloß als Charaktermasken agieren. Wir geben uns nicht dafür her, Polizist*innen und sonstige Charaktermasken gegenüber einer linksradikalen Kritik zu verteidigen, doch wir verwehren uns gegen die Implikationen einer derartigen Verflachung der Kritik. Liegt die Verantwortlichkeit allein beim Subjekt, werden die dahinter liegenden abstrakten Zwänge nicht bedacht, dann wird davon ausgegangen, dass ein*e andere*r Verfassungsschutzpräsident*in oder ein*e andere*r Polizist*in gleichbedeutend mit einer anderen, nicht mehr rassistischen, Politik ist. Die logische Konsequenz daraus wäre, in die Politik zu gehen, zu versuchen die Macht im Staate zu ergreifen und aus dem rassistischen einen antirassistischen Staat zu machen.16 Verkannt wird, dass die staatliche Politik nicht in einem luftleeren Raum existiert, sondern – um die eigene Handlungsmöglichkeit überhaupt aufrecht erhalten zu können – notwendigerweise Gewalt anwenden muss. Jeder Staat muss aus Menschen Staatsbürger*innen und Fremde machen, die Anzahl der Staatsbürger*innen –derjenigen, denen er Rechte und Schutz gewährt – begrenzen und für die Loyalität der eigenen Staatsbürger*innen sorgen, denn eine Revolte oder gar Revolution würde dem ureigensten Zweck des Staates, die Garantie der Kapitalakkumulation, gefährden. Die Tragödien des 20. Jahrhunderts vom Leninismus über die nationalen Befreiungsbewegungen legen alle Zeugnis davon ab, wie die hehren Ideale dem Sachzwang geopfert werden mussten und wie das Erreichen der Machtzentrale alles, nur nicht das erträumte Ende der Gewalt, war.

Es ist für die Kritiker*innen der Gesellschaft unmöglich, nicht zugleich an jener Gesellschaft zu partizipieren. Die abstrakten Verhältnisse bilden keine über den Individuen existierenden Macht, sondern werden einzig und allein durch die Handlungen der Individuen reproduziert. Vereinfacht gesagt: The system works because you & me work. Die Individuen befinden sich notwendigerweise als Subjekte in einem alltäglichen Konkurrenzkampf untereinander. Was sehr wohl möglich für die Kritiker*innen ist: Sich dieser Verstrickung bewusst zu werden, sie als Ausgangspunkt für eine Reflexion zu nehmen, versuchen, sie in ihrer Abstraktheit zu denken, und einen Weg aus der Atomisierung in Subjekte zu suchen. Tun Kritiker*innen dies nicht, leugnen sie die eigene Verstricktheit – die ihnen doch bei jeder Banküberweisung oder Barzahlung dämmern muss –, reproduzieren sie diesen unsolidarischen Konkurrenzkampf unbewusst in ihrer Kritik und versteifen sich dabei auf den wirklichen Staat und seine Repräsentant*innen, dann bedürfen sie eines antisemitischen Momentes der Verdrängung. Im Antisemitismus wird es dem Individuum möglich , sich trotz eigener Verantwortlichkeit am Ganzen als rebellisch und unangepasst zu inszenieren. Gerade in der psychisch belastenden Position der Kritik kann so eine Linderung des Leidens erreicht werden. Insbesondere der Antizionismus macht es all jenen, die statt Kritik am Staat nur Nörgelei an der aktuellen Regierung haben und sich insgeheim bereits in sie einfühlen, möglich, sich dennoch als Kritiker*innen einer staatlichen Gewalt zu inszenieren und oft auch selbst als solche zu sehen. Deshalb ist linker Antisemitismus nicht als bloßer Denkfehler oder Marotte des Individuums zu betrachten, sondern notwendiges Resultat einer Verweigerung der radikalen Kritik und stetige Begleiterscheinung von ehemals Radikalen, die ihren Frieden mit dem eigenen Staat gemacht haben oder unter bestimmten Vorraussetzungen bereit sind zu machen.

Gerade in Versuchen der linksradikalen oder antirassistischen Organisierung nimmt der Antisemitismus eine nicht zu vernachlässigende Rolle ein. Er ermöglicht es, dass die teilweise auseinandergehenden Positionen sich in einer Harmonie (im Statement ist die Rede von Allianzen) auflösen, die sich allein durch die abspaltende Projektion aller Widersprüche auf das Objekt des gemeinsamen Antisemitismus aufrecht erhalten kann. Diese Gefahr besteht in jeder Kollektivierung und müsste gerade von Antirassist*innen und radikalen Linken permanent bedacht werden. Die Kunst einer jeder Kollektivierung liegt darin, „sich weder von der eigenen Ohnmacht noch der Macht der anderen dumm machen zu lassen“17 und zu versuchen, die inneren Widersprüche und Spannungsverhältnisse zwischen den einzelnen Gruppen und Personen auszuhalten und weder in einen Individualismus noch einen Kollektivismus aufzulösen. Ihr inhärenter Antisemitismus ist der Gradmesser für das Gelingen. Dieses Auflösen passiert allerdings in der Fixierung, der in sich selbst gespaltenen Subjekte auf eine Identität. In der antirassistischen Identitätspolitik wird aus der Kritik – der permanenten Auseinandersetzung mit einer Gesellschaft, die sich immer zwischen Widerstand und Anpassung bewegen muss, um nicht in Konformismus oder Einsiedlertum auszuarten – eine essentielle Lebensweise. Die notwendigen Ambivalenzen des*der Kritiker*in müssen aus dem Bewusstsein gedrängt und abgespalten werden. Damit die praktizierte Anpassung nicht mit dem eigenen widerständischen Selbstbild kollidiert, muss die eigene Gesellschaftlichkeit geleugnet werden. Statt Auseinandersetzung mit der Gesellschaft wird Kritik zum Verkaufsargument und zur Reklame für die eigene Ware Arbeitskraft. Die Vermutung liegt nahe, dass das Ausspielen von Rassismus gegen Antisemitismus so die unbeabsichtigte Fortsetzung des kapitalistischen Konkurrenzkampf auf der Ebene der Identität ist.

Diese Form des Antirassismus erweist sich so als komplett unbrauchbar für die kommunistische Agitation gegen die deutsche Realität. Mehr noch: Sie geht dieser Realität sogar unbewusst auf den Leim. Euer antisemitischer Antirassismus ist das Gegenteil der kommunistischen Emanzipation. Bis ihr euch nicht entschließen könnt, ein Interesse an radikaler Gesellschaftskritik zu entwickeln und mit uns über die dafür nötigen Prämissen18 zu diskutieren, ist uns das, was ihr so treibt „manchmal echt egal.“19

1Zu einem einführenden Verständnis des hier impliziten Topos der „Nestbeschmutzer*in“ empfehlen wir den Artikel Zu Recht das Nest beschmutzt auf Seite 20/21 in der dritten Ausgabe der Zeitschrift Unter Palmen aus Wien, die sich einer kritischen und linksradikalen Bildungsarbeit verpflichtet fühlt: https://unterpalmen.net/wp-content/uploads/2019/05/unter-palmen-3-horror-alm.pdf 
2Da im Video keine Gesichter verpixelt sind, werden wir es nicht weiter öffentlich verbreiten.
3Amery, Jean: Aufsätze zur Politik und Zeitgeschichte. Werke Bd. 7, S 144.
4Amery, Jean: Aufsätze zur Politik und Zeitgeschichte. Werke Bd. 7, S 155.
5Marian, Esther: Redemptorische Gewalt – Jean Amerys Interventionen für Israel in: Sans Phrase Heft 2, S. 138.
6Warum Antizionismus die politische Version des Antisemitismus ist und sie sich zueinander verhalten wie Staat und Kapital, haben wir in unserem Text Kapital, Staat, ihre Fetische und dieses deutsche Scheiszland versuchtdarzulegen: https://antideutschorg.wordpress.com/2020/01/07/kapital-staat-ihre-fetische-und-dieses-deutsche-scheiszland/
7Czollek, Leah C.: Sehnsucht nach Israel – reloaded in: Sans Phrase Heft 9, S. 114.
8Der Fetischcharakter eines Bewusstseins, dass gesellschaftliche (also relative) Momente im Individuum selbst (also alleine) auffinden möchte, dürfte hier auf der Hand liegen. Im isolierten Individuum findet sich so wenig gesellschaftliches, wie der Tauschwert sich innerhalb eines Gebrauchsgegenstand finden lässt.
9Czollek, Leah C.: Sehnsucht nach Israel – reloaded in: Sans Phrase Heft 9, S. 113.
10Czollek, Leah C.: Sehnsucht nach Israel – reloaded in: Sans Phrase Heft 9, S. 114.
11Was wir unter Subjekten verstehen und wie sich diese zum Individuum verhalten, haben wir in entsprechenden Abschnitten unseres ausführlichen Textes über Kapital, Staat, ihre Fetische und dieses deutsche Scheiszland: https://antideutschorg.wordpress.com/2020/01/07/kapital-staat-ihre-fetische-und-dieses-deutsche-scheiszland/ versucht darzulegen.
12 Uns ist bewusst, dass dieser kurze Absatz nicht genügt um das Thema hier ausgiebig zu behandeln. Wir hoffen aber, dass auch in diesem gerafften Absatz deutlich wird, welche Dimensionen der von uns in Anschlag gebrachte Begriff des Antisemitismus beinhaltet. Ausführlicheres dazu findet sich unter anderem bei Simon Gansinger: „Sie lieben den Wahn wie sich selbst.“ Zur Psychoanalyse der antisemitischen Paranoia in: Sans Phrase Heft 14, S. 131-169, bei Joachim Bruhn: Übermensch und Unmensch in: Was deutsch ist – zur kritischen Theorie der Nation oder bei Theodor W. Adorno und Max Horkheimer: Elemente des Antisemitismus in Dialektik der Aufklärung.
13Mit „antirassistisch“ ist im Folgenden die gegenwärtig populärste Spielart des Antirassismus gemeint: Der postmoderne Antirassismus, wie er vom FSR Philosophie Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg sehr treffend skizziert worden ist: https://uol.de/fileadmin/user_upload/fachschaften/fsphilo/Hochschulpolitik/_Postmoderne_Rassentrennung_an_der_Uni__-_Stellungnahme_FS_Philo.pdf
14Für uns ist die Differenzierung zwischen Antisemitismus und Antizionismus nicht haltbar. Warum das so ist und in welchem Verhältnis Antisemitismus und Antizionismus stehen, haben wir unter anderem in unseren Redebeiträgen beim Eingedenken am 27.01.: https://antideutschorg.wordpress.com/2020/01/30/im-eingedenken-an-die-opfer-des-nationalsozialismus-2/ & in unserem ausführlichen Text über Kapital, Staat, ihre Fetische und dieses deutsche Scheiszland: https://antideutschorg.wordpress.com/2020/01/07/kapital-staat-ihre-fetische-und-dieses-deutsche-scheiszland/ versucht darzulegen.
15Zum Antisemitismus-Begriff in der AfD empfehlenswert: https://www.youtube.com/watch?v=LvKAuHZ64ik
16Oder wie es Cafe Morgenland schreiben: „Wir wollen kein anderes, keine antikapitalistisches, kein antideutsches, kein antiimperialistisches, kein ökologisches sondern gar kein Deutschland.“ Ganzer Text: https://cafemorgenland.home.blog/2015/07/22/freitaler-geruch-22-07-2015/ 
17Adorno, Theodor W.: Minima Moralia.
18 Erste Überlegungen dazu haben wir in unserem Text Kapital, Staat, ihre Fetische und dieses deutsche Scheiszland zur Debatte gestellt: https://antideutschorg.wordpress.com/2020/01/07/kapital-staat-ihre-fetische-und-dieses-deutsche-scheiszland/ 
19Schloss Einstein Titelsong: https://www.youtube.com/watch?v=s-dnnhc3ILA 

Die Provokation der jüdischen Existenz.

Klarstellungen zu den antisemitischen Vorfällen auf der Demonstration am 20.02.2020 in Bremen.

Wir haben uns als Gruppe um 18:30 in der Menge am Ziegenmarkt getroffen, um gegen das rassistische und antisemitische Klima in Deutschland, wovon nicht nur die zahlreichen jüngsten Anschläge zeugen, zu demonstrieren. Bereits vor Beginn der Demonstration hat es uns positiv gestimmt, dass zahlreich Leute erschienen waren. Doch schon während der Auftaktkundgebung wurden wir zweimal auf die kleinen Israel-Fähnchen angesprochen, weil wir auf Grund der antisemitischen Anschläge der letzten Monate unsere Solidarität zeigen wollten. Neben der positiven Reaktion eines israelischen Demonstrationsteilnehmers wurden wir von einigen eher negativ gestimmten Leuten angesprochen. So sprachen uns beispielsweise zwei Menschen an und begannen eine Diskussion, warum wir ausgerechnet auf der heutigen Demonstration diese beiden Fähnchen dabei hätten. Wir erwiderten in kurzen Worten, dass die letzten Anschläge in Bremen wie auf das Büro der Linkspartei explizit auch antisemitisch motiviert gewesen seien. Der neonazistische Hass auf Migration und die sich bürgerlich gebende rechtspopulistische Hetze artikulieren sich nicht zuletzt auch über die Figur eines jüdischen Strippenziehers, die den Plan einer „Umvolkung Europas“ verfolgt. In der Regel wird George Soros zu diesem stilisiert.

Rassismus und Antisemitismus gehen Hand in Hand. Während im Rassismus das bürgerliche Subjekt die allgegenwärtige Drohung der Unverwertbarkeit auf ein Objekt projiziert, projiziert das gleiche Subjekt im Antisemitismus den Wunsch nach vollständiger Kontrolle und Herrschaft pathisch auf den Juden. Genau diese Spaltung findet sich in der angesprochen Verschwörungstheorie des „jüdischen Strippenziehers“ wieder. Die rassifizierten Objekte werden nicht als Menschen gesehen, sondern als willenlose Masse, über die eine sinistre Figur der totalen Herrschaft verfügt. Hinter dieser Ideologie steht beispielsweise auch der Mörder, der die schrecklichen Taten in Hanau verübte.1

Als sich die Demonstration formierte, standen wir zunächst am Ende des Demonstrationszuges und beschlossen, am Rand der Demonstration nach vorne zu laufen. Trotz der bereits erwähnten Diskussionen war uns nicht bewusst, dass die beiden Stückchen Stoff mit dem Davidstern derartig provozieren würden, weswegen wir sie weiterhin sichtbar trugen. Zu keinem Zeitpunkt der Demonstration haben wir sie ein- oder ausgepackt. Es sollte nicht mit ihnen bewusst irgendwer provoziert werden, sie wurden von Anfang bis Ende in gleichem Maße sichtbar getragen. Kurz vor der Sielwall-Kreuzung wurde aus dem Demonstrationszug heraus eine Person aus unserer Gruppe tätlich angegangen. Es wurde versucht, einer Person aus unserer Bezugsgruppe die Flagge zu entreißen und wurde aufgefordert, sie wegzutun. Aufgrund der diversen Passanten auf dem Gehsteig und der parkenden Autos sowie einer Straßenbahn liefen wir nicht geschlossen als Gruppe. Es dauerte einige Momente, bis wir alle die Situation überblicken konnten. Die angegriffene Person wurde von einem stadtbekannten linken Antisemiten extrem aggressiv aufgefordert ihre Israelfahne abzugeben. Dies verweigerte sie. Eine Gruppe uns unbekannter Demonstrationsteilnehmer*innen stellte sich schützend vor die angegriffene Person, die sich hinter ein parkendes Auto zurückzog. Hierbei wurde noch versucht die Person anzuspucken. Die Frauen aus unserer Gruppe zogen sich vorerst ebenfalls aus der Demonstration zurück. Andere von uns wurden in aggressiver Stimmlage gefragt, warum wir diese Provokation unternommen hätten. Uns wurde vorgeworfen, dass die Flagge hier auf der Demo nichts zu suchen habe, was auf Twitter später als „Schlichtungsversuch“ dargestellt wurde. Wir erklärten, den Umständen entsprechend emotional aufgebracht, dass wir keine Provokation beabsichtigten und mit der Fahne unsere Solidarität mit allen Opfern antisemitischer Gewaltausdrücken möchten, woraufhin wir erneut beleidigt und im Nachgang als rassistische und sexistische Aggressoren bezeichnet wurden. Der Angreifer spuckte noch einmal in unsere Richtung, ehe sich die Situation auflöste.

Wir bedankten uns bei allen, die uns zur Hilfe gekommen waren und zogen uns auf die Höhe des Lautsprecherwagens zurück. Wir fühlten uns nicht mehr sicher, erneut nach vorne zu laufen, weil der Angreifer von einer größeren Gruppe bei seiner Tat bejubelt wurde. Es war uns nicht möglich die Situation einzuschätzen. Es betrübt uns sehr, dass zu diesem Zeitpunkt kein Schutz für Jüdinnen und Juden auf der Demonstration bestand, sofern sie es wagten einen Davidstern offen sichtbar zu tragen.

Vor allem aber ist es bedauerlich, dass die einzige Möglichkeit für Juden oder Jüdinnen, die mit unserer Gruppe auf der Demo waren, Solidarität zu erfahren, ein Outing als Jüdin oder Jude gewesen wäre. Ebenso ist es erschreckend, dass ein Angriff auf jüdische Symbolik geduldet wird, sofern die Träger*innen als „weiß“ bezeichnet werden können und im Nachgang auf Twitter aus dieser Gruppe von Angegriffenen rassistische und sexistische Täter*innen gemacht werden sollen.

Am Lautsprecherwagen berichteten wir einem Ordner von dem Vorfall. So unwohl wir uns fühlten, kam es für uns nicht in Frage die Fahnen abzulegen, da sie das Symbol der einzigen Schutzmacht ist, auf die sich Jüdinnen und Juden verlassen können; das Versagen der Polizei beim Anschlag auf die Synagoge in Halle ist dafür ein weiterer trauriger Beleg. Dort angekommen wurden wir von einer hinter dem Lautsprecherwagen laufenden Gruppe mit einem freundlichen „Shalom“ und einigen ausgestreckten linken Fäusten gegrüßt. Ohne genau darüber informiert gewesen zu sein, wer die Gruppe war und in welchem Block wir uns befanden, beschlossen wir zunächst einmal hier zu bleiben.

Während der Zwischenkundgebung wurden wir auf die Fahnen angesprochen und erneut fragten wir, warum der Davidstern auf dem Stückchen Stoff so problematisch sei und erklärten, dass wenn Juden und ihre Selbstverteidigung nicht erwünscht sei, dass doch bitte offen ausgesprochen werden solle. Daraufhin wurde erwidert, dass dieser Spruch hier nicht funktioniere. Als wir uns erkundigen wollten, warum entsprechende Person immun gegenüber Antisemitismus sein solle, wurde uns vorgeworfen, aggressiv ein Gespräch gesucht zu haben. Andere aus der Demonstration ermahnten uns ruhig zu sein, weil gerade Redebeiträge verlesen wurden. Der Versuch einer schnellen Erklärung, dass nicht wir das Gespräch begonnen hätten, wurde ignoriert. Dass wir keinerlei Interesse an Auseinandersetzungen hatten und lediglich, für uns angesichts der auch antisemitisch motivierten Anschläge selbstverständlich, israelische Fahnen trugen, wurde nicht zur Kenntnis genommen. Im Gegenteil schienen es die Israelfahnen zu legitimieren, dass wir beleidigt und angesprochen wurden. Erst unsere Reaktion schien das eigentlich zu kritisierende zu sein. Die Israelfahnen und das Einfordern eines jüdischen Rechts auf Selbstverteidigung wurden erneut als Provokation wahrgenommen. Ein Schelm, wer hierbei an deutsche Nachrichtensendungen denkt, in denen erst bei einer israelischen Reaktion nach wochenlangem Raketenbeschuss aus dem Gaza-Streifen berichtet wird oder den klassischen Vorwurf des jüdischen Nestbeschmutzers.

Im darauffolgenden Redebeitrag wurde frenetisch geklatscht, als ein Redner erklärte: „Ich bin Jude, wenn jemand was gegen Juden hat!“ Doch hätten sich Jüdinnen oder Juden erst outen müssen, damit der artikulierte Antisemitismus als solcher hätte wahrgenommen werden können. Wir entschieden uns die Demonstration vorzeitig zu verlassen. Es betrübt uns sehr, dass diese antisemitischen Angriffe geduldet werden und im Nachgang als Produkt einer Provokation bezeichnet worden sind. Wenn Jüdinnen und Juden in Deutschland eine linke Demonstration vorzeitig verlassen müssen, weil sie sich nicht sicher fühlen, dann hat die gesamte Demonstration leider in ihrem Anspruch versagt. Wir möchten erneut betonen, dass wir uns außer des Zeigens der Fahne und der Erwiderung von Vorwürfen gegenüber dieser Fahne auf der gesamten Demonstration passiv verhalten haben.

Was im Nachgang in sozialen Medien passierte, ist fatal: Antisemitismus gegen Rassismus auszuspielen hat keinerlei emanzipatorisches Moment, sondern ist die Fortsetzung eines kapitalistischen Konkurrenzkampfes auf der Ebene der Identität. Wir möchten niemandem rassistische Erfahrungen absprechen oder rassistische Alltagsgewalt leugnen. Stattdessen möchten wir darauf aufmerksam machen, dass Antisemitismus nicht erst dort beginnt, wo ein Jude oder eine Jüdin sichtbar anwesend ist. Jede Ablehnung des israelischen Staates, als einzigen weltweiten Schutzraum der Überlebenden der Shoah und ihrer Nachkommen, ist bereits antisemitisch motiviert. Am israelischen Staat artikuliert sich die negative Staatskritik. Ihm wird konkret das zu Last gelegt, was sich in der Staaten- und Klassengesellschaft abstrakt tagtäglich äußert, wie sich am Antisemitismus negativ eine Ökonomiekritik äußert.2

In einer Gesellschaft, in der Staat und Kapital aufeinander verwiesen sind und sich gegenseitig bedingen, sind auch Antisemitismus und Antizionismus nicht voneinander trennbar. Antisemitismus und Antizionismus sind notwendiges und falsches Bewusstsein einer falsch eingerichteten Gesellschaft. Sie existieren als solche unabhängig von Herkunft oder sonstigen Identitätsmerkmalen in einer globalisierten Form, wie das Kapitalverhältnis selbst globalisierte Form ist. Im Antisemitismus versucht sich ein Individuum als Subjekt innerhalb dieser falschen Gesellschaft zu konstituieren, unabhängig vom Verhalten der Objekte. Wer den israelischen Staat ablehnt, der lehnt das jüdische Recht auf Selbstverteidigung ab. Jeder, der den Antizionismus gegenüber dem Antisemitismus verteidigen möchte, zieht (oftmals wahrscheinlich unbewusst) mit dem Staat in den Kampf gegen das Kapital. Auf den israelischen Staat wird all jenes projiziert, was der eigene – oder auch der erträumte eigene – Staat oder verstaatlichtes Kollektiv tagtäglich tun muss, um überhaupt als Staat existieren zu können. Der stumme Zwang der Verhältnisse scheint sich in Israel konkret zu äußern. Verkannt wird dabei, dass es gerade der israelische Staat ist, der als historische Notwendigkeit nach dem Scheitern der jüdischen Emanzipation zum Staatsbürger und zum proletarischen Genossen, als einziger die Sicherheit der Jüdinnen und Juden garantieren kann.

Die Reaktionen, die unsere Fahnen auf linken Demonstration hervorrufen zeugen davon, dass auch hier Individuen versuchen müssen, sich als Subjekte zu konstituieren. Antisemitismus ist gerade nicht nur Problem von militanten Rechten. Wir gehen auch insoweit mit all jenen d‘accord, die uns online kritisierten, dass Rassismus ebenfalls mehr ist, als das bloße Phänomen neonazistischer Schläger oder populistischer Hetze im Bundestag. Wir verwehren uns jedoch dagegen, Rassismus und Antisemitismus allein von den Empfindungen der Opfer des Angriffes abhängig zu machen und zwar aus den im Text erörterten Gründen. Als Ideologien und Ressentiments folgen beide einer Logik, auch wenn wir diese als zutiefst widerwärtig betrachten, können wir nicht ihren rationalisierenden Kern und ihre für die Subjektivität innerhalb der kapitalistischen Vergesellschaftung notwendige Funktion leugnen. Ihre Funktion und Logik liegen außerhalb der Opfer von Angriffen, mehr noch: diese Logik wird den Betroffenen übergestülpt. In dieser Logik werden die Betroffenen zu bloßen Objekten.

So sehr es uns um den Schutz und das Wohlergehen von Betroffenen geht, so wenig kann dies erreicht werden, wenn die Deutung über den Inhalt von Angriffen allein im subjektiven Bereich der Angegriffenen verschoben wird. Denken und Handeln ist rassistisch und/oder antisemitisch oder nicht. Es muss unabhängig von der Artikulation eigener Betroffenheit sein, wenn man keine Zwangsouting-Situationen hervorrufen will, wie die oben geschilderte. Das heißt, dass wir selbstverständlich offen für Kritik auch unserer Verhaltensweise gegenüber sind, wenn diese gegenüber uns artikuliert wird. Wenn – wie beispielsweise auf Twitter angedeutet wurde – unser Verhalten zu kritisieren ist, dann bitten wir dies zu tun und nehmen uns gerne dieser Kritik an. Kritik kann dabei aber nicht sein, dass im Zeigen einer Israelfahne oder dem argumentativen Verteidigen einer solchen eine rassistische Provokation gesehen wird. Menschen, die sich an der israelischen Fahne derartig stören, sind als Antisemit*innen zu benennen. Für ein Ausspielen von Rassismus gegen Antisemitismus stehen wir aber nicht zur Verfügung.

In diesem Sinne,
mit solidarischen Grüßen an alle, die an der bestehenden Gesellschaft etwas auszusetzen haben,
Solarium – kommunistische Gruppe Bremen.

1Siehe dazu: Joachim Bruhn: Unmensch und Übermensch: https://www.ca-ira.net/wp-content/uploads/2018/06/bruhn-deutsch_lp-1.pdf
2Siehe dazu den Absatz über Antisemitismus und Antizionismus in: Solarium: Kapital, Staat, ihre Fetische und dieses deutsche Scheiszland: https://antideutschorg.wordpress.com/2020/01/07/kapital-staat-ihre-fetische-und-dieses-deutsche-scheiszland/

DER STAAT BIST DU! CHARAKTERMASKEN ABSCHMINKEN!

Flugblatt, das auf der Demonstration ‚Sarrazin, halt‘s Maul‘ am 10.12.2019 in Bremen verteilt wurde.1

Liebe GenossInnen von der Kampagne NIKA Nordwest und sonstige UnterstützerInnen des heutigen Aufrufs. Anders als die autoritären MarxistInnen es raunen, ist das Kapital kein Kreis von Personen, die in irgendwelchen Räumen über das Vorgehen auf unserer Welt entscheiden. Das Kapital ist viel mehr eine gesellschaftliche Synthesis, die alle ausschließt, weil es die Individuen zu Subjekten und die sinnlichen Dinge zu Waren atomisiert und zugleich alle einschließt, indem alles auf den Wert bezogen und dadurch miteinander austauschbar ( also vergleichbar) wird.

Diese gesellschaftliche Synthesis des Kapitals wird im Tausch hergestellt. In ihm werden Waren auf das soziale Verhältnis des Wertes bezogen. Im Tausch allein kann sich der Wert selbst verwerten und kann als scheinbar „automatisches Subjekt“ prozessieren. Eben weil dieses Prinzip in der Gegenwart eine allgemeine Gültigkeit erlangt, und nicht, weil es eine herrschende Klasse mit Profitgier gibt, lässt sich vom Kapitalismus als System sprechen. Der Garant dieses Tauschverhältnisses ist der Staat, der durch seine Monopolisierung der Gewalt ein Recht setzt, das überhaupt erst den Tausch zwischen Freien und Gleichen ermöglicht. Denn wenn sich etwas genommen werden kann, ohne Konsequenzen befürchten zu müssen, braucht sich dafür kein Geld gegeben werden.

Dass die Waren sich nicht selbst zu Markte tragen können, wie Marx anmerkte, heißt in Anbetracht des Tausches als vergesellschaftendes Prinzip, dass der Mensch allein das Subjekt der Geschichte ist und bleibt. Das heißt, dass das „automatische Subjekt“ seine Existenz allein der Handlung von nicht-automatischen, ergo menschlichen, Subjekten verdankt; dass der Staat nur vermittels Subjekten – seien sie PolizistInnen oder PolitikerInnen – erscheinen kann. Wenn Marx allerdings sagt, dass sich die Geschichte scheinbar hinter dem Rücken der Subjekte vollziehen würde, spricht er damit das notwendig und falsche Bewusstsein der Subjekte an. Diese werden zu Charaktermasken,2 die einem fetischisierten Alltagsglauben anhängen und eine bürgerliche Subjektivität erlangen, womit sie das soziale Verhältnis des Wertes reproduzieren, ohne dabei jedoch als Individuen mit ihrer Funktion gänzlich identisch zu sein.

In der von Staat, Kapital und ihren Fetischen bestimmten, bürgerlichen Gesellschaft kann der konkrete empirische Mensch – sofern er das Glück hat, StaatsbürgerIn zu sein und nicht ohne Papiere im Mittelmeer ertrinken muss – nur in der Subjektform überleben. In dieser ist die Individualität zum Accessoire der Persönlichkeit degradiert. Sein Denken ist in die Warenform gebannt, die „erkenntnistheoretisch von der Philosophie und triebökonomisch von der Psychologie verdoppelt und rationalisiert wird.“3 Das Individuum steht also nicht im Gegensatz zur Gesellschaft, sondern die Gesellschaft hat sich ins Innerste des Individuums eingebrannt. Zum Subjekt wird das Individuum, wenn es in der Lage ist, sich selbst als EigentümerIn der Ware Arbeitskraft zu denken, seine eigenen Triebe soweit zu beherrschen, um zur gesellschaftlichen Produktion beitragen zu können. Kurzum: Subjekt sein, das heißt – nach einem Worte von Joachim Bruhn – „Kapital verwertend und Staatsloyal“4 zu sein.

Das Subjekt ist, wovon es selbst in seinem fetischisierten Bewusstsein nur eine Ahnung (als Existenzangst) entwickeln kann, vollauf prekär. Permanent droht die eigene Wertlosigkeit und damit der Verlust der Subjektivität: „Derart ist das bürgerliche Subjekt verfasst, dass es Identität nicht aus sich selbst erzeugen kann, sondern nur im Prozess einer ständigen Abgrenzung, eines permanenten Zweifrontenkrieges gegen das ‚unwerte‘ und gegen das ‚überwertige‘ Leben. Bürgerliche Subjektivität existiert nur in der vollkommenen Leere der permanenten Vermittlung, die sie zwischen den Waren, im Tausch, und um den Preis der ihr andernfalls drohenden Annihilation zu stiften hat.“5

Die erste Front ist eine Abspaltung und Projektion, der eigenen – sich der Verwertung und Verrechtlichung entziehenden – triebhaften Naturbeschaffenheit, auf ein rassifiziertes „Objekt“, dem man den Subjektstatus verweigern muss, um sich selbst als Subjekt wähnen zu können. Die Ambivalenzen zwischen Romantisierung der edlen Wilden und das Streben nach ihrer totaler Beherrschung folgen der dialektischen Logik. In der zweiten Front werden pathisch die eigenen Sehnsüchte auf die „Gegenrasse als solche“ projiziert. Er ist das mörderische Streben des Bürgertums sich selbst zu rassifizieren, die eigene Subjektivität durch Aneignung des angeblich geheimen Wissens der Juden zu erlangen. Diese Abspaltung findet allerdings zweifach statt: ökonomisch im Antisemitismus und politisch im Antizionismus – das eine bedingt das andere so sehr, wie sich Staat und Kapital gegenseitig bedingen.

Dem Antisemiten erscheint das Kapitalverhältnis als Gegenüberstellung von Produktions- und Zirkulationssphäre, wobei die Produktion als „schaffend“ und die Zirkulation als „raffend“ gedacht werden. Dass die Warenproduktion selbst bereits die Zirkulation – den Kauf der Produktionsmittel, ihre Aufwertung durch die gekaufte Ware Arbeitskraft und ihr Weiterverkauf – in sich enthält, kann das fetischisierte Bewusstsein, dass die Wertsteigerung auf magische Weise im Gegenstand selbst vermutet, nicht begreifen. Die Trennung und die Abspaltung erhält das System, ist es doch so möglich, die Produktivität des Kapitalverhältnisses gegen seine ihm innewohnende Destruktivität auszuspielen. In Krisenzeiten der Verwertung erfüllt das Pogrom die Funktion des ritualisierten Opfers an die Gottheit des automatischen Subjekts – von der triebökonomischen Funktion ganz zu schweigen. Der Antizionist wiederum trennt Recht und Gewalt, welche sich gegenseitig bedingen, während er letzteres dem vermeintlich künstlich gesetzten jüdischen Staat zuschlägt, um den eigenen Staat als natürlich gewachsene Entität des Rechts halluzinieren zu können. Die Funktion ist in gewissem Maße analog zum Antisemitismus. Die Fetischisierung des Rechts verdrängt die Gewalt, deren Existenz jedoch unwiderlegbar ist, die einem anderen Subjekt zugeschoben werden muss.

Bei beiden ist der Neid auf das vermeintlich geheime Wissen der Juden nicht von der Hand zu weisen, ist das ihnen Unterstellte doch das eigene Verlangen: Verwertung und Herrschaft. Antisemitismus und Antizionismus sind die negative Ökonomie- und Staatskritik in den Formen des fetischisierten Bewusstseins. Beide sind somit gerade nicht Ausdruck einer Archaik oder Feudalität – im Falle des Irans Beleg seines irgendwie vormodernen Daseins –, sondern im Gegenteil Ausdruck der bürgerlichen Moderne. Politik kann gegen sie nichts ausrichten, sind sie doch keine Unwissenheit, sondern logische Konsequenz der bürgerlichen Subjektivität, auf der jede Vorstellung von Politik notwendigerweise beruht.

Die deutsche Vergesellschaftung ist dabei von einer besonderen Widerwärtigkeit. Richard Wagners affirmative Emphase, dass es deutsch sei, eine Sache um ihrer selbst Willen zu tun, bekommt ihre historische Wahrheit in der antisemitischen Vernichtung um der Vernichtung Willen. Ihren materialistischen Gehalt erhält sie durch den Verweis auf Adornos Rede, dass ein Deutscher jemand sei, der keine Lüge aussprechen könne, ohne sie selbst zu glauben. In aller Kürze heißt das, dass die Unwahrheiten der bürgerlichen Gesellschaft im Nationalsozialismus auf brutalste Art und Weise beinahe wahr gemacht worden ist, wie die bloß über den Wert vermittelte vermeintliche Egalität der Klassengesellschaft zur Auflösung des Klassenwiderspruchs in der Egalität des Mordkollektivs, wie der Traum von der krisenfreien Ökonomie in der kriegerischen Konsumgemeinschaft. Das Erbe dieser Gemeinschaft lebt fort im postnazistischen Sozialpakt, in der Unterstützung antisemitischer Mörderbanden, dem Aufschwingen zur moralischen Weltmacht und in der stetigen Möglichkeit, sich im Angesicht der Krise erneut auf die altvertraute – beinahe erfolgreiche – Krisenlösung zu besinnen.

Alles was bisher über Subjektivität gesagt wurde, gilt natürlich auch für den deutschen Staat, der nur durch seine StaatsbürgerInnen überhaupt sein kann und der sich eben nicht bloß durch Wirtschaftsbosse und PolitfunktionärInnen ausdrückt, sondern in dem jedeR einzelneR StaatsbürgerIn in eine entsprechende Charaktermaske schlüpft. Das Ausspielen der klassenbewussten Antifa gegen die rassistischen FunktionärInnen von Staat und Kapital verkennt die gerade in Deutschland (gern) praktizierte Verbindung von Mob und Elite. Verkennt, dass der arbeitslose Faschist in Ostdeutschland mit den Sarrazins, Höckes und den Mitgliedern des Wirtschaftsclubs Havanna in Bremen in einem Verhältnis steht; dass sich die Subjektivität der ersten in Abschiebungen und Bevölkerungspolitik äußern kann, während letztere zur Festigung ihrer bürgerlichen Subjektform – und das hat Joachim Bruhn im Fall eines Mörders von Solingen bereits auf dem Konkret Kongress 1993 deutlich dargelegt – einzig und allein der rassistische Mord bleibt.6 Die von buchgläubigen Kommunisten erstrebte Emanzipation der Deutschen zu Menschen, betrifft jeden Staatsbürger auf unterschiedliche Weise, aber doch gleichermaßen.

Dies festzustellen ist nicht gleichbedeutend mit einer Verdrängung der berechtigten Wut auf die Charaktermasken der politischen und ökonomischen Macht oder einer Predigt für den Verzicht auf nonverbalen Kommunikation mit autoritären Dreckssäcken – notfalls auch vermittelt über deren Eigentum. Vielmehr ist dies festzustellen, um die Gemeinsamkeiten der rassistischen Formierung im Bewusstsein zu behalten, ohne dabei die einen zum bloßen Fußvolk der Anderen zu machen. DeutscheR – und das heißt manifesteR AntisemitIn und RassistIn – zu sein, ist eine Entscheidung, für die jedeR im sartre‘schen Sinne zur Verantwortung zu ziehen ist.

Und ebenso sind Linke zur Verantwortung zu ziehen, die sich nicht in allerletzter Radikalität in eine Fundementalopposition zu diesem widerwärtigen Drecksland begeben. Das Gegenteil von gut ist in der Welt von Kapital, Staat und ihren Fetischen leider, leider, leider gut gemeint, liebe Genossinnen und Genossen von NIKA Nordwest.

Please don‘t shoot the messenger,
Solarium – kommunistische Gruppe Bremen.

1Dieses Flugblatt ist die gekürzte (und auf den Aufruf: https://www.nationalismusistkeinealternative.net/bremen-sarrazin-halts-maul-gegen-rassismus-und-klassenkampf-von-oben/ zugespitzte)
Version eines internen Kommuniqués zur Verständigung über Kapital, Staat, ihre Fetische und dieses deutsche Scheiszland, das in den nächsten Wochen in Gänze auf antideutsch.org veröffentlicht wird.
2Bloßen FunktionsträgerInnen des automatischen Subjekts.
3Bruhn, Joachim: Was deutsch ist,S. 162.
4Bruhn, Joachim: Videomitschnitt vom Konkret Kongress 1993.
5Bruhn, Joachim: Was deutsch ist, S. 96.
6Bruhn, Joachim: „Typisch deutsch“ - Christian R. und der linke Antirassismus, in: Was deutsch ist.

Flugblatt zu „Crash the Party“ / AfD-Bundesparteitag in Braunschweig

Die fast unlösbare Aufgabe besteht darin, weder von der Macht der anderen, noch von der eigenen Ohnmacht sich dumm machen zu lassen.“
– Theodor W. Adorno, Minima Moralia

FCK AFD!

An diesem Wochenende sind zahlreiche linke und linksradikale Personen und Gruppen nach Braunschweig gefahren, um gegen den Bundesparteitag der Alternative für Deutschland zu demonstrieren und versuchen, seine Abläufe wenigstens zu stören. Ein derartiger Sabotageversuch gegen den politischen Betrieb in Deutschland müsste von KommunistInnen und anderen Antideutschen eigentlich gut geheißen werden können – würden die Demonstrationen sich auch als ein solcher verstehen. Doch weder wird eine derartige subversive Radikalität unter dem Großteil der Protestierenden Anklang finden, noch wird der sich selbst als explizit linksradikal verstehende Teil der zu Grunde liegenden Analyse zustimmen. Zu sehr ist man verfangen im identitären Abgrenzungsbedürfnis und zu oft reiht man sich ein in das vermeintlich antifaschistische „zivilgesellschaftliche Engagement“, ohne dabei zu merken, dass man sich dabei von den als links gesehenen Parteien der postnazistischen Bundesrepublik vor den Karren spannen lässt.

Es ist – wie viel zu oft – die deutsche Zumutung des Antisemitismus, an dem das Versagen linker Kritik deutlich wird. Während die Lehre der Shoah für Israel und die meisten Jüdinnen und Juden in Europa heißt, dass sie sich niemals voll auf den Schutz einer anderen Staatsmacht verlassen können,1 demonstrierte die radikale Linke nach dem Attentat in Halle gemeinsam, in Abgrenzung zur AfD, mit VertreterInnen eben jener deutscher Parteien, die im Handel mit dem antizionistischen iranischen Regime – der größten Bedrohung die es für Jüdinnen und Juden auf der Welt momentan gibt – alles andere als ein Problem sehen.2 Der Parlamentarismus erscheint in neuem Glanz, weil unter gemeinschaftsstiftenden Parolen wie „Unteilbar“ oder „gegen den Hass“ die Widerwärtigkeiten der Berliner Republik verdrängt werden können.3

Ideologiekritik und Identität?

Bezeichnend dafür ist, dass die durch die Bank weg antizionistischen Ausfälle deutscher PolitikerInnen anlässlich der feierlichen Debatte zu „70 Jahre Gründung des Staates Israel – In historischer Verantwortung unsere zukunftsgerichtete Freundschaft festigen“4 im deutschen Parlament auch in der antinationalen und israelsolidarischen Linken kaum wahrgenommen wurden. Dass Katrin Göring-Eckardt Israel für den antisemitischen Terrorismus gratulierte oder Dietmar Bartsch, als – nach eigener Aussage – linker Politiker und deutscher Staatsbürger, Israel implizit für die Krisensituationen in seinen Nachbarländern verantwortlich machte, fiel der sprachsensiblen Linken nicht einmal auf, weil die „Einzigartigkeit der Shoah“ und das „Existenzrecht“ betont wurden und somit im für das eigene Wohlbefinden angemessenen Jargon gesprochen wurde.5 Das Einzige, was wirklich Aufsehen erregte, war die Rede einer führenden Charaktermaske der neurechten Bewegungspartei, die gemeinhin unter dem Namen Alexander Gauland bekannt ist. Auch wenn sie sich nur in wenigen Punkten vom sonst üblichen postnazistischen Konsens unterscheidet, war sie Grund genug für die Spaltprodukte der israelsolidarischen Linken – fälschlicherweise auch Rechtsantideutsche und Linksantideutsche genannt –, die eigene Reflexionsfähigkeit freudig über Bord zu werfen und sich politisch klar zur Rede zu positionieren. Ist es bloß ein popkulturindustrielles Bedürfnis nach Distinktion und Tabubruch oder das Ersetzen der sich unversöhnlich selbst gegenüberstehenden und deshalb fürs Individuum einiges an Anstrengung bereithaltenden Ideologiekritik, durch die wohlige Wärme einer politischen Identität im „Kulturkampf“?6 Nur weil das allgemeine Niveau der Debatte sich auf einem derartigen Tiefpunkt befindet, erscheinen einzelne Debattenbeiträge überhaupt als klug.

Politische Positionierungen haben es an sich, dass sie zwar mitunter temporär Raum für kritische Erwägungen haben – wie es einige vernünftige Papiere der Rosa-Luxemburg-Stiftung zeigen – aber im Eifer der Tagespolitik zu allem ein instrumentelles Verhältnis einnehmen müssen – wie es die zur Stiftung gehörende Linkspartei jeden Tag zeigt. Da auf einer Demonstration gegen den Bundesparteitag der AfD aber nicht mit allzu vielen sogenannten Rechtsantideutschen zu rechnen ist, soll uns deren wahnhafte Meinung nicht weiter beschäftigen, sondern der meinende Wahn des Kontraparts. Natürlich ist es für jene, die ihre politische Identität auf einer Solidarität zu Israel aufbauen, unmöglich die Israelsolidarität des politischen Feindes stehen zu lassen. Anders eine kommunistische oder ideologiekritische Israelsolidarität, die sich nicht um Tagespolitik scheren muss, sondern sich allein aus der Kritik von Staat, Kapital und ihren Fetischen begründet. Da die Rede inhaltlich aber kaum Unterschiede hergibt, außer der Zuspitzung der Staatsräson auf die Bereitschaft zu töten, muss sich am Wording abgearbeitet werden.7

Deutschland ist scheiße, in der AfD sind die Beweise.

Es ist nicht zu bestreiten, dass die AfD nicht dieselbe Qualität besitzt, wie die bisher bekannten parlamentarischen VertreterInnen des Postnazismus von Union, FDP, SPD, Linkspartei und Grünen. So sehr letztere auch den deutschen Konsens, gegen den Antideutsche und andere KommunistInnen seit der Wiedervereinigung anrennen, reproduzieren und so wenig ihre Phrasen von den angeblich Lehren des Nationalsozialismus mehr sind, als instrumenteller Teil einer politischen Praxis, einer rechtsradikalen und nationalistischen Bewegungspartei wie der AfD sind sie allemal vorzuziehen. Denn jene muss das Andenken an die Shoah gänzlich verdrängen, weil jede Erinnerung an sie, der von ihnen erträumten „Souveränität des ganzen Volkes“ im Sinne Carl Schmitts, samt todesmutigem Heroismus im Sinne Ernst Jüngers, diametral gegenübersteht.

Die AfD ist eine Reaktion auf eine ökonomische und politische Krise, deren Lösungen in der permanenten Mobilisierung eines ganzen Volkes bestehen und deren Erfolg mordlüsternen und autoritären Charakteren in der ganzen Republik Aufwind gibt. Doch die Mordgelüste und die autoritären Charaktere mussten nicht von der AfD geschaffen werden, sie tragen das notwendige, aber falsches Bewusstsein der sozialen, ökonomischen und staatlichen Zurichtungen im Rechtsnachfolger des Nationalsozialismus. Die AfD gewinnt ihre Stärke dadurch, dass die zivilisierten und von den Westalliierten domestizierten Kanäle zur Sublimation von Antisemitismus und rassistischer Mordlust, also Israelkritik und Abschiebung, nicht für alle gleichermaßen zur Verfügung stehen. Eine Kritik der AfD, die all das nicht berücksichtigt, verdrängt die Ursachen, leugnet den stummen Zwang von Staat und Kapital und vergisst die besondere Widerwärtigkeit dieser Zumutungen in Deutschland.

In diesem Sinne: danke, dass ihr da seid!

Nieder mit Deutschland und für den Kommunismus!
– Solarium (Bremen)

Quelle des Bildes: https://www.nationalismusistkeinealternative.net/autoritaere-sehnsuechte-begraben-die-befreite-gesellschaft-erkaempfen/

1 In diesem Kontext stehen auch die Aussagen eines Mitglieds der jüdischen Gemeinde in Halle gegenüber der Jüdischen Allgemeinen: 
„Die Gemeinde ist sehr, sehr klein. Und über das Video haben wir gesehen, dass er die Türen mit Sprengstoff oder anderen Materialien präpariert hatte. Es gab nur die Möglichkeit, uns in den Räumen zu verstecken und die Tür zu versperren, so gut es eben geht. Wir hatten unfassbare Angst. Die Tür besteht aus Holz und ist nicht sonderlich gesichert gewesen, wie man es etwa aus München oder Berlin kennt. Zudem waren wir unbewaffnet. Es ist ein Wunder, dass wir überlebt haben. Es war wirklich ganz, ganz knapp. Die Fenster sind aus normalem Glas, der Täter hätte nur hineinschießen müssen, schon wäre er drinnen gewesen und hätte ein Blutbad angerichtet. Zudem hat der Täter Molotowcocktails und, glaube ich, Handgranaten an den Türen befestigt. Wir können einfach nur von Glück reden, dass die nicht gezündet haben und die Sukka im Hof nicht Feuer gefangen hat. Denn die Polizei hat 20 Minuten gebraucht, um zu uns in die Synagoge zu kommen, um uns zu schützen.“ 
Siehe: https://www.juedische-allgemeine.de/unsere-woche/ein-wunder-dass-wir-ueberlebt-haben/  
2 Kurzum: die radikale Linke versagt daran, die Arbeitsteilung innerhalb der antisemitischen Internationalen zwischen der geläuterten und durch die Lektionen aus der Geschichte wieder gut gewordenen Israelkritik der Wirtschaftsmacht Deutschland und den zum Mord bereiteten Antizionisten zu erkennen.
3 An Abschiebungen und Zwangsräumungen sind beispielsweise alle im Bundestag und Landtagen vertretenen Parteien beteiligt.
4 5. Tagesordnungspunkt der 29. Sitzung der 19. Wahlperiode des Bundestages.
5 Unser Dank gebührt an dieser Stelle Daniel Poensgen, der sich durch diese Reden nicht nur gequält hat, sondern sie auch in: Sterben für die Staatsräson. Afd in Israelsolidarität im Bundestag, in: Pólemos #9 treffend in den Kontext zur AfD gestellt hat.
6 Die Skizzierung dieses „Kulturkampfes“ und seiner Spieglung innerhalb der radikalen Linken wurde von der Redaktion antideutsch.org zur letzten Europawahl vorgenommen. 
Siehe: https://antideutschorg.wordpress.com/2019/05/21/europwahl/
7 Auch dazu sei der Artikel von Daniel Poensgen in der Pólemos #9 empfohlen.

Requiem für Anfänger

Es war die beste aller Zeiten, es war die schlimmste aller Zeiten, es war das Zeitalter der Weisheit, es war das Zeitalter der Dummheit, es war die Epoche des Glaubens, es war die Epoche des Unglaubens, es war die Saison des Lichts, es war die Saison der Dunkelheit, es war der Frühling der Hoffnung, es war der Winter der Verzweiflung.
Charles Dickens, „Eine Geschichte aus zwei Städten“

Ein Abgesang

Das verflixte siebten Jahr. Da war doch was! Shit! Aber bitte beruhigen Sie sich. Keine Panik. Die alten Hasen wussten es von Anfang an: Es wird selbstverständlich ein unschönes Ende geben. Auch die beste Idee wird irgendwann einmal von dem überall grassierenden Rückschritt gnadenlos aufgefressen. Zumal: Eine politische Gruppe ist immer ein Projekt mit begrenzter Lebensdauer. Wir waren niemals derart naiv, das nicht von Anfang an einzukalkulieren. Nun ist es soweit…

Wir lösen uns auf. Mögen die unzähligen Hater verzückt frohlocken, die wenigen Fans tagelang weinen. Es ändert nichts an der Tatsache: Alles ist im Arsch, alles ist am Ende. Und alles was Du noch sagst ist: „Hätte, würde, könnte“.

Es ist ein Ende mit Schrecken, weil wir keine Lust auf den vorhersehbaren Schrecken ohne Ende haben. Die Situation ist verfahren, aber eines ist klar: Powersätze gegen den Islam ersetzen keine Kritik. Wortgewaltige Kraftmeierei in virtuellen Netzwerken ebenfalls nicht. Die Zeit ist reif für einen grundlegenden Politikwechsel. Selbstverständlich ohne jemals zu vergessen, wo wir herkommen und was wir uns in den letzten Jahre erarbeitet haben… ohne jegliche Reue!

Ganz ehrlich: Was hatten wir für einen Spaß! BornhagenTorgau und Insel. Locker, flockig schwangen wir uns auf die Pole Position. Wie waren wir motiviert! So viele guudde Leudde waren am Start. What the Fuck! Es war, ist und bleibt uns eine absolute Ehre. Niemand, wirklich niemand, kann uns das jemals nehmen! Danke an jeden Einzelnen für diese unglaublich spannende Zeit. Außerdem danken wir unseren unzähligen Bündnispartnern. Jedem, der am Start war! Ihr wart das Salz in der Suppe. Eine Inspiration!

Und schlußendlich gilt es noch festzuhalten: Es war uns eine außerordentliche Freude, äußerst unangenehmen Zeitgenossen wie Klaus Lederer, Bodo Ramelow, Justus Wertmüller und Björn Höcke auf den Senkeln gegangen zu sein! Doch nun ist erst einmal von unserer Seite aus, Feierabend. Wir haben fertig.

Nun seid Ihr dran!

Antideutsche Aktion Berlin [ADAB] im August 2018