Was bedeutet: Nie wieder Deutschland?

Anlässlich des 03. Oktobers veröffentlichen wir an dieser Stelle eine ungehaltene Rede von Joachim Bruhn.1

Liebe Linksradikale,
der Zusammenbruch des Staatskapitalismus im Osten und der klägliche Abgang des „neuen Deutschland“ jenseits der Elbe ist, alles in allem genommen, ein abermaliger und glänzender Beweis für die Richtigkeit der alten antiimperialistischen, von Mao-tse-tung stammenden Parole, wonach Staaten Unabhängigkeit wollen und Völker ihre Befreiung. Nun ist es zwar mit der „sozialistischen Nation“ in der DDR nichts geworden und auch der „Staat des ganzen Volkes“, von dem die Marxisten-Leninisten so schwärmten, hat vor seinem Volk kapitulieren müssen – aber die Prognose, die Walter Ulbricht 1954 auf dem IV. Parteitag der SED verkündet hat, hat sich immerhin bestätigt: „Wir sind für die Einheit Deutschlands, weil die Deutschen im Westen unsere Brüder sind! Weil wir unser Vaterland lieben! Weil wir wissen, daß die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands eine unumstößliche, eine historische Gesetzmäßigkeit ist und daß jeder zugrunde gehen wird, der sich diesem Gesetz entgegenzustellen wagt!“ So ist es eben mit der Dialektik – sie geht ihren Verwaltern, den Parteikommunisten, erst über den Verstand und bricht ihnen dann das Kreuz. Und so wollen wir doch, bei aller Polemik gegen den „Anschluß“ und bei aller nur zu gut begründeten Abneigung gegen das im Anmarsch befindliche allerneueste Deutschland, nicht vergessen, daß Deutschlands Linke mitsamt ihrem „sozialistischen Staat“ nicht zuletzt deshalb schlagartig überflüssig geworden ist, weil sie zu den „Siegern der Geschichte“ gehört. Denn was waren die Ereignisse des Oktober 1989 anderes als ein leibhaftiger Volksaufstand, eine spontane Erhebung und veritable Revolution für ganz genau das „Recht auf nationale Selbstbestimmung“, das Deutschlands Linke jahrzehntelang, wenn auch für die Basken und die Palästinenser, eingeklagt hatte? Und was bewiesen die Leipziger Montagsdemonstrationen anderes als die Existenz jenes geheimnisvollen Zusammenhanges von „nationaler und sozialer Befreiung“, den Deutschlands Linke immer nur für Irland und die Westsahara gelten lassen wollte? Und was beweist es schon gegen die Richtigkeit dieser Diagnose, daß Deutschlands Linke, weil sie den irgendwie verdächtigen Völkern, den Tirolern, Schlesiern und so weiter, dies „Recht auf nationale Selbstbestimmung“ kurzerhand absprach, vom drohenden Untergang der Sowjetunion und ihrer bevorstehenden Auflösung in die souveränen Staaten der Georgier und Aserbaidschaner, der Litauer und
bald auch der Ukrainer, gänzlich überrascht wurde und noch immer wie bewußtlos ist?

So drückt die Feststellung, daß die Linke zu den Siegern gehört und darum abdanken kann, ein reales Paradox aus, den Widerspruch nämlich, daß ihr eigenes Dogma und Prinzip derVolkssouveränität, in dessen Namen sie dem bürgerlichen Staat wg. Flick und Konsorten das Recht bestreitet, „uns alle“ zu repräsentieren, auf der ganzen Linie gewonnen hat, während sie jedoch zugleich die reale Betätigung dieser Souveränität und die wirklichen Konsequenzen dieses Rechts auf „nationale Selbstbestimmung“ einigermaßen und ganz zu Recht abscheulich findet. Der Form halber hat die Linke gewonnen und im gleichen Moment wirklich verloren. So muß sie die Konsequenzen einer Entwicklung kritisieren und bekämpfen, deren Prämisse und Prinzip sie doch gleichwohl anzuerkennen gezwungen ist. Das bringt sie natürlich in eine einigermaßen haltlose Lage und in eine ziemlich hoffnungslose Situation, in das Dilemma nämlich, die SchönhuberPartei bekämpfen zu müssen, obwohl sich die Republikaner, wenn auch für Tirol, auf das ganz genau gleiche und identische Recht berufen.

Die schöne Parole „Nie wieder Deutschland“ erweist sich als ziemlich geschmäcklerisch im Munde von Leuten, die kaum eine Gelegenheit verpaßt haben, den „Sieg im Volkskrieg“ zu predigen oder vom „gerechten Kampf“ des kurdischen, persischen oder sonst eines Volkes zu schwärmen. Nichts anderes rächt sich hierin als der völlige Ausfall und die radikale Abwesenheit jener materialistischen Staatskritik, die aus der marxschen Kritik der – immerhin! – politischen Ökonomie zu entwickeln seit „’68“ allemal Zeit genug gewesen wäre. Und nicht zuletzt darin zeigt sich die geistige Subalternität der deutschen Linken im Verhältnis zum Staatskapitalismus und seiner objektiven Ideologie, dem Marxismus-Leninismus, daß sie dessen Machinationen von der „sozialistischen Anwendung des Wertgesetzes und der Ware-Geld-Beziehung“ und gar vom „sozialistischen Staat“ insgeheim anbetete. Sie agiert derart resolut antikapitalistisch, daß sie schon pro-etatistisch denkt, daß sie eine „Diktatur des Proletariats“ als die äußerste und geballte Form des politischen Willens gegen die Anarchie des Marktes setzen möchte, aber damit doch nur die Despotie der Fabrik auf die Gesellschaft ausdehnt. Der Staatskapitalismus im Osten war die bloß halbierte bürgerliche Gesellschaft, die Emanzipation von Fabrik und Kaserne zum gesamtgesellschaftlichen Herrschaftszusammenhang. Darin war er zugleich Staat, der seinem Begriff gerecht wurde, Herrschaft, deren Befehle galten. Und der Begriff des „Staates des ganzen Volkes“ besagt darin nur, daß der sozialistische Staat wie noch jeder Staat bestrebt und gezwungen ist, seine Untertanen zu homogenisieren, sie zum einheitlichen und nur so bearbeitbaren Material seiner Zwecke zu formen.

Der Staat ist ein Produktionsverhältnis, und das Volk ist sein Produkt. Volk ist das Resultat und das Gesamt all jener Praktiken der Zusammenfassung, Verdichtung und Organisation der Einzelnen zum quasi-organischen Zusammenhang, zur zweiten Natur, die der Staat verwaltet. Wer Volk sagt, meint Staat. Wer für die Volkssouveränität eintritt, redet der Zentralisierung des Willens in der Form der Politik das Wort und arbeitet, und sei es im formalen Widerspruch und Widerstand gegen die jeweilige Regierung, an der Transformation der Leute in Volksgenossen.

Man muß es zugeben: Der Zusammenbruch des Staatskapitalismus ist eine Befreiung, eine Befreiung von genau jener Staatsaktion der „sozialistischen Homogenisierung des Volkes zum klassenlosen Arbeitskörper“, von der Nicolae Ceaucescu, der proletarische Kaiser der Rumänen, immer so begeistert war. Aber die bevorstehende Wiedervereinigung vereinigt zugleich die westlichen mit den östlichen Praktiken der Homogenisierung, der Produktion nationaler Identität. Volk kann positiv gar nicht bestimmt werden, niemand, nicht einmal Weizsäcker, kann mit Anspruch auf allgemeine Geltung sagen, was das denn ist: deutsch. Das „Wesen“ der Menschen im Aggregatzustand des Volkes ist nur negativ bestimmbar, in Aggression und Kampf gegen die, die es garantiert nicht sind. Identität, zumal nationale, ist der Tod. Der Staatskapitalismus hat versucht, das Volk im Kampf gegen „den titoistischen Virus, das bürgerliche Gift, den trotzkistischen Krebs“ (Arthur Koestler), nicht zuletzt im Kampf gegen den „wurzellosen Kosmopolitismus“ zu einen und zu erschaffen. So wurde die realsozialistische Variante des Antisemitismus erfunden, der Antizionismus. Wie sagte doch der Ministerpräsident der DDR, Otto Grothewohl: „Der Kosmopolitismus, der gegen die nationale Souveränität der Völker polemisiert und das Nationalbewußtsein als eine überholte und unmoderne Gefühlsduselei abtut, redet einem wurzellosen Weltbürgertum das Wort.“ So hatte sich der sog. „marxistisch-leninistische Begriff der Nation“ glänzend darin bewährt, das Vokabular und die Intentionen des Antisemitismus für das allerneueste Deutschland aufzubewahren. Schon vor der Wiedervereinigung hatte derlei revolutionär sich gebärdender Antizionismus in der westdeutschen Linken sein treues Publikum und seine Zeitungen wie etwa Al Karamah aus Marburg, die sich dem Kampf der „arabischen Völker“ verschrieben hat, druckten die Proklamationen eines „Antizionistischen Komitees der sowjetischen Öffentlichkeit“, das sich mittlerweile als Vorläufer des großrussischen Nationalstalinismus der Gruppe „Pamjat“ enttarnt hat. Nun sind die deutschen Antizionisten nachgezogen: Während ihre Kollegen in Rußland unter der Parole „Zionismus = Rassismus = Faschismus“ am nächsten Pogrom arbeiten, widmet sich die deutsche Fraktion der Polemik gegen „die zionistische Auswanderung aus der Sowjetunion“ als Projekt der „Vertreibung und Vernichtung des palästinensischen Volkes“. Die einen vertreiben – die anderen wollen die Fluchtwege sperren.

Das geistige Erbe des Staatskapitalismus durch eine neue Aufklärung der Linken zu brechen – das scheint mir die wesentliche Intention der schönen Parole „Nie wieder Deutschland“ zu sein. Liest man sie materialistisch, dann besagt sie nichts anderes als die Absage nicht allein an Nationalismus, sondern an Nation nur überhaupt. Um zur Kritik des neuen Deutschland tauglich zu sein, muß sich die Linke von ihrem eigenen Nationalbewußtsein befreien, muß die fixe Idee abtun, am Gedanken der Nation ließe sich zu irgendwie progressiv gemeinten und humanistisch gedachten Zwecken anknüpfen.

Die Linke hat die Nation lange genug bloß interpretiert; es kommt aber darauf an, den Nationalstaat zu revolutionieren und zu liquidieren.

Wir danken der Initiative Sozialistisches Forum aus Freiburg für die Genehmigung zur Wiederveröffentlichung, verweisen Interessierte gerne auf deren üppiges Archiv und legen an dieser Stelle allen noch einmal das Buch von Joachim Bruhn ans Herz.

  • Anmerkungen (im Orginal):

1 Diese Rede sollte namens der ISF im Oktober 1991 auf der „Nie wieder Deutschland“-Demonstration in Frankfurt a.M. gehalten werden. Ein Studentenfunktionär der Linken Liste, der später postmodern mit der Zeitschrift „Die Beute. Politik und Verbrechen“ Aufsehen erregte, untersagte dies jedoch mit Argument, die Rede sei „spalterisch“ – was eben ihr Sinn war, denn von den 20.000 Demonstranten war mindest die Hälfte mit den Nationalwimpeln des „besseren Deutschland“ unterwegs.