Interview: Was bedeutet Eingedenken?

Wir haben im Februar mit Solarium (kommunistische Gruppe Bremen) über das von ihnen organisierte Eingedenken am 27.01. und ihre Kritik an der radikalen Linken gesprochen. Auf Grund einiger Vorfälle in Bremen haben wir das Interview erst jetzt veröffentlicht.

Ihr habt am Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz einen Spaziergang im Eingedenken an die Opfer des Nationalsozialismus veranstaltet und explizit deutlich gemacht, dass es ein kommunistisches Eingedenken ist. Was meint ihr damit?

Zunächst möchten wir uns klar von anderen Formen des Gedenkens abgrenzen. Wir finden, dass dies zu wenig innerhalb der radikalen Linken und im Besonderen in der antideutschen Szene passiert ist. Gerade in Deutschland, wo das Gedenken zur ideologischen Legitimation des staatlichen Handelns dient, muss man sich in fundamentale Opposition gegenüber jeder offiziellen Form des Gedenkens begeben, wenn man sich nicht von der staatstragenden Zivilgesellschaft der Berliner Republik vereinnahmen lassen möchte.

Wenn Sozialdemokrat*innen der Shoah gedenken und gleichzeitig alles dafür tun, dass der deutsche Außenhandel ungehindert mit dem iranischen Regime in Verhandlungen treten kann, können wir nicht gemeinsam mit solchen Sozialdemokrat*innen gedenken. Gleiches lässt sich über alle anderen deutschen Parteien sagen, die sich in der Regel nur in ihren Geschmacksrichtungen voneinander unterscheiden, dabei an erster Stelle die Handlungsfähigkeit der Berliner Republik im Sinn haben. Eine Ausnahme ist die AfD, die mit großer Mehrheit die Handlungsfähigkeit des deutschen Staates eben im Bruch mit dem Konsens der Berliner Republik sieht – wie wir auch schon im Zuge der Demonstrationen gegen den AfD-Parteitag in Braunschweig geschrieben haben.1

Das kommunistische Verhältnis zur Geschichte muss ein anderes sein, als das bürgerliche oder demokratische. Wie Walter Benjamin – von dem wir uns den Begriff des Eingedenkens geborgt haben – schreibt, zeichnet sich das Bürgerliche durch ein „Einfühlen in die Sieger“ (oder auch nur potenziellen Sieger) aus. Dadurch ist es notwendig instrumentell und trägt dazu bei, die Opfer ein zweites Mal zu erschlagen. Der zivilgesellschaftliche Antifaschismus, von dem sich linksradikale Gruppen unserer Meinung nach zu wenig distanzieren, ist dafür eine besonders exemplarische Veranstaltung.

Was ist euer Problem mit einem zivilgesellschaftlichen Antifaschismus?

Er verkennt, dass sich mit Geschichte nicht gegen die AfD und andere autoritäre Drecksäcke argumentieren lässt, ohne dabei Geschichte eine Teleologie unterzujubeln. Geschichte wird also nicht als bloßes Resultat menschlichen Handelns betrachtet, sondern es wird ein Sinn in ihr vermutet. Besonders krude dabei: Auschwitz, das die Notwendigkeit eines Einspruchs gegen den Glauben an einen vernünftigen Weltgeist deutlich macht, wird vereinnahmt für den Glauben an die Vernunft in den Verhältnissen. Auschwitz wird zur historischen Lektion – hegelianisch zu einer Stufe in der Entfaltung des absoluten Geistes – verklärt. Die postnazistische Gesellschaft der Bundesrepublik kann sich gegenüber den einstigen Opfern und Gegnern des Nationalsozialismus als fortschrittlicher darstellen, da sie dieser Logik nach eine wertvolle Lektion verpasst hätten – sich also auf einer niedrigeren Stufe derEntfaltung befinden.

Ein Beispiel ist das deutsche und österreichische Ressentiment gegenüber dem tschechoslowakischen Nationalismus.2 Gleiches gilt für Joschka Fischers Haltung zur Bombardierung Jugoslawiens, die er mit mit den Worten „Ich stehe auf zwei Grundsätzen, nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz (…)“ legitimierte. Der Deutsche Staat begründete mit der Geschichte eben jenes Nationalsozialismus eine Politik, die gegen einen Staat der Opfer des Nationalsozialismus gerichtet war. Das ist perfide.

Zuletzt hat die Tagesschau wieder bewiesen, dass diese Vorgehensweise häufig gegen Israel – welches im angeblichen Widerspruch zu Deutschland einem nationalen Egoismus folgen würde – in Stellung gebracht wird. Man ertappt sich dabei zu denken, dass die Tendenzen, die Eike Geisel bereits in den 90ern beobachtete, heute offener zu Tage treten, als man es damals für möglich halten konnte. Alle postnazistische Sublimierung des Antisemitismus wird fallengelassen, wenn man dem jüdischen Partikularismus vorwirft, sich nicht dem von Deutschland angestrebten Allgemeinen der durch das Völkerrecht bestimmten Weltgesellschaft zu unterwerfen. Dabei wird so getan, als hätte man die nationalen Eigeninteressen überwunden – oder hegelianisch durch Auschwitz aufgehoben – und verkörpere nun höchstselbst die staaten- und klassenlose Welt auf Basis der Staaten- und Klassengesellschaft. Die deutsche Nation denkt sich und ihre Europäische Union als post-national, was reine Ideologie ist. Wie immer werden die damit einhergehenden Widersprüche an den Jüdinnen, Juden und ihrem Staat ausagiert. Ob nun die Tagesschau oder Heiko Maaß mit seiner Iran-Sympathie, unterscheidet sich nur in Nuancen.

Von welchem angestrebten Allgemeinen sprecht ihr hier?

Vom deutschen Besonderen, das sich anschickt, das Allgemeine zu werden. Von der deutschen Vergesellschaftung, in der, wie Engels anmerkte, die Mittel zum Zweck geworden sind. Die Nation ist also nicht Mittel zur politischen Herrschaft und Antisemitismus ein eher im Unbewussten zu verortendes und nicht im Sinne eines instrumentellen arbeitermarxistischen Begriffes zu verstehendes Mittel zur Aufrechterhaltung der Nation, sondern reiner Selbstzweck.

Dieses Verhältnis von Zweck und Mittel zeigt sich auch in der Rolle, die das Individuum im Staat zugeschrieben bekommt. Während es im westlichen Staatsbegriff, beispielsweise nach Hobbes, ideologisch verzerrt darum geht, das Individuum zu schützen, und gleichzeitig das nie eingelöste Glücksversprechen für das Individuum artikuliert wird, wird im völkischen Staat das Individuum nur als ein ersetzbarer Teil des Volkskörpers gesehen. Die Ersetzbarkeit von Individuen unter dem Kapitalverhältnis wird im völkischen Staat affirmiert und als Ideal angestrebt. Dem Individuum wird Angst genommen, weil ihm Freiheit genommen wird. Nur konsequent mündet das in einer glorifizierten Opferbereitschaft und/oder einem Märtyrerkult, was sich sowohl mit Halbmond als auch mit Hakenkreuz artikulieren kann. Das Individuum erhält nicht als Einzelwesen Bedeutung, sondern als sich dem Zweck des nationalen Kollektivs unterordnendes Mittel.

Besonders deutlich wird das im Unterschied zum westlichen Staatsbegriff Israels, in dem der Schutz des Individuums an erster Stelle steht und alle vom Antisemitismus Bedrohten in ihm eine Zufluchtsstätte finden können. Etwas, das auf Grund der gegenwärtigen Vergesellschaftung als einzige mögliche Verteidigung, gegen die permanente Gefahr der völkischen Krisenlösung, gelten muss. Dies drückt sich nicht zuletzt in der Parole islamistischer Selbstmordattentäter*innen aus, die gegen Israel proklamieren: „Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod.“ Deswegen haben wir auf unserem Eingedenken und auf sämtlichen Demonstrationen die israelische Flagge getragen und werden es auch weiter tun. So wie wir situativ wie auf den letzten Metern beim Gedenkspaziergang immer auch die Fahne der alliierten Siegermächte und anderen Staaten tragen werden, die sich gegen das völkische und für die auf der Achtung des Individuums basierende Form der kapitalistischen Vergesellschaftung einsetzen. Um Manfred Dahlmann zu paraphrasieren: Wir sind uns unseres Kommunismus so sicher, dass es uns in keine Identitätskrise stürzen kann, wenn wir uns der Bedingung der Möglichkeit von kommunistischer Kritik bewusst werden.

Das erinnert ein bisschen an die Diskussion zwischen Ulrich Enderwitz und Gerhard Scheit über die Frage „Kann es einen Materialismus geben, der nicht antideutsch ist?“3 und an die Überlegungen der FightForFreedom-Gruppe oder Franz Neumann in der historischen Situation des Nationalsozialismus.4

Genau in dieser Tradition sehen wir uns als kommunistische Gruppe, die nicht in einen zynischen und objektivistischen Schematismus a là GegenStandPunkt verfallen will. Daran knüpft unser Eingedenken an.

Was heißt aber nun Eingedenken konkret?

Es ist der Versuch, dass die Opfer als Individuen und nicht als Kollektiv durch das Vergessen oder durch die Instrumentalisierung der Opfer der Geschichte, die, wie Geisel schreibt, als Erinnerung selbst ein Akt des Vergessens ist, nicht ein zweites Mal erschlagen werden. Wir fordern ihr Recht auf eine erlöste Zukunft für die gesamte Menschheit gegenüber der Geschichte ein. Eine erlöste Zukunft, das ist eine Zukunft, in der Staat und Kapital abgeschafft worden und nicht (negativ) in den Verhältnissen aufgehoben sind. Kurzum: Der Kommunismus liegt außerhalb der Geschichte und außerhalb der Politik.

Als Kommunist*innen stehen wir radikal gegen die Geschichte, die als Prozess nicht als Entfaltung der Vernunft sondern bloß als Formwandel der Knechtschaft verstanden werden muss. Eingedenken ist folglich immer gegen die Geschichte gerichtet. In ihr findet sich kein metaphysischer Budenzauber als Sinn, der durch Didaktik oder Wissenschaft oder revolutionäre Praxis freigelegt werden könnte. Sie ist als Ganzes das Unwahre, das einzig und allein in der messianischen und bestimmten Negation auf Erlösung verweist. Gegen sie ist unser Denken und Handeln ein einziges – wie Max Horkheimer es nennt – entfaltetes Existenzialurteil.

Und unser Vorwurf an die radikale Linke ist, dass sie genau diese Radikalität gegenüber der Geschichte (und auch der Politik) vermissen lassen; dass sie hoffen, eines Tages selbst die „Sieger der Geschichte“ zu sein, was sich auch in diesem irrsinnigen Bild vom Klassenkampf ausdrückt, das aktuell wieder aus der Mottenkiste der Geschichte gekramt wird.5 In Einbahnstraße hat Walter Benjamin dazu den Aphorismus Feuermelder veröffentlicht, in dem er anmerkt, das jenes Bild vom Klassenkampf den Eindruck erweckt, es gehe darum, einen Kampf heroisch zu gewinnen. Wohingegen gehe es doch darum, die Zündschnur auszumachen – an einer anderen Stelle schreibt er: die Notbremse zu ziehen –, ehe es zu spät sei und der bürgerlichen Gesellschaft die Selbstvernichtung gelänge, die sie von jeher anstrebte. Mit Selbstvernichtung meinen wir all jene nach Vernichtung strebenden Bewegungen, die aus dem Kapitalverhältnis heraus erwachsen: Seien es islamistische Attentäter*innen und ihre linksliberalen Liebhaber*innen, sei es ein offen nach rechts abdriftendes Bürgertum oder alternative Selbstmordsekten.

Ihr betont immer wieder, eure Kritik an der radikalen Linken sei, dass in dieser zu wenig Radikalität vorhanden wäre. Von linksaktionistischer Seite könnte da eingewandt werden, dass dies nur in der Reinheit der Theorie möglich wäre und nicht in der durch die gesellschaftlichen Widersprüche bestimmten Praxis. Sogenannte Linksantideutsche könnten anmerken, dass es keine richtige Praxis im Falschen gäbe.

Das klingt schon stark nach Leninismus und Unterwerfung unter die als Naturgewalt empfundenen politischen Verhältnisse. Selbstverständlich behaupten wir nicht, dass es den leuchtenden Pfad der reinen Lehre gibt und die radikale Linke uns auf diesem folgen muss. Wir wissen, dass es nicht möglich ist, die befreite Gesellschaft innerhalb der gegenwärtigen Zwangsverhältnisse vorweg zu nehmen, aber das ist noch lange kein Grund, sich diesen Verhältnissen zu unterwerfen, sich bereitwillig in eine politische Charaktermaske zu verwandeln, wie es unsere alten Genoss*innen aus der Linksjugend reihenweise machen.6 Am Ende spricht man dann nur als menschliche Manifestation einer Institution. Die eigene Existenz scheint nur deshalb zu existieren, weil das Wesen jener Institutionen erscheinen muss und man dazu eben menschliche Individuen braucht.

Wir sind uns bewusst, dass die Wahrscheinlichkeit des Scheiterns der eigenen Radikalität nicht gerade gering ist und diverse Spielarten der formalen Logik gegen unsere Vorstellungen von einer gerechten Einrichtung der Welt sprechen. Wir sind aber auch nicht Kommunist*innen geworden, weil uns der Kommunismus als besonders erfolgsversprechende Form erschien, den Lauf der Welt zu beeinflussen. Kommunismus ist für uns schlicht und ergreifend die einzige Art und Weise, wie die Welt so eingerichtet werden könnte, dass die Menschheit als Gattung und nicht als Anbeter*innen des automatischen Subjekts des Kapitals die Geschichte gestaltet.

Was versteht ihr dann als linksradikales Denken und Handeln? Wie betätigt ihr euch als Gruppe, wenn ihr nicht in bloßer Theorie versinken wollt?

Natürlich gibt es in der Welt von Staat und Kapital keine außerhalb von Staat und Kapital liegenden Formen, innerhalb derer wir uns betätigen könnten. Es gibt aber – und da sind wir wieder auf einer ähnlichen Ebene wie beim völkischen und westlichen Staat – Formen, die mehr oder weniger Nichtidentität zulassen, die es uns ermöglichen neben unserer Funktion als Charaktermaske noch ein Individuum zu sein. Parteien oder nach dem Vorbild von Parteien organisierte postautonome Strukturen sind definitiv keine Orte, an denen das abweichende Verhalten von Außenseiter*innen gern gesehen wird. Auch wenn sie selbst als Kollektiv von Außenseiter*innen angetreten sind, neigen sie dazu, ihre Identität in Krisenzeiten repressiv gegen innere und äußere Angriffe zu verteidigen. Im Grunde haben wir in der Linksjugend nichts anderes erlebt, als man mit aller Kraft versucht hat zu verhindern, dass eine explizit israelsolidarische Gruppe sich in den eigenen Reihen betätigt. So tolerant man gegen israelsolidarische Einzelpersonen mittlerweile sein mag, wenn sie sich organisieren, drohen sie zur Gefahr für die eigene Agenda zu werden. Es bleibt einem nur der Austritt oder die Selbstkritik im Stile eines Georg Lukács, in der die eigene Existenz nicht negiert, aber akzeptiert wird, dass sie sich hinter einer den Weltgeist verkörpernden Institution zu stellen hat.

Im Wahlkampf oder im Kampf um die Diskurshohheit und kulturelle Hegemonie oder sonstigen Formen linker Politiken besteht immer die Gefahr, dass man die eigene Hoffnung auf Erlösung an die Verhältnisse verkauft. Das wird oft in den Biographien rückblickend als notwendiger und heroischer Akt dargestellt, so wenn Joschka Fischer erklärt, er sei als Taxifahrer zum „Realo“ geworden. Wahrscheinlich glauben die Leute wirklich, dass das Opfern der jugendlichen Revolte auf dem Altar der Geschichte irgendeine notwendig zu erbringende Leistung wäre, anstatt der in dieser Vergesellschaftung notwendige Schritt zum Erwachsenwerden. Sie vergessen, dass das Streben nach Revolte durch die Jugend sublimiert werden soll und die eigentliche Revolte nur darin bestehen kann, dieser Utopie im Negativen noch die Treue zu halten und sich weder von der eigenen Ohnmacht, noch der Macht der anderen dumm machen zu lassen.

Und das heißt nun im Bezug auf linksradikale Praxis?

Die Trennung von Theorie und Praxis führt zu dem, was wir gerade skizziert haben. Die Theorie wird zum schwärmerischen Beiwerk, ist im Zweifel irrelevant und bloß als Zitatfundus von aktuell noch junggrünen Aktivist*innen und potenziell zukünftigen schweren Herzens Menschen abschiebenden Charaktermasken Verwendung findet. Das heißt weiter, dass es der radikalen Linken um eine Kritik gehen muss, die ihren Finger in die Wunden der Verhältnisse legt, die die Ideologien auf die notwendig ihnen innewohnenden Antinomien zuspitzt und versucht, den reibungslosen Fortlauf der Geschichte zu stören. Es geht um den Versuch einer Subversion der Gesellschaft, die sich den Mitteln, welche notwendigerweise von den herrschenden Verhältnissen gegeben sind, bedienen muss, aber nie die Überwindung jener Mittel vergessen darf. Eine Überwindung, die – und das zeigen der teleologische Leninismus und die aus diesem Geiste erwachsende Sowjetunion – nicht von allein geschieht, die nicht aus den Verhältnissen selbst heraus erreicht wird. Der Staat wird nicht von selbst absterben, nachdem man zu ihm ein instrumentelles Verhältnis entwickelt hat und ihn nicht mehr braucht. Das ist purer Idealismus, entbehrt jeder realen Grundlage und funktioniert nicht ohne Staatsfetischismus.

Der Staat als Mittel lässt in Kriegs- und Krisenzeiten keine Nichtidentität zu, das hat schon Hegel in der Rechtsphilosophie festgehalten. In ihm und mit ihm gibt es für Kommunist*innen nichts zu holen, es kann maximal Schlimmeres – hier sei noch einmal auf FightForFreedom und Franz Neumann erinnert – verhindert werden. Der Staat hält stets den Status quo von Staat und Kapital aufrecht. Das heißt jedoch nicht, dass es nicht Parlamentarier*innen und andere den Parteien und dem Staatsapparat nahe stehende Personen gibt, die eine Arbeit verrichten, vor der wir unseren Hut ziehen können, die im NSU-Untersuchungsausschuss oder bei einer von Parteien gestützten Recherchearbeit von neonazistischem Treiben oder durch eine politische Sabotage der deutsch-iranischen Außenhandelsbeziehung tätig sind. Es sind jene Personen, die immer wieder mit innerparteilichen Widerständen zu kämpfen haben, und niemals ihre Institutionen, vor denen wir unseren Hut ziehen.

Personen, die ja in der absoluten Unterzahl sind und anhand ihrer Taten anstelle von Worten zu messen sind. Man denke nur an Klaus Lederer oder Bodo Ramelow, die von allen israelsolidarischen Linksparteimitgliedern immer hochgehalten worden sind, sich dann aber trotzdem mit Jakob Augstein zum Gespräch trafen oder gegen eine Antifa-Demo wetterten, weil diese die schöne Harmonie im eigenen Land störte.

Antideutsch hieß für uns immer auch Nestbeschmutzer zu sein. Damit sind ja nie diejenigen gemeint, die das Nest tatsächlich beschmutzen, sondern die, die auf den Dreck unter der sauber polierten Oberfläche hinweisen. Das Nest ist das eigenene Land und die eigene Stadt, die eigene linksradikale Szene und eben das Label antideutsch. Und daran ist jede Kritik zu messen. Deshalb ist allen Linksradikalen fehlende Radikalität vorzuwerfen, wenn er oder sie bereitwillig Kompromisse für die Sache oder wie im Falle von den großen postautonomen Bündnissen für die bloße Masse eingeht. Natürlich basieren gewerkschaftliche Erfolge auf der mobilisierten Masse und natürlich ist jeder Erfolg in Sachen Arbeitnehmer*innennrechten erfreulich, aber man kann und darf auch nicht vergessen, inwieweit jener Erfolg zu einer Stabilisierung der Verhältnisse führt. Es geht nicht darum, das Elend als Bedingung der Kritik zu sehen, sondern darum, alles zu kritisieren, was dem schönen Leben entgegensteht und eben nicht aus taktischen Erwägungen irgendetwas von der Kritik auszunehmen.

Wohin das führt, wenn nicht mehr kritisiert wird und alle sich in ihrer Blase mit der von ihnen als erstrebenswert erachteten Hegemonie zurückziehen, kann man in der linksradikalen Begriffslosigkeit der Gegenwart gut erkennen, wo Individuen hinter durch Szenecodes kommunizierten Zugehörigkeiten verschwinden. Aus diesem Grunde ist es uns wichtig, den Gedenkspaziergang losgelöst von Organisationen zu betrachten. Es geht uns um den kategorischen Imperativ nach Auschwitz, der Kommunist*innen vom deutschen Mordkollektiv aufgezwungen wurde und weiterhin besteht: Nämlich dass Auschwitz nicht nicht einmal sei, dass nichts Ähnliches geschehe.

Danke für das Gespräch.

 1Solarium: Flugblatt zu Crash the Party: https://antideutschorg.wordpress.com/2019/11/28/flugblatt-zu-crash-the-party-afd-bundesparteitag-in-braunschweig/ 
2Siehe dazu den Audiomittschnitt des Vortrags von Florian Ruttner: https://ia601407.us.archive.org/8/items/florianruttnerwestlicherundvolkischerstaat/Florian%20Ruttner%20-%20westlicher%20und%20völkischer%20Staat.wav
3Vgl. Redaktion antideutsch.org: Kann es einen Materialismus geben, der nicht antideutsch ist?: https://antideutschorg.wordpress.com/2018/11/05/wertarbeit/
4Vgl.: Redaktion antideutsch.org: Verteidigung der falschen Freiheit: https://atomic-temporary-146385930.wpcomstaging.com/2019/01/06/verteidigung-der-falschen-freiheit-%ef%bb%bf/
5Vgl.: Solarium: Der Staat bist du! Charaktermasken abschminken!: https://antideutschorg.wordpress.com/2020/01/07/kapital-staat-ihre-fetische-und-dieses-deutsche-scheiszland/
6Die Gruppe Solarium ging aus dem gescheiterten Versuch, innerhalb der Linksjugend einen Landesarbeitskreis Shalom zu gründen, hervor.

Im Gespräch mit Florian Ruttner

Hallo, schön, dass Du die Zeit gefunden hast, im Vorfeld der Veranstaltungsreihe ein Interview zu führen.

In Deinem Buch betonst Du, dass Edvard Beneš oft als ein Deutschen hassender tschechischer Nationalist abgestempelt wird. Unter Anderem deshalb wird er kaum als Kritiker und Gegner des Nationalsozialismus wahrgenommen. Ist Dein Versuch seiner kritischen Würdigung auch im Sinne der benjaminschen Thesen Über den Begriff der Geschichte zu verstehen? Geht es Dir ebenfalls darum, dass die tschechoslowakischen Opfer des Nationalsozialismus durch die vergessende Gleichmacherei nicht „ein zweites Mal erschlagen werden“?

Ja, so kann man das ausdrücken. Es geht dabei auch praktisch vor allem darum, anhand der Rolle, die Beneš in der deutschen Erinnerung zugeschrieben wird, auf eine Tendenz derselben hinzuweisen, die im Zweiten Weltkrieg nur noch Opfer eines nicht näher definierten Nationalismus sieht, der ganz allgemein eine Verirrung des 20. Jahrhunderts gewesen sei. Die Deutschen als „Weltmeister der Vergangenheitsbewältigung“ hätten sich mit ihren Verfehlungen schon auseinandergesetzt, hätten ihre Lektion gelernt, jetzt wäre es an der Zeit, dass eben zum Beispiel die Tschechische Republik gleichziehe.

Vor diesem Hintergrund wollte ich zeigen, dass es sehr wohl Unterschiede im Verständnis von Staat und Nation gab, und dass gerade Beneš mit seiner Analyse des Nationalsozialismus dieser vereinfachten Sichtweise opponierte und darauf beharrte, dass die „Volksgemeinschaft“ mehr war eine bloße Propagandaphrase, sondern durch die massenhafte Identifikation der Bevölkerung mit dem Nationalsozialismus sehr real wurde. Beneš war es auch, der in Reden nach dem Zweiten Weltkrieg sehr früh genau vor den Versuchen einer „Wiedergutwerdung der Deutschen“ warnte. All das macht ihn natürlich zu einem Hassobjekt.

Die nationale Gleichmacherei, die du hier ansprichst, findet sich ja auch in linksradikalen Debatten, seitdem man sich weitestgehend vom klassischen Antiimperialismus verabschiedet hat. Besonders deutlich wird es beispielsweise dann, wenn beim GegenStandPunkt kein Blatt mehr zwischen die deutsche und die israelische Nation und ihrem angeblichen „Imperialismus“ zu passen scheint und jedes Streben nach Staatlichkeit – unabhängig der historischen Situation – als konterrevolutionär getadelt wird. Gerade die tschechoslowakische Situation rund um die beiden Weltkriege lässt sich so überhaupt nicht verstehen, oder?

Nein, auch das hat mit einem sehr schematischen Begriff von Nationalismus zu tun. Auch der Tschechoslowakischen Republik wurde seit ihrer Gründung „Imperialismus“ vorgeworfen, da sie angeblich das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ ignorieren würde.

Es stimmt natürlich, dass auch die Tschechoslowakische Republik, wie jeder andere Staat, ein durchs Gewaltmonopol abgesicherter Herrschaftszusammenhang war, und es wäre ebenso schematisch, die Welt einfach in „fortschrittliche Nationen“ und andere einzuteilen. Aber einer zentralen Strömung im tschechoslowaksichen Nationalismus, die eben von Tomáš Garrigue Masaryk, dem Staatsgründer, und Beneš vertreten wurde, war die Problematik zwischen Individuum und Staat zumindest bewusst, auch wenn sie sie natürlich nicht lösen konnten. Dieses Bewusstsein ermöglichte es ihnen aber, sehr deutlich zu sehen, dass es in dieser Hinsicht Schlimmeres als den bürgerlichen Staat geben kann. Hier kommt dann wieder Benešs Kritik am Nationalsozialismus ins Spiel.

Wie würdest Du, daran anknüpfend, den tschechischen Staatsbegriff in der gegenwärtigen Europapolitik einschätzen?

Ich bin mir nicht sicher, inwieweit sich aus den obigen Betrachtungen so einfach ein aktueller Bezug ableiten lässt. Immerhin entkam die tschechoslowakische Gesellschaft trotz der obengenannten Strömungen der verhängnisvollen Dynamik des 20. Jahrhunderts nicht: Nach dem Münchner Diktat wurde 1938 die durchaus autoritäre Zweite Republik gegründet, in der sich andere Strömungen des tschechischen Nationalismus durchsetzen konnten, danach wurden der faschistische slowakische Marionettenstaat und das Protektorat eingerichtet. Nach dem kurzen demokratischen Zwischenspiel 1945-1948 kam dann der Stalinismus. Das hat die Gesellschaft geprägt. Es gab zwar nach 1989 eine gewisse Renaissance der Ersten Republik, und es gibt heute eine gewisse Nostalgie dieser gegenüber, die Frage wäre aber, wie geschichtsmächtig das ist. Immerhin gab es die demokratische Erste Republik als historischen Orientierungspunkt nach 1989, anders als z. B. in Kroatien und in der Slowakei, wo ja nach die jeweiligen faschistischen Marionettenstaaten als historischer Referenzpunkt für die erste Eigenstaatlichkeit herangezogen wurden.

Aber über weite Strecken ist heute auch die Tschechische Republik ein Staat im deutsch dominierten Europa und damit umgehen muss. Dazu zählt auch, dass die Tschechische Republik Mitglied der Visegradgruppe ist, wenn sie auch sicher der liberalste Staat in dieser ist. Ein Erbe der Ersten Republik und Masaryks ist sicher noch, dass der Antisemitismus auf vergleichsweise niedrigem Niveau ist und dass es eine recht breite Sympathie für Israel gibt.

Eine wirklich abschließende Antwort kann ich, befürchte ich, auf die Frage nicht geben.

Du machst die Unterschiede im Staatsbegriff an der Rolle des Individuums fest und verweist auf die Sokol-Bewegung, die Du im Unterschied zu Turnvater Jahn und seinen Kameraden abgrenzt. Kannst Du ausführen, worum es Dir da geht?

Hier geht es wieder um den abstrakten Begriff des Nationalismus. Es ist mir immer sauer aufgestoßen, wenn ich in diversen deutschsprachigen historischen Abhandlungen die Parallelisierung gelesen habe, dass beide nationalistische Bewegungen eben ihre Turnerbünde gehabt hätten, ganz im Sinne der Erzählung, dass eben alle ihre nationalistischen Verirrungen gehabt hätten. Der Unterschied zwischen der völkischen Tradition, bei der das Kollektiv, und einer republikanischen, die sich – wie immer problematisch – auf das Individuum bezieht, geht dabei unter. Ganz plakativ lässt sich der Unterschied aber daran festmachen, wenn man sich die verschiedenen Turnhallen ansieht. Ich komme aus Oberösterreich, dort gab es in den 90ern eine Diskussion darüber, ob es denn nicht ein wenig problematisch wäre, dass an der Jahnturhalle in Ried im Innkreis vier „F“ (für das Motto der Jahnturner „Frisch, fromm, fröhlich, frei“) in Hakenkreuzform angeordnet prangten. Der Schmuck hielt sich gegen als Denkmalstürmer verunglimpfte Kritiker bis Anfang der 2000er. An vielen Sokolturnhallen hingegen ist das Motto der französischen Revolution zu finden: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Bei aller Kritik, die man auch an diesen Begriffen üben kann, macht das doch einen immensen Unterschied aus. Das Jahnsche Motto richtet das Individuum zu, es soll aktiv („frisch“), autoritätshörig („fromm“), kein sich Gedanken machender Sonderling („fröhlich“) sein. Von „frei“ bleibt dann wohl nur noch eine verinnerlichte Freiheit im gegebenen Rahmen übrig. Bei den republikanischen Werten steht die Freiheit nicht zufällig an erster Stelle, und sie verweisen mit der Gleichheit und der Brüderlichkeit auch auf eine gewisse Universalität. Auch allein dadurch, dass es sich nicht um Adjektive handelt, die eine bestimmte Vorstellung ausdrücken, wie der Einzelne sein soll, gewinnt das Individuum.

Die Gefolgsleute von Turnvater Jahn gingen in entschiedene Opposition zum sich langsam verbreitenden Fußball, der gerade bei der jüdischen Bohème, die vom Turnen ausgeschlossen wurde, sehr beliebt war. In der Ablehnung des Sports der Industrialisierung, der aus allen Feldspielern rechtlich gleichgestellte Individuen im Wettkampf macht – was laut Detlev Claussen den Juden im Kaiserreich als gelebte Utopie erscheinen musste –, findet sich das ideologische Moment des von Dir skizzierten völkischen Nationalismus wieder. Welches Verhältnis hatte die tschechische Sokol-Bewegung zum Fußball?

Ich bin jetzt kein Sportexperte, aber was ich davon weiß, war die Situation beim Sokol da doch zumindest ambivalenter: Einerseits dürfte es schon auch Vorbehalte gegen das Fußballspielen gegeben haben, andererseits wurde eines der ersten Regelbücher auf Tschechisch von Josef Klenka, einem Sokolfunktionär veröffentlicht. Es gibt auch Photos des jungen Beneš, die ihn im Fußballdress (Slavia Praha) zeigen.

Dann begeben wir uns besser wieder in ein Terrain auf dem du dich mehr zu Hause fühlst als beim Sport: Peter Hacks nimmt Turnvater Jahn als Vertreter der romantischen Strömung im deutschen Bürgertum wahr, die sich durchsetzte, die aber – wie Du in deiner Schlussbemerkung betonst – nicht die einzige war. Auf der anderen Seite steht die klassische Strömung, zu der Hacks neben Hegel und Goethe auch Jahns bonapartistischen Kontrahenten Saul Ascher zählt. Genau an diese Strömung versuchte Walter Benjamin mit seinem Werk Deutsche Menschen zu erinnern. Ist deren Scheitern der manifeste Beginn des deutschen Sonderwegs, an dem Beneš in seinen theoretischen Konzeptionen trotz seiner Begeisterung für die deutsche Philosophie festhält?

Es war auch für mich interessant, einmal einen genaueren Blick auf Ascher zu werfen, den man ja sonst wenn überhaupt deshalb kennt, weil sein Buch gegen die Germanomanie, wie er die frühe völkische Bewegung bezeichnete, beim Wartburgfest verbrannt wurde. Manche der in diesem Buch formulierten Gedanken haben auch heute noch Aktualität. Aber man muss vorsichtig sein, daraus nicht erst recht wieder ein „anderes Deutschland“ konstruieren zu wollen, was ja auch die Gefahr bei Benjamins Buch ist, das 1936 erschien.

Das zeigt sich auch in der Entwicklung Beneš, der ja zunächst auf dieses „andere Deutschland“ baut, dann aber im Exil sieht, dass selbst die böhmisch-deutschen Sozialdemokraten keineswegs so immun gegen völkische Gedanken sind, wie er angenommen hat.

Genau darin liegt dann ja auch die Grenze von Peter Hacks, der als DDR-Schriftsteller auf Ascher als Bezugspunkt für sein „anderes Deutschland“ nimmt. Wie entgeht man dieser Konstruktion, ohne die Opfer der Geschichte dem Vergessen anheim fallen zu lassen?

Da würde ich sagen, dass der Unterschied darin liegt, ob man darauf eine positive Identität bilden und eine Tradition gründen will, wozu Hacks als Vertreter des „anderen Deutschlands“ neigt. Dass alles hätte anders kommen können, dass die Geschichte offen war kann man doch auch zeigen, ohne das gleich wieder positiv zu wenden. Man muss sich ja nur vor Augen halten, wie es dann wirklich gekommen ist.

Jahn warf der (oftmals bonapartistischen) klassischen Strömung immer wieder vor, die eigene Nation an die fremde Herrschaft zu verraten. Ein Vorwurf, den auch die mit Beneš in Kontakt stehende Fight For Freedom-Gruppe regelmäßig von Seiten des sozialdemokratischen Exils zu hören bekam. Ist das Wohl der mythischen Nation über die eigenen (politischen) Überzeugung stellen nicht das treffendste Bild des völkisch-deutschen Nationalismus, der nie Parteien kannte?

Gerade die Geschichte der Mehrheit der böhmisch-deutschen Sozialdemokratie im Exil, die ich in dem Buch nachzeichne, ist genau dafür ein Beispiel: Sie konnte sich nicht dazu durchringen, sich eindeutig auf die Seite der Tschechoslowakischen Republik zu stellen, sondern sie wollte Gegenleistungen für die eigene Volksgruppe herausschlagen. Dafür wurde sogar das Münchner Diktat als Verhandlungsbasis herangezogen.

Die Minderheit der Sozialdemokratie, die sich recht deutlich gegen diese völkische Politik wandte, geriet dann nach 1945 fast in Vergessenheit, eine politische Karriere in der BRD machte Wenzel Jaksch, der Wortführer der Mehrheitsfraktion, auch, weil er es schaffte, sich als Vertreter eines „anderen Deutschlands“ darzustellen, der sich gegen den blinden Nationalismus (den von Beneš) stellte, sondern auch, weil er Beispiel eines deutschen Opfers fungieren konnte. Damit sind wir wieder bei dem Thema der ersten Frage angelangt.

Vielen Dank für Deine Zeit.

Florian Ruttner ist auf unsere Einladung Anfang Februar auf einer kleinen Vortragsreise:
05.02 – Bremen, Jugendhaus Buchte, 20 Uhr:  https://www.facebook.com/events/462006071419771/
06.02 – Hamburg, Studienbibliothek, 19 Uhr:  https://www.facebook.com/events/2712394825481187/
07.02 – Berlin, Loge (Friedrichshain), 19 Uhr:  https://www.facebook.com/events/2570104253266750/

Gespräch über wütend-sublimierende Kritik

Anlässlich der Wiederveröffentlichung der Doktorarbeit Wolfgang Pohrts im Rahmen der gesammelten Werke haben wir mit dem Mitherausgeber Arne Kellermann einige Gedanken und Diskussionen über die Theorie des Gebrauchswerts wieder aufgegriffen, die im Zuge seines kurzen Vortrags auf unserer Pohrt-Gedenkveranstaltung im April aufkamen. Im Vorfeld der Veranstaltung haben wir bereits mit Klaus Bittermann gesprochen. Ein Großteil des Abends – darunter die Vorträge von Arne Kellermann und Klaus Bittermann – wurde aufgezeichnet und veröffentlicht.

antideutsch.org: Du hast mit Klaus Bittermann den kürzlich erschienenen ersten Band der Pohrt-Werke herausgegeben. Auf dem von uns organisierten Abend im Gedenken an Wolfgang Pohrt hast du die Einleitung der 1976er Version vorgelesen – warum erschien Dir diese passender als die von 1995?

Arne Kellermann: Also: erstmal muss ich sagen, dass ich den Ausdruck „passender“ hier unpassend finde: Die Einleitung von 1976 ist in der Gegenwart nicht passender als die von 1995. Wie ich im Editorischen Nachwort für die jetzige Werkausgabe festgehalten habe: „So [wie 1976] war schon 1995 nicht mehr zu schreiben.“ Für Eure Veranstaltung jedoch hatte ich mich entschieden, die alte Einleitung vorzulesen, weil sie helfen kann, sowohl Pohrts Werk als auch unsere eigene Zeit zu begreifen. Pohrts Pointe war es hingegen nicht, die eigene Zeit bloß zu begreifen, sondern er kämpfte – vornehmlich durch seine Schriften – dafür, dass die Menschen ihre Zeit dazu nutzten, gesellschaftliche Befreiung zu verwirklichen. Heute scheint mir diese Perspektive unter dem Schrottberg neoliberaler Geo-Polit-Ökonomie vollkommen verschütt‘ gegangen zu sein. So schien es mir wichtig, die Einleitung von 1976 – also vom Anfang der neoliberalen Epoche – vorzutragen, weil Pohrt da noch anders gegen die kapitalistische Welt polemisiert hatte. In dem Text findet sich ein unnachahmlicher Gestus von „Empörung“ – das Wort kann man ja heute kaum noch gebrauchen –, der aber tatsächlich nicht auf bloßen Moralismus hinauslief, sondern auf die revolutionäre Veränderung der Welt.

Du sprichst hier wieder selbst den Neoliberalismus als Epoche an. Du hattest auf der Veranstaltung Pohrt den Revolutionär des Neoliberalismus genannt und jetzt redest Du wieder von der revolutionären Veränderung der Welt – die Bezeichnung fand ich damals interessant. Meinst Du aber nicht, dass Pohrt gerade im Angesicht der deutschen Bewegungen berechtigten Schrecken vor einer revolutionären hatte?

Klaus Bittermann sagte mir, dass Pohrt mit einer solchen Bezeichnung wohl nicht einverstanden gewesen wäre. Wenn ich aber eben schon gesagt hatte, dass mir die alte Einleitung so wichtig ist, um unsere Zeit zu begreifen, dann geht es mir bei der Bezeichnung nicht so sehr darum, Pohrt beim Buchstaben zu nehmen, sondern seine Stoßrichtung zu begreifen. Und dafür ist die Einleitung von 1976 äußerst hilfreich. Wenn ich sage, dass Pohrt der Revolutionär des Neoliberalismus war, dann meine ich ja nicht, dass er sich jeden Tag eine Barrikade gesucht hätte, sondern vor allem, dass der durchgehende Impuls seines Schreibens darauf ging, die Menschen noch vor sich erschrecken zu lassen, um ihnen – wie Marx sagt – Courage zu machen. Und zu diesem Zweck hat Pohrt sich nach der Theorie des Gebrauchswerts nicht mehr so sehr in die Theorie gestürzt, sondern politisch-kulturellen Phänomenen seiner Gegenwart zugewandt. In diese hat er auf unterschiedliche Art und Weise versucht, derart einzugreifen, dass es vielleicht doch noch einmal klappen könnte.

Auf unserer Veranstaltung wurden ja Texte aus dem gesamten Werk Pohrts vorgetragen, das von Klaus Bittermann in vier Phasen unterteilt wurde. Bestimmen die Phasen diese jeweils unterschiedliche Art und Weise?

Genau. So weit ich das beurteilen kann, ist Bittermanns Unterscheidung vollkommen richtig. Tragend für diese Veränderungen bleibt aber meines Erachtens der revolutionäre Impuls, der sich eben immer wieder an der Gegenwart abgearbeitet hat. Wenn ich vom Neoliberalismus spreche, dann darf man das ja auch nicht als vollkommen gleichförmige Epoche verstehen: Im Neoliberalismus gab es sehr wohl Veränderungen, deren immanenter Hässlichkeit Pohrt sich jeweils entgegengestellt hat. Dennoch kann man, denke ich, einen durchgängigen Zug seiner Texte ausmachen. Vielleicht kann ich das anhand des Anfangs unseres Gesprächs verdeutlichen: Pohrt hätte sich niemals einen solch miesen Kalauer wie das Unpassende des „passenden“ erlaubt; auch hätte er sich nicht eines altväterlichen „Also“ bedient. Der müde Witz produziert doch nur das Einverständnis mit der langweiligen Welt; das anmaßende „also“, was von alpha bis omega die Allwissenheit über die Buchstabenwelt suggeriert, indem es von ALLem her kommend, SO die Welt hinter sich zu wissen vorgibt. Das selbstherrliche Gefühl konformistischen Aufmuckens war doch gerade das, was die Welt im Kapitalismus gefangen hält. Wichtiger für das, was ich mit dem Revolutionär des Neoliberalismus meine, scheint mir aber noch ein dritter Punkt zu sein: Pohrt hatte sehr früh verstanden, dass sich der zurückgeschlagene Befreiungsimpuls von ’68 ein gemütlicheres Zuhause suchen würde. In der Einleitung von ’76 schreibt er etwa von der „Neuen Subjektivität“, die sich innerhalb der gegebenen Welt Autonomie vormachen will. Revolutionär war es im Neoliberalismus eben, solche Pseudoautonomie jeweils auf ihre materiellen Grundlagen zurück zu verweisen und den Pseudosubjektiven bissig ihre Selbstherrlichkeit um die Ohren zu hauen. Heute verliert man sich hingegen in solchen viertel-gebildeten Wurstigkeiten, wie etwa über das alpha und omega des „also“ zu schwadronieren.

Genug also von solch leerlaufender Selbstbezüglichkeit – das ist doch affig! Wolfgang Pohrt bemerkt im Vorwort der 1995er Einleitung („twenty years after“), dass das mit den Worten „dem akademischen Marxismus zum Gedächtnis“ vorangestellte Zitat mittlerweile obsolet sei. Diese Bemerkung erscheint sinnbildlich für den Unterschied zwischen 1995 und 1976. Aus heutiger Sicht muss man feststellen, dass der akademische Marxismus zurückgekommen ist – wenn er auch das revolutionäre Potenzial mittlerweile endgültig domestiziert hat. Welchen Beitrag kann die Wiederveröffentlichung (inklusive der vergleichenden Gegenüberstellung) zur heutigen Auseinandersetzung mit Marx leisten?

Erstmal muss ich Dir vollkommen Recht geben: es ist affig. Und ich denke, das gilt auch für nahezu all das postkulturelle Zeugs, das heute produziert wird und zu dem ich auch den (akademischen) Marxismus zählen würde. Kritische Theorie – von Marx, über Horkheimer und Adorno bis zu Pohrt – hatte ja immer versucht, die objektiven Möglichkeiten guten Lebens der jeweiligen Gegenwart mit dem zu konfrontieren, was deren Verwirklichung gewaltvoll und herrschaftlich den Weg abschnitt – und solchen Gegensatz eben bis in die Subjekte hinein zu verfolgen. Wie aber für jene neue Subjektivität gilt, dass sie ja nicht einfach das offen Inhumane angestrebt hatte, so sollte man wohl auch nicht allzu harsch mit dem akademischen Marxismus ins Gericht gehen: Teil der neuen Subjektivität war ja nicht nur, dass man sich in esoterischem Raunen verlor, sondern auch Kämpfe innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise geführt hat, die – wie die Frauenemanzipation, oder die relative Zurückdrängung von Homophobie und Xenophobie – Individuen ein glückenderes Leben beschert haben. Ebenso stimmt es, dass der akademische Marxismus die eine oder andere Pointe herausgestellt hat, inwiefern Marx wirklich immer schon Besseres meinte als den Stalinismus. Dass er auch zeigen konnte, wie provisorisch manche „Grundwahrheiten des Marxismus“ für Marx selber gewesen sind, ist nicht vollkommen bedeutungslos. Pohrt selbst hatte aber – auf der Veranstaltung in der Volksbühne 2012 – darauf hingewiesen, wie weit etwa die ansatzweise realisierte Frauenemanzipation vom Ziel einer Befreiung zur Menschheit entfernt blieb. Und damit traf er nicht nur das – trotz allem – Partikulare der seitherigen Befreiungsbewegungen, sondern auch, dass kaum noch etwas gedacht wird, was wirklich – marxistisch oder nicht – auf eine solche Befreiung zur Menschheit hinausdeutete. – Das Wort von der „Befreiung zur Menschheit“ kommt nun aber schon wieder von mir. Vielleicht darf ich das dafür nutzen, zu meiner Einschätzung über die Bedeutung der Neupublikation zu kommen.

Nur zu, wir bitten darum.

Zuerst einmal muss ich sagen, dass ich finde, dass die Frage nach der Bedeutung für eine „heutige Auseinandersetzung mit Marx“ schon an dem vorbei geht, was das Wichtige an Pohrts Schrift war: dass die Frage eigentlich selbst schon Richtung akademischer Marxismus geleitet. Kolja Lindner hatte zum Neuerscheinen der Theorie des Gebrauchswerts 1995 eine lange Rezension verfasst, die sich auch online findet. Dort kann man nachlesen und nachempfinden, was der kluge akademische Marxismus zu Pohrt zu sagen hätte: Einige Dinge (in Marx‘ Werk) hatte Pohrt nicht beachtet; einige andere Fluchtlinien der kapitalistischen Entwicklung hätte er anders fassen müssen etc. Ich habe die Rezension mit Gewinn und mit Ekel gelesen. Wenn Lindner etwa meint, dass Pohrt sich doch lieber Überlegungen hätte hingeben sollen, die seiner Zeit die Regulationstheorie hervorbrachte, dann muss ich sagen, dass es unser Glück ist, dass er es nicht getan hat: Die Frage danach, wie der Kapitalismus sich nun wieder reguliert, mag zwar zur Produktion traditioneller Theorie sinnvoll sein; wahr – im Sinne eines Widerspruchs gegen das Fortwähren gewaltgrundierter Unfreiheit – ist sie aber nicht. Zurück zum akademischen Marxismus von heute – um es knapp zu sagen: Der heutige akademische Marxismus wird sich mit Pohrts Schrift einfach gar nicht auseinandersetzen. Ob es ihm helfen würde, mag ich nicht zu sagen: Die Regalmeter Marx-Philologie von heute finde ich – nach dem, was ich davon kenne – zu uninteressant, um mich intensiver damit zu beschäftigen. Einzig interessant fände ich die Frage, wie uns die Wiederveröffentlichung für eine politisch-emanzipatorische Auseinandersetzung mit der Welt, in der wir (über)leben, helfen könnte.

Dass eine Auseinandersetzung mit Marx, die sich nicht mit der Welt auseinandersetzt, völlig an dem vorbei geht, was Kritik der politischen Ökonomie oder kritische Theorie intendiert haben – da sind wir voll bei dir. Es ist ja gerade die Krux an Marxismus und Marx-Philologie, dass die Abscheulichkeiten der Welt, in der wir leben, meist nur als Gegenstand erscheinen, auf den eine Methode angewendet wird. Stattdessen müsste ja jede Auseinandersetzung mit Marx sich an dessen kategorischen Imperativ – das Existenzialurteil von dem die kritische Theorie Horkheimers ausgeht – orientieren und auf radikale Abschaffung das unwahren Ganzen statt auf dessen Theoretisierbarkeit zielen. Du meinst also, dass die alte Einleitung genau in diesem Sinne interessant ist? Also sich von der Masse an akademischen Arbeiten über Marx darin unterscheidet, dass sie eben nicht nur von bloß historischem Interesse ist?

Ja, unbedingt. Aber das bedeutet eben auch, dass man sich mit der vorausgegangenen Geschichte der Gewalt auseinandersetzen muss. Wenn ich sage, dass Pohrt der Revolutionär des Neoliberalismus war, dann will das unter anderem darauf hinaus, dass wir nicht mehr im Neoliberalismus leben. Dieser endete 2007/08. Was in der Einleitung von 1976 deutlich wird, ist – ex negativo –, dass der Neoliberalismus wesentlich eine Epoche der Moralisierung und Kulturalisierung gesellschaftlicher Widersprüche war, die man sich leisten können musste. Und – zumindest im „Westen“ – auch konnte. Und das ist ein entscheidender Punkt, der etwas mit jener Geste der Empörung zu tun hatte: Die Leute, die sich heute auf Pohrts Theorie des Gebrauchswerts berufen, sind auch die Wortführer einer Denunziation moralischer Kritik am Kapitalismus. Frappierend war für mich bei meiner ersten Lektüre von Pohrts Buch, wie moralisch die Kritik grundiert war. Und das nicht im Sinne politizistischer Moral, sondern das Moment der Moral war selbst notwendig geworden, für eine revolutionäre Kritik am Kapitalismus. Wenn die sogenannten Antideutschen den Kapitalismus heute als geschlossenes System denken und sich dabei auf Pohrt beziehen, dann übersehen sie, dass die Systemhaftigkeit des Kapitals mit dem Beginn des Neoliberalismus gerade dadurch hergestellt wurde, dass die krassesten Verwüstungen dieser Produktionsweise ab 1970 vom Westen in die Welt geschickt wurden. Pohrt befand sich 1976 genau in dem historischen Moment, wo die vulgärste Verelendung Anderen überlassen wurde und die Zerstörung ferne Landstriche betraf. Aber das ist vielleicht noch nicht mal das Neue, auf das Pohrt insbesondere in jener Einleitung zielt: Er nimmt wahr, dass die Menschen anfangen, sich mit dieser Situation abzufinden und sogar Gefallen daran zu finden. Die vollkommene Immanenz des Kapitalismus im Westen gründete damals gerade darauf, dass die Brutalität des Kapitalismus „uns“ primär als moralisches und ästhetisches Problem entgegentrat: Die Verelendenden der (dritten) Welt waren dann doch bald zu weit weg und im sogenannten Systemkonflikt flüchtete man dann eben amoralisch in eine „neue Sensibilität“. 1976 heißt es dazu noch: „Wer vom Kapitalverhältnis, von den Formbestimmungen nicht reden mag, der soll auch über Bedürfnisse schweigen, und umgekehrt.“

Du sprichst hier den Moment der Kritik an der kapitalistischen Totalität an, in dem sie sich selbst im Systematischen (verliert) und den Einzelmenschen aus dem Blick verliert. Das haben ja bereits Jean Amery oder auch Paul Celan gegenüber Adorno angemerkt. Uns scheint es oft, als hätten die meisten, die sich heute als „antideutsch“ bezeichnen, Adornos Diktum „Wer denkt, ist nicht wütend“ einseitig und falsch dahingehend zum Dogma gemacht, dass sie der Wut auf die falsche Einrichtung der Welt jede Berichtigung nehmen, anstatt sie durch Sublimation als einen Motor der Kritik zu betrachten. Und das, obwohl diese Wut eigentlich sehr zentral ist bei Pohrt, Bruhn oder anderen, die als antideutsche Klassiker verstanden werden. Wobei die Kanonisierung als Klassiker, deren Erbe man verteidigen möchte – wie es unlängst von der Bahamas gegenüber dem ISF und der Sans Phrase versucht wurde – wahrscheinlich gerade das ist, was dazu geführt hat, diese Wut zu historisieren, zu domestizieren und schließlich aus dem eigenen Denken zu liquidieren.

Ja, und in gewissem Sinne zwingt uns Pohrt schon 1976 dazu, solche Tendenzen kapitalistischer Ideologie als das zu begreifen, was sie werden wollten: Die moralischen Implikationen fortwährender kapitalistischer Ausbeutung und Gewalt waren damals zentrales Moment von Pohrts Kritik an den Grundlagen des Kapitalismus seiner Epoche. Das deutlichste Beispiel, das ich gerne dafür heranziehe, bezieht sich auf die praktizierte Gedankenfreiheit der „sogenannten Creativen“. 1976 heißt es, dass auch ihnen noch „die Reflexion auf die gesellschaftliche Bestimmung ihrer Tätigkeit wie ihres Produkts verboten [sei]. Sonst würden sie kaum den sich allmählich zu Tode langweilenden Mittelstand mit Urbanität, Ästhetik, Kommunikation und anderen Spielarten der neuen Lebensqualität beglücken wollen, ihm auch keine Creativität und neue Sensibilität einreden, auf deren vermeintlichen Besitz er am Ende gar noch stolz ist, um sich desto behaglicher in seinem Alltag voller kleiner Schandtaten einzurichten, sondern sie würden ihm, wenn er weinerlich Isolation und mangelnde Kommunikation beklagt, Camus’ Losung »Solitaire? Solidaire!« unter die Nase reiben und ihm erklären, daß dies heute heißt, sich für die eigene Schuld am Schicksal der Verhungernden, Abgeschlachteten und zu Tode Gefolterten in der Dritten Welt etwas mehr als nur zu interessieren.“

1995 heißt es da nur noch: „Sonst würden sie kaum den sich krank langweilenden Mittelstand mit Urbanität, Ästhetik, Kommunikation und anderen Spielarten der neuen Lebensqualität beglücken wollen, ihm auch keine Kreativität und neue Sensibilität einreden, auf deren vermeintlichen Besitz er am Ende gar noch stolz ist, um sich desto behaglicher in seinem Alltag voller kleiner Schandtaten einzurichten, sondern sie würden ihn, wenn er Isolation und mangelnde Kommunikation beklagt, an Camus’ Losung »Solitaire? Solidaire!« erinnern.“ – aus dem Zu-Tode-Langweilen, ist die Krankheit erwachsen, in die sich die Westler mittlerweile geflüchtet haben; der Weinerlichkeit, der nur restrevolutionäre Hoffnung ihre Substanz absprechen kann, sollte noch etwas unter die Nase gerieben werden – eine Geste, die heute wohl nur noch als autoritär wahrgenommen würde. Entscheidend ist aber die Formulierung, dass man sich eben „etwas mehr als nur zu interessieren“ hätte. Pohrt bringt dies eloquent und treffend mit jener Langeweile – dem subjektiven Ausdruck der Zerstörung des Gebrauchswerts – zusammen. Aber gerade dafür war emanzipatorische Kritik des Kapitalismus daran gebunden, die Opfer jenseits des eigenen Nationalstaats auch – eben: mehr als – wahrzunehmen.

Das bringt uns zurück zu einer anderen Frage: An besagtem Abend ging es häufiger um das „revolutionäre Feuer“ beziehungsweise darum der „Utopie in der Negation die Treue zu halten“ und es wurde gefragt, wie viel davon im Spätwerk Pohrts noch zu finden sei. Dass die Erstveröffentlichung hoffte, ein schwelendes Feuer weiter anzufachen, wird im Rückblick, den Pohrt 1995 geworfen hatte, deutlich. Ist dir bekannt, wie er in den letzten Jahren seines Lebens auf den Sinn und Zweck der 1995er Ausgabe blickte; welches Verhältnis er darin zur Utopie und Revolution entwickelte? Welchen Sinn und Zweck würdest du ihr zuschreiben, welches Verhältnis zur Revolution und Utopie erblickst du darin?

In dem genannten „Editorischen Nachwort“ heißt es dazu knapp, dass Pohrt „Anfang 2000 das Interesse an dem Buch verlor“; dabei berufe ich mich auf eine Aussage von Klaus Bittermann. Selber kann ich dazu nicht viel mehr sagen, weil ich mit Pohrt über diese Dinge nie habe sprechen können. Zu seiner Perspektive auf Utopie und Revolution würde ich auf eines seiner letzten Bücher verweisen, wo er ungefähr schreibt, dass von Sozialismus erst wieder zu sprechen sein wird, wenn sich die Lebensbedingungen im Westen denen Ugandas angeglichen haben werden. Man könnte das resignativ nennen; meiner Meinung nach findet sich aber selbst hier – trotz einiger problematischer Aspekte von Pohrts späteren Schriften – noch jene revolutionäre Geste, von der ich sprach – wenn auch eben wieder in „aktualisierter“ Form: Die objektiven Fluchtlinien des Kapitalismus am Ende der neoliberalen Epoche werden gesehen und die potentiellen Leser mit ihrem Verhältnis dazu konfrontiert. Dass „wir“ es nicht darauf hinauslaufen lassen werden, dass sich der Kapitalismus bloß „gesetzmäßig“ realisieren wird, ermöglicht uns noch einmal davor zu erschrecken, wohin wir auf Reisen gehen werden – nicht zuletzt aufgrund unserer eigenen Barbarisierung. Das moralisch-Selbstherrliche unseres Weltverhältnisses, das wir uns in der neoliberalen Epoche antrainiert haben, schlägt uns Pohrt nunmehr aus der Hand, gerade indem er uns auf die Verhärtung stößt, die sich in dem sicheren Gefühl ausspricht, dass „der Westen“ und also wir jene Angleichung auf gar keinen Fall zulassen werden. Die Universalität der Moral, die 1976 noch offener Bezugspunkt der Polemik war, wird indirekt angespielt, wenn Pohrt uns noch die eigene Bereitschaft zum nächsten Schritt der Barbarisierung vorfühlen lässt.

Ein ähnlicher Punkt ist es auch, den ich an der Publikation der Einleitung von 1976 heute für bedeutsam halte: Durch ihre Lektüre kann man sich vors Denken führen, welche Schritte der Barbarisierung wir seither schon gegangen sind. Im Kontrast zwischen der Einleitung von 1976 und 1995 und deren Verhältnis zum Text selbst, lässt sich einerseits nachvollziehen, was die geo-polit-ökonomischen Grundlagen für die Entwicklungen nach 1975 gewesen sind und andererseits, wie sich die Affirmation der siegenden Ohnmacht im Westen in der Wunschlosigkeit der Leute hier niedergeschlagen hat. Utopisch – also ortlos – ist die Revolution ja geworden, weil die Wohlhabenden sie zu der Zeit, in der sie sie sich hätten leisten können, nicht gemacht haben. Was nun noch kommen kann, ist schwierig zu sagen: Die kapitalimmanente Standortkonkurrenz, in der der Westen zu verlieren beginnt, sowie die sukzessive Zerstörung von Überlebensgrundlagen scheinen da kaum Perspektiven zu lassen. Ich sagte vorhin, dass der Neoliberalismus nach 2007/08 endete; für die Gegenwart hätte ich keinen Namen anzubieten. Begrifflich – an Hegels Terminologie anschließend – würde ich sagen, dass die Barbarisierung, die sich in der neoliberalen Epoche an-sich durchgesetzt hat, nun zum für-sich wird; dass also die ganze implizite Barbarei, die Grundlage unseres Lebens gewesen ist, von nun an eben mit Bewusstsein durchgezogen wird – aus Barbarisierung entspringt eine Faschisierung und die Verschrottung Griechenlands nach 2010/11; die neuen „sicheren“ Drittstaaten; Trump; Orban usw. sind Phänomene dieser Entwicklung.

Mh, solch rosige Ausblicke – über deren korrekte Begriffe man wahrscheinlich an anderer Stelle noch einmal ausgiebiger diskutieren müsste1 – bringen uns zu einer letzten Frage: Du hattest damals kurz angemerkt, dass Pohrts Arbeit für dich selbst zu einer Flaschenpost wurde. Kannst du das weiter ausführen?

Ebenso: „Mh!“ – einiges davon habe ich ja bereits angedeutet. Neben dem Gesagten und dem Punkt, dass es tatsächlich befreiend ist, unbefangene und sprachlich gelingende Kritik am Bestehenden zu lesen, würde ich sagen, dass er mir durch seine Schriften gezeigt hat, dass man nicht nur – wie Adorno schreibt – „weder von der Macht der anderen, noch von der eigenen Ohnmacht sich dumm machen“ lassen, sondern auch trotz der eigenen Idiotie und der Dummdreistigkeit der Herrschaft nicht sich kalt machen lassen darf. Und das gilt auch wortwörtlich: Ein – sozusagen empirischer – Hinweis darauf, dass die neoliberale Epoche 2008 vorbei gegangen ist, findet sich in den Selbstmordstatistiken der USA: Während der neoliberalen Epoche hatte sich die Selbstmordrate auf einem Niveau eingepegelt, das unter dem Höhepunkt um 1970 lag; seit 2006/07 steigt die Rate wieder drastisch an. Bedenkt man dann noch die Menschen, deren Tod unter „death of despair“ rubriziert wird – also die am verzweifelten Drogenkonsum Verreckten –, dann wird deutlich, wie die eigene Ohnmacht gegenüber den Herrschaftsverhältnissen sich ins Subjekt verlagert hat: Die hier einst relativ stillgestellten Widersprüche brechen sich nun neue Bahnen. Um das zu begreifen ist es aber auch sinnvoll, die Idiotie beim Wort zu nehmen: Im antiken Griechenland hatte das Wort idiōtēs eine bloß deskriptive Bedeutung: Idioten waren die, welche vom politischen Leben der Polis ausgeschlossen waren, also vornehmlich Kinder, Frauen und Sklaven. Die Dummheit, von der Adorno sprach, hat sich im Neoliberalismus zum gesellschafts-politischen a priori verallgemeinert: Der Nationalstaatsbürger ab den 70er Jahren war ja gerade der, der sein politisches Leben maximal noch im politischen Rahmen des Nationalstaats geführt hat – und das genau zu dem Zeitpunkt, in dem der Stoffwechsel mit der Natur sich real globalisierte. Im Widerspruch zu dieser objektiven Bornierung hatte Pohrt ’76 gegen die Speerspitze solcher Idiotisierung – eben jene Arbeit der Kreativen – polemisiert. 1995 war solche strukturelle Entpolitisierung scheinbar unhinterfragbar geworden – so haben es etwa die Gewerkschaften selbst im EU-Raum nicht geschafft, sich auf der übernationalen Ebene kapitalistischer Ausbeutung neu zu formieren. Keine Frage, dass sich die Gewerkschaften nach dem Zweiten Weltkrieg schon zu einer staatserhaltenden Institution gemausert hatten; aber dass selbst noch dieser partikularen Interessenvertretung der Lohnabhängigen der Boden wegbrach, machte die Abwendung von einer materiellen Welt, über die man ohnehin nichts Relevantes vermochte, noch verführerischer.2

In einem seiner letzten Bücher schreibt Pohrt dann nüchtern, dass das Schreckwort Globalisierung erstmal bedeute, dass aus Dritte-Welt-Ländern Konkurrenten geworden sind. Bis 2007/08 hatten es die Nationalstaatsbürger im Westen geschafft, aufgrund ihrer Herrschafts- und Ausbeutungsgeschichte, den daraus erwachsenen Produktivkraftvorteilen sowie durch bloße Gewaltdrohung und -anwendung ihre Pfründe zu sichern. Dass „wir“ langsam den Zugriff auf die Überlebensmittel verlieren, treibt die Leute nun in den Wahnsinn: Abgeschnitten von den geo-polit-ökonomischen Grundlagen dieser Dynamik, halten sich die angehenden Faschisten wahnhaft an die politische Form des Nationalstaats, der ihnen einst real ökonomische Sicherheit gewährte, und reden dabei von „unseren Werten“. Die nicht schon vollkommen Einverstandenen hingegen tendieren gerade aufgrund ihrer objektiven Idiotie zur Aggression gegen das Einzige, worüber sie noch etwas vermögen: sich selbst. Die übermächtige Vereisung emanzipatorischer Impulse drängt zu einer kalten Brutalität nach Außen und nach Innen; dank der – wie Du zu Recht betont hast – wütend-sublimierenden Kritik Pohrts an der damaligen Modernisierung der Herrschaft, ließe sich hingegen der mit der objektiven Idiotisierung einsickernden Kälte die Frage nach heutiger Befreiung entgegen halten.

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1Ein Text zu diesem Thema erscheint wahrscheinlich in der nächsten Ausgabe des Distanz Magazins.
2Arne Kellermann bat uns im Nachhinein an dieser Stelle auf einen Artikel von Theodora Becker und ihm zum Thema der Gewerkschaftspolitik hinzuweisen, weil ihm die Ausführungen zur Dynamik der Gewerkschaften zu kurz geraten schienen. – Diesem Wunsch geben wir gerne nach: https://jungle.world/artikel/2018/01/reichtum-angst