Heldendichtung

Zum Basiswissen einer marxistischen Charaktermaskenkunde gehört, dass politische und ökonomische Krisen jeweils mit den für ihre Zeit spezifischen Akteuren daher kommen. Es verwundert deshalb nicht, wenn Verfechter dieser Charaktermaskenkunde sich nicht einfach aus der Ruhe bringen lassen und daher glauben, mit klarem Kopf das vor ihnen liegende Phänomen sezieren zu können. Wer Beispiele sucht, wird auf den – oft ästhetisch weniger ansehnlichen – Covern einer beliebigen Ausgabe einer beliebigen linksradikalen Theoriezeitschrift fündig werden.

Gegen dieses Ruhigbleiben ist trotz aller Liebe für aufständische Unruhen und spontan-ausbrechende Revolte auch erst einmal nichts einzuwenden. Sicherlich wirken die Texte oft distanziert und vom eigentlich behandelten Ereignis entfremdet, wenn die Wut bis zur Unkenntlichkeit sublimiert wurde. Garantiert macht es die meisten Zeitschriften weniger lesenswert, weswegen nur glühende Anhänger mehr als ein paar Ausgaben ernsthaft verfolgen. Jedoch ermöglicht diese Ruhe ein Krisenphänomen, wie das des Edgelords, unaufgeregt zu betrachten.

Wenn also Ulf Poschardt, seines Zeichens Häuptling aller prätentiöser Poser von der Nordsee bis zu den Alpen und nebenberuflich als Chefredakteur der Welt angestellt, einen Text über den 2010 verstorbenen marxistischen Theoretiker Karl Held schreibt, dann ist es durchaus angebracht zu fragen: Welches Interesse hat der werte Herr Chefredakteur solch einen Text zu veröffentlichen?

Allgemein kann man davon ausgehen, dass das Interesse der meisten in der postmodernen Medienproduktion darin besteht, die ihnen eigene Ware Arbeitskraft samt ihres popkulturellen Überbaus – die eigene Marke – gewinnbringend zu veräußern. Kurz: sie denken klassisch-bourgeois an erster Stelle an sich selbst. Wenn also in meinungsstarken Texten historische Anekdoten ausgegraben werden, dient dies in erster Linie dazu sich selbst mit gewichtigen Tant zu behängen: „Die Beute wird, wie das immer so üblich war, im Triumphzug mitgeführt“, wusste schon Walter Benjamin.

Wenn Ulf Poschardt über Karl Held schreibt, dann nicht, weil er seinen Lesern diesen linken Theoretiker näher bringen will und auch nicht um mit dessen Hilfe dogmatische Marxisten als Leser zu gewinnen – wer von denen hätte überhaupt ein Welt Plus Abo, um den Text lesen zu können? Ihm geht es darum sich selbst in – oder besser noch: als – Held zu sehen, dessen Vornamen er deshalb im Artikel auch für bürgerlich und obsolet erklärt. Um gar keinen Zweifel zu lassen endsubstantiviert er dessen Nachnamen im Weiteren und macht ihn zu jemanden der „heldet“, was das Nacheifern sicherlich erleichtert.

Held ist man, – wenn man den Text destilliert, dadurch, dass man auch auf „sprachlicher Ebene Dissidenz“ vollzieht und sich nicht gemein macht mit einem Zeitgeist, den Poschardt schon oft genug als woke umschrieben hat. Nur logisch, dass Held sich der „Kathederhaftigkeit“ des Hochdeutschen verweigert – während genau jenes, wie Klaus Bittermann in einer Antwort schreibt, eine Emanzipation aus dem Provinziellen versprechen könnte. Mit jeder Faser ist Held von der Gesellschaft abgekehrt, mit jeder Geste wird diese Distanz betont. Man muss nicht mal Nietzsche gelesen haben, um hier an seinen Übermenschen denken zu müssen. Denn Held sein heißt auch dann ruhig zu bleiben, wenn das Publikum wie auf dem Konkret Kongress 1993 lauthals buht. Es heißt stärker zu sein als die Anderen, weswegen ihn Poschardt sicherheitshalber zum Nihilisten im Stile eines Jewgeni Basarow macht.

Dezent unter den Tisch fällt bei ihm, dass Held nicht alleine gegen ominöse Andere stand, sondern sich immer als Teil der Marxistischen Gruppe (MG) verstand und in deren Marxistischer Streit- und Zeitschrift (MSZ) nicht als eigenständiger Autor genannt wurde. Wenn Poschardt also die MG zum bloßen Anhängsel von Held erklärt, liegt der Verdacht nahe, dass der Chefredakteur hier vor allem über sich und das von ihm gedachte Verhältnis zu seiner Zeitung schreibt. Dementsprechend war das Scheitern von MG und MSZ, die sich 1991 auflösten, für den 55jährigen Kreuzfahrer gegen die Wokeness keine Reaktion auf die verstärkt einsetzende Repression gegen die Organisation, sondern Teil der Idee. Der schon seit der Gründung 1971 an den Tag gelegte Verzicht auf realpolitischen Ehrgeiz deutet er dementsprechend als Konzeptkunst. Wer einmal auf einer Veranstaltung des MSZ-Nachfolgers Gegenstandpunkt war, kann dieser Deutung nur schwer widersprechen; wer Poschardts Onlineauftreten verfolgt, kann auch diesen kaum anders begreifen.

An dieser Stelle ist der Punkt erreicht, wo die marxistische Charaktermaskenkunde an eine Grenze gerät und die Frage nach dem Interesse kaum weiter hilft. Es ist jene Grenze, über die Held auf dem Konkret Kongress 1993 mit Wolfgang Pohrt und Hermann Gremliza stritt; jener Moment, in dem „die Psychologie des bürgerlichen Individuums“ nur noch durch die Massenpsychologie Sigmund Freuds verstanden werden kann. Wenn die Selbsterhaltung aufgegeben wird und aus Bürgern und Arbeiter nur noch Volksgenossen werden, dann gelangt der Marxismus seit 1938 immer wieder an diese unüberwindbare Hürde.

Besonders hebt Poschardt in seinem Artikel hervor, dass für Held all die mit der Wiedervereinigung einhergehende Gewalt gegen Migranten nur eine Fußnote des deutschen Imperialismus sei. In dieser Projektion verstecken sich zwei verschiedene Zeitebenen, die zusammen gedacht werden, aber nicht gehören. Während der Chefredakteur der Welt nicht müde wird der gegenwärtigen antirassistischen Bewegung vorzuwerfen nur ihr eigenen Befindlichkeiten im Sinn zu haben, richtete sich Held dagegen explizit gegen eine im Entstehen begriffene antideutsche Bewegung. Beides wird wiederum von Poschardt in einer Traditionslinie gesehen, weswegen er auch Wolfgang Pohrt und die Antideutschen als Superlinken und Ursprung der Identitätspolitik stilisiert.

Dieses nicht gerade originelle Feindbild hat sich der fränkische Dünnbrettbohrer aus den USA entliehen. Seit Jahrzehnten hetzen evangelikale Rechte gegen den so genannten Kulturmarxismus, wo so unterschiedliche Theoretiker wie Theodor W. Adorno und Judith Butler in eins fallen und an eine von langer Hand geplante Zersetzung des christlichen Zusammenlebens geglaubt wird. Dabei handelt es sich um ein antisemitisches und rassistisches Feindbild, welches auf Authentizität baut, die, gerade weil es sie in der Kulturindustrie nicht geben kann, mit Gewalt wahr gemacht werden muss.

In der MSZ stand Anfang der 1990er schon jede individuelle Leiderfahrung delegitimierend und an die Antideutschen adressiert, dass der nationale Taumel bloß für die „Manövriermasse deutscher Macht mit viel Menschelei zum Unterhaltungsgenuss aufbereitet worden“ sei; bloß ein Teil der „Grundlüge des Nationalismus“, welches den imperialistischen Anspruch auf das Staatsvolk zu einem Recht des Menschen macht, aber ohne wirklich reale politische Relevanz. Kein „altbekanntes faschistisches Kriegsprogramm nach außen und mörderisches Säuberungsprogramm nach innen“ ließen sich ausmachen. Anders lautende Analyse der sich angeblich anbahnenden Manifestation des neuen Deutschlands „fallen allerdings ganz unökonomisch aus.“

Es ist diese rational daherkommende Gleichgültigkeit, in der sich Poschardt wiederfindet, um jede Wut gegen die Zustände in diesem Land als obsolet und moralisch zu verwerfen. Dem Fühlen selbst wird der Kampf angesagt und nicht der geistigen Überhöhung des Fühlens. Dass MG und MSZ nach dem Scheitern der Studentenrevolte genau jenem entmenschlichenden Denken auf den Leim gingen, dass das Kapitalverhältnis jedem Politikern aufzwingt, gehört zur linken Tragödie des zwanzigsten Jahrhunderts. Dass Ulf Poschardt feuilletonistisch das kollektive Leiden individualisiert, wiederum zum faschistischen Programm des 21. Jahrhunderts.

Und während immer noch große Teile der Linken denken, dass die Begriffe des Marxismus – wie Klasse oder Imperialismus beziehungsweise Diktatur des Proletariats – unbeschadet aus der ersten Verdichtung hervor gegangen sind, verdichtet das „neoliberale Twitter-Rumpelstilzchen“ im Stile des 20. Jahrhunderts den Marxismus erneut zum antibürgerlichen Ressentiment. Beide tun so, als hätte sich die deutsche Volksgemeinschaft in den entscheidenden Phasen der Moderne nicht immer als blutrünstige Beutegemeinschaft konstituiert, wenn auch jeweils mit anderen Absichten.

Interessanterweise sind es aber die zum Feindbild aufgeladenen Antideutschen, die die Einfachheit des Antiimperialismus und des Klassenkampfes zu Nichte machen beziehungsweise die Liebe zur deutschen Kulturnation denunzieren. Auf dem Konkret-Kongress 1993 erinnerte ein Gast genau daran: „Dass ihr nie darüber diskutieren wollt, dass dieses Land das Land nach Auschwitz ist; dass dieses Land das Land von Auschwitz ist; dass diese Täter […] Brandsätze bei Nacht und Nebel werfen, weil sie über Gaskammern und Zyklon B noch nicht verfügen, weil aber Gaskammern und Zyklon B genau das sind, was in ihren dumpfen Köpfen umgeht. Darüber könnt ihr nicht Reden, weil ihr selber zu bescheuert seid.“

Redebeitrag vom 27.01.2022

Heute vor 77 Jahren befreiten Rotarmisten der ersten ukrainischen Front unter dem jüdischen Kommandanten Anatoli Schapiro das Konzentrationslager Auschwitz in der heute polnischen Stadt Ośwęicim (Oschwejsim). Heute steht der Name Auschwitz synonym für den industriellen Massenmord an den europäischen Jüdinnen und Juden. Das Eingedenken an die Opfer verpflichtet zu dem kategorischen Imperativ, „dass Auschwitz nicht noch einmal sei, dass nichts Ähnliches geschehe.“ Dieser Imperativ setzt voraus, die historischen Umstände als die Bedingung der Möglichkeit des Geschehenen zu verstehen und ihre Überwindung anzustreben. Es geht hier und heute nicht um den Versuch, das Leid der Opfer nachzuvollziehen oder sich gar mit ihnen zu identifizieren. Es geht darum, die Verhältnisse, die dieses Leid ermöglichten, im Eingedenken der Opfer zu denunzieren. Namentlich sind und waren diese Verhältnisse: Kapital, Staat und explizit der deutsche Staat.

Wer behauptet, das Grauen der Shoah habe sich gegen den Zeitgeist und gegen den Lauf des aufgeklärten Weltgeschehens gerichtet, liegt falsch. Es war die bis zur totalen Verwaltung aufgeklärte Welt, die die Shoah erst möglich machte. Die aufklärerische Rationalisierung realisierte nicht nur den industriellen Fortschritt, ohne den die Mordfabriken des Nationalsozialismus nicht denkbar wären. Sie schuf auch die Grundlage einer Kategorisierung der Welt und der sie bevölkernden Menschen, die ihren barbarischen Höhepunkt in den zu Nummern degradierten Insass:innen der deutschen Lager fand. Dem sich als Revolte gegen die Moderne äußernden Nationalsozialismus lag dabei insbesondere das Ressentiment gegen die kapitalistische Moderne in Gestalt des Antisemitismus zugrunde. Die antisemitische Weltanschauung entspringt aus dem Kapitalverhältnis und bestimmt die Jüdinnen und Juden zum absoluten Objekt. Gegenüber der offen zu Tage tretenden Unvernunft, der Unterteilung in Herrschende und Beherrschte wird der Antisemitismus zum Kitt, weil er scheinbar die Einheit der Gesellschaft von Staat und Kapital garantiert. Jüdinnen und Juden wird die Verantwortung für das Elend in der Gesellschaft angelastet. Antisemitismus zeigt sich als Weltanschauung.

Zwar ist Antisemitismus Teil der allgegenwärtigen Totalität des Kapitals, doch es war die historisch besondere deutsche Konstellation, in der es zum industriellen Massenmord kam. Warum ist der Tod also ein Meister aus Deutschland? Was unterscheidet die Nation der Täter:innen von den Alliierten, was die völkischen von den westlichen Staaten? Während sich die westlichen Staaten auf das Aufbegehren der Bevölkerung gegen die Feudalherrschaft berufen, beruft sich der deutsche Nationalmythos auf das Aufbegehren für die Feudalherrschaft und gegen die napoleonische Fremdherrschaft. Dieses Aufbegehren wurde als Grund für die sogenannten „Befreiungskriege“ im 19. Jahrhundert betrachtet. Als Befreiung wird nicht etwa die Befreiung des Individuums vom Zwang wahrgenommen, sondern die Befreiung des Volkes von der Fremdherrschaft. In diesem Mythos wird das Individuum dem Volkskörper geopfert, anstatt dass sich die Staatsbevölkerung durch das individuelle Aufbegehren konstituiert. Dadurch werden die Mittel zum Zweck: Die Nation ist nicht länger Mittel zur politischen Herrschaft und Antisemitismus nicht länger Mittel zur nationalen Stabilisierung. Stattdessen werden beide zum eigentlichen Ziel ihrer selbst.

Die Last des historisch singulären Verbrechens der Deutschen – sprich: die Shoah – ist heute vom Rechtsnachfolger des NS-Regimes längst umgedeutet worden und wird mit Verweis auf die besondere historische Verantwortung und die weltweit unerreichte Aufarbeitung und Erinnerungskultur allen Ernstes zur Demonstration einer moralischen Überlegenheit instrumentalisiert. Das post-nazistische Deutschland beansprucht nicht trotz, sondern wegen Auschwitz erneut eine Rolle in der Weltpolitik und jede Israelsolidarität, die sich nicht als radikale Ablehnung des Staates von Auschwitz artikuliert, trägt ihren Teil zu dieser Rolle bei. Das deutsche Gedenken ist ein Selbstzweck, dem niemals Taten folgten. Auch wenn das Ticket und der Jargon andere Absichten vermuten lassen, bleibt das Streben nach einer Welt ohne Antisemitismus Selbstbetrug oder Manipulation, wenn es einen Kompromiss mit dem Staat eingeht oder ihn als Mittel zur Durchsetzung vorsieht.

Das geläuterte und wiedergutgewordene Deutschland und seine außenpolitische Selbstwahrnehmung als Export- und Erinnerungsweltmeister wird dabei idealtypisch verkörpert von seinem ehemaligen Außenminister, der nach eigenem Bekunden wegen Auschwitz in die Politik ging, um dann als Außenminister genau jenes iranische Regime zu hofieren und tatkräftig zu unterstützen, das keinen Hehl aus seinem Bedürfnis der atomaren Zerstörung Israels macht und offen die Vernichtung der 9 Millionen Einwohner:innen des jüdischen Staates propagiert. Doch über derlei Ambivalenzen und Meinungsverschiedenheiten zwischen Berlin und Jerusalem sollte man doch zumindest auf Augenhöhe und ergebnisoffen diskutieren können. Unter Freund:innen kann man sich auch darauf aufmerksam machen, dass man – auf Grund der gemeinsamen Geschichte – eine gemeinsame Verantwortung bezüglich der Erinnerung hat und keiner diese Erinnerung für „nationalen Egoismus“ missbrauchen sollte, wie die Tagesschau absurderweise festhielt. Dabei gerät leicht in Vergessenheit, dass in der gemeinsamen Geschichte der eine Staat genau diejenigen industriell vernichten wollte – und es beinahe geschafft hat – die der andere Staat heute beschützen will. Genauso wird ausgeblendet, dass Israel nur eine einzige Handlungsmöglichkeit gegenüber dem Iran hat, will es dieses Schutzversprechen gegenüber seiner Bevölkerung einhalten. Die Selbstverteidigung mit allen notwendigen Mitteln ist für Israel und seine jüdische Bevölkerung die einzige Möglichkeit zu existieren.

Der Versuch zwischen ehrbarem Antizionismus und bösem Antisemitismus zu unterscheiden blamiert sich dadurch, dass in ihm – meist unbewusst – der Staat gegen das Kapital ausgespielt werden soll. Wie Staat und Kapital sich gegenseitig bedingen, bedingen sich auch die aus ihnen erwachsenden negativen Kritiken einander. Wie Antisemitismus die personifizierte negative Kritik des Kapitals ist, ist der gegen den Juden unter den Staaten gerichtete Antizionismus die negative Staatskritik. Erst in einer befreiten Gesellschaft lässt sich dieser notwendige jüdische Partikularismus mit der geeinten Menschheit versöhnen. In der Welt von Staat und Kapital gibt es nur die Wahl zwischen antisemitischem Massenmord und dem kapitalistisch organisierten jüdischen Staat. Jede antizionistische Israelkritik macht sich also mit dem antisemitischen Mord gemein.

In der Welt von Staat und Kapital scheiterten die jüdischen Hoffnungen auf Emanzipation historisch in doppelter Hinsicht, denn weder gelang ihnen die bürgerliche Emanzipation zu Staatsbürger:innen noch die proletarische zu Sowjetgenoss:innen. Es half ihnen keine soldatische Staatstreue – weder gegenüber dem bürgerlichen noch dem proletarischen Staat – gegen die in Krisenzeiten immer wiederkehrende und neu mobilisierte antisemitische Vereinfachung der Welt. Weder der bürgerlichen Brüderlichkeit noch der proletarischen Solidarität konnten sich Jüdinnen und Juden je sicher sein. Dies bedeutet auch für die materialistische Staatskritik, dass die Solidarität mit Israel als Schutzraum aller Jüdinnen und Juden nicht zur Diskussion steht. Dabei ist es schlicht und ergreifend egal, wie wir als Privatmenschen die aktuelle Regierung oder die dortige außerparlamentarische Opposition bewerten. Es geht nicht darum, dass Israel im Gegensatz zu anderen Staaten irgendwie humaner wäre, sondern darum, dass Israel durch die Inhumanität der anderen Staaten zur einzig möglichen Verteidigung der Jüdinnen und Juden geworden ist.

„Für den Kommunismus“ bedeutet also nicht nur zwangsläufig Krieg den deutschen Zuständen, sondern immer auch Solidarität mit Israel.

Antitresen #3 – Befreiung oder Besatzung?

Vor 75 Jahren kapitulierte die deutsche Wehrmacht gegenüber den alliierten Streitmächten der Vereinigten Staaten von Amerika, der Sowjetunion, dem Vereinigten Königreich und den französischen Truppen der Befreiungsarmee. Der Zweite Weltkrieg war damit zumindest in Europa beendet. Die Siegermächte begannen, die Rahmenbedingungen des kommenden Friedens auszuhandeln. Das stark verkleinerte deutsche Staatsgebiet wurde in vier Besatzungszonen eingeteilt. Vier Jahre später entwickelten sich aus ihnen zwei deutsche Staaten, die sich auf je spezifische Weise vornahmen, mit dem Nationalsozialismus zu brechen: Beide nahmen formal den Antifaschismus als Staatsdoktrin auf. Gleichzeitig waren sie bemüht, eine Kontinuität der deutschen Herrschaft aufrecht zu erhalten – de facto tasteten sie die nationalsozialistische Volksgemeinschaft gerade nicht an.

Als im November 1989 die Berliner Mauer fiel und im Schnellverfahren die ehemalige SBZ, spätere DDR auf dem Gebiet des heutigen Dunkeldeutschlands an die westdeutsche Bundesrepublik angeschlossen wurde, offenbarten sich die unter Westbindung und Sowjettreue fortwesenden Kontinuitäten in Städten wie Solingen, Mölln, Rostock-Lichtenhagen oder Hoyerswerda. Doch die postnazistische Volksgemeinschaft tat so, als hätten die neonazistischen Mordbanden mit dem eigentlichen Deutschland nichts zu tun, und begann, sich als antifaschistische Zivilgesellschaft zu inszenieren. Das Morden überließ man lieber den Handelspartnern im Nahen und Mittleren Osten. Damit begann eine Verschiebung der Debatte. Wurde die im Sommer 1945 kollektiv erlebte narzisstische Kränkung durch die Teilung wachgehalten, wurde schon alsbald davon gesprochen, dass man ja eigentlich befreit worden wäre. Die eigene barbarische Geschichte wurde zur Erfolgsstory umgedeutet. Fast so, als hätten die Alliierten das friedliebende deutsche Wesen vom fremdartigen Nationalsozialismus befreit. Das deutsche Volk fühlt sich freigesprochen. Man brüstet sich als Aufarbeitungsweltmeister damit, dass andere Länder einen um das Mahnmal der ermordeten Juden in Europa beneiden würden. Die Erinnerung verdrängt das eigentliche Verbrechen.

Was 1985 mit der Rede Richard von Weizsäckers begonnen hatte, mündet heute in die Forderung nach einem Nationalfeiertag am 8. Mai. Die Berliner Republik und die längst total-verstaatlichte Zivilgesellschaft spinnen fleißig den Mythos vom anderen Deutschland und verdrängen die Bedingungen der eigenen massenmörderischen Konstitution. Weder die Profite des Zweiten Weltkriegs noch die bis heute unangetastete, aus strategischen Gründen im Kalten Krieg nur notdürftig entnazifizierte, mörderische Volksgemeinschaft sind noch Thema. Die Nazis werden zum Anderen, zum Nichtdeutschen. An einer Entschädigung der Opfer besteht – das haben der Berliner Zoo oder der Umgang mit Griechenland in der letzten Finanzkrise ausdrücklich bewiesen – überhaupt kein Interesse. Stattdessen geht es darum, sich selbst als moralische Supermacht zu inszenieren. Besonders gerne belehrt man den Staat der Opfer der Shoah, während man mit einem Regime, das kein Hehl aus seinen antisemitischen Vernichtungswünschen macht, innige Handelsbeziehungen eingeht. Wenn es heißt, dass die Sieger die Geschichte schreiben, dann hat Deutschland 75 Jahre später wohl doch noch den Krieg gewonnen.

Wir wollen mit der Redaktion antideutsch.org über ihre Kritik des German Gedenkens und die vor fünf Jahren ins Leben gerufene 70-Years-Kampagne sprechen, die sich kritisch mit dem deutschen Geschichtsbild auseinandersetzte. Wir wollen der Frage nachgehen, wie sich Antifaschist*innen in Deutschland gegenüber des Staatsantifaschismus verhalten können, ohne sich zu ehrenamtlichen Helfer*innen des deutschen Staates zu machen. Wenn der kollektiv vom deutschen Volk begangene Massenmord und der unter alliierter Besatzung munter weiter geäußerte Antisemitismus eines beweisen, dann: ANTIFA GEHT NUR GEGEN DEUTSCHLAND.

09/05/2020 – 19 Uhr, Youtube: https://www.youtube.com/watch?v=0OkvYCcWyis

Eike Geisel: Zweimal 9. November

»Man muss Eike Geisel heute so lesen, wie man heute noch Voltaire lesen sollte, oder Tucholsky, oder Karl Kraus.«

– Henryk M. Broder

Anlässlich des 80ten Jahrestages des 9. November 1938 veröffentlichen wir ein Essay von Eike Geisel aus dem Jahr 1989, das auch fast 30 Jahre später kaum etwas an Scharfsinn verloren hat. Kein zweiter blickte in dieser Phase der Geschichte so pointiert hinter die Fassade des German Gedenkens1. Das Essay ist dem posthumen Sammelband Die Wiedergutwerdung der Deutschen – Essays und Polemiken entnommen. Wir bedanken uns an dieser Stelle beim Herausgeber des Sammelbandes, Klaus Bittermann und empfehlen unserer geneigten Leserschaft sowohl den Kauf des Sammelbandes als auch das Einladen des Herausgebers für eine Veranstaltung zum Thema.2

Zweimal 9. November

Oder: die Juden sind unser Glück

Von Eike Geisel

»Kinder, es lebe die Nachkriegszeit, denn bald wird sie wieder zur Vorkriegszeit.«

– Song aus dem Film »Wir Wunderkinder«

Erinnert sich noch irgend jemand an den sogenannten Historikerstreit? An jene einschläfernde Debatte über die jüngere deutsche Geschichte, an jene bloß akademische Auseinandersetzung, die in Wirklichkeit längst entschieden war, ehe sie in der Professoralform nochmals verschied und aufwendig in Feuilletons und zwischen Buchdeckeln beerdigt wurde? Das Klagelied über die »die Vergangenheit, die nicht vergehen will«, hat sich nach dem 9. November 1989 in einen Triumphgesang verwandelt, mit welchem der unbefleckte Wiedereintritt in die Weltgeschichte gefeiert wurde. Kaum war die Grenze innerhalb Berlins einen Spalt breit geöffnet worden, da fielen im Bonner Parlament schon alle Schranken: die Fraktionen grölten die Nationalhymne. Das hatte es zum letzten Mal Anfang 1933 gegeben.

Berlin ist der Ort, an welchem die deutsche Nachkriegsgeschichte für alle sichtbar zu Ende geht. Mit der Öffnung der Mauer brach freilich nicht nur die Begrenzung eines von Deutschen erstmals für die eigene Bevölkerung errichteten Ghettos zusammen, sondern mit jedem Stein, der aus der Mauer gehämmert wurde, fiel auch allen eine Zentnerlast vom Herzen: das letzte markante Erinnerungszeichen daran, dass die Deutschen den Zweiten Weltkrieg doch nicht gewonnen hatten, begann zu verschwinden. Die Teilung hatte dieses Land, wie man nun sehen konnte, nicht halbiert, sondern vor allem dessen Bereitschaft zur vorsätzlichen Amnesie verdoppelt. Und der regierende Bürgermeister von Berlin brachte die mit Hämmern und Alkohol durchgeführte Selbstabsolution auf die von allen Politikern übernommene Formel, dass dieser Tag ein historisches Datum sei. Die total entsorgten Gemüter und ihre freiwillig gleichgeschaltete Presse mussten erst wieder vom Ausland daran erinnert werden, dass dieses Datum längst ein historisches war. Doch inzwischen lief das »glücklichste Volk der Erde« (Momper) schon in T-Shirts herum, auf denen zu lesen war: »9. November – ich war dabei«. Die Veteranen werden sich über diese generationsübergreifende Wiedervereinigung gefreut haben.

Das übermächtige kollektive Verlangen, den Prozess der nationalen Rehabilitierung der Deutschen als Deutsche endlich zum Abschluss zu bringen, kulminiert ein Jahr zuvor noch darin, dass 1988 Deutsche und Juden sich heftig versöhnten. Woran indes die damalige Zeremonie noch krankte, war nun behoben: nun fielen sich nur rein Deutsche in die Arme.

Aus dem von einer Mauer umgebenen Gefängnis ihrer eigenen Geschichte befreit, machten sich die Prolet-Arier auf, um sich mit der Drohung »Wir sind das Volk« mit ihren bislang nur von einer starken Währung, Schweizer-Schokolade und amerikanischer Kultur im Zaum gehaltenen Brüdern und Schwestern in einer Abstammungsgemeinschaft zu vereinigen.

Die Wiedervereinigung der deutschen Geschichte ging dem nationalen Zusammenschluss voraus. Für die historische Versöhnung hatte man die Juden noch gebraucht. Mit der im November endgültig und unwiderfruflich vollzogenen Verwandlung der beiden deutschen Staaten in die, wie sich rasch zeigen sollte, völkische Einheit Deutschland, waren hingegen die im letzten Jahr so ausgiebig gefeierten Juden als Seelentröster ganz entbehrlich geworden.

Aus der schon immer an Israel, dem beliebtesten Tummelplatz deutscher Selbstentlastung, gewonnenen Einsicht, es sei niemand besser als die Deutschen, machte der Herausgeber des Spiegel Rudolf Augstein einen aktuellen kategorischen Imperativ: »Warum ein geteiltes Berlin, wo doch für Jerusalem trotz aller ethnischen- und Annexionsprobleme gelten wird: Zweigeteilt? Niemals«, schrieb er am 6. November 1989, als käme er aus einer jenseitigen Redaktionskonferenz Axel Springers zurück, der dies fast wörtlich vor zwanzig Jahren geschrieben hatte. Um jedoch Verwechslungen mit dem vergleichsweise gemäßigten Chauvinismus der Bild-Zeitung auszuschließen, fügte Augstein noch folgenden Satz hinzu: »Dies falsche Gewicht wird die junge Generation, weil das nämlich nichts mit Auschwitz zu tun hat, nicht mehr mittragen.« Mit anderen Worten: es sollte niemand etwas tun dürfen, was den Deutsche untersagt ist, schon gar nicht die Juden.

Andere Zeitungen ersparten sich den langen Umweg über Israel und wiesen mit je nach Klientel verschiedenen Andeutungen darauf hin, dass jener flüchtige Staatssekretär der DDR, der nicht so muffig und spießig gelebt hatte wie seine nun vom volksgemeinschaftlichen Sozialneid heimgesuchten Landsleute, dass jener Mann, der Devisen in die Schweiz geschafft hatte, Jude sei. Mit einem catchword des stalinistischen Judenhasses rüstete die taz das Ressentiment ihrer antifaschistischen Leserschaft auf und teilte unter der Überschrift »Die Biographie eines Kosmopoliten« mit, dass auch ein Mitarbeiter des Devisenhändlers nun völkisch identifiziert worden war. »Wir sind das Volk« skandierten unterdessen diejenigen, die bloß gern wie die geschassten Funktionäre im schäbigen Neckermann-Luxus daheim wären. Und der DDR-Staatssekretär Schalk-Golodkowski wusste, als er sich absetzte, dass man besser den Koffer packt, wenn in Deutschland sich die Bevölkerung in das Volk verwandelt. Er wollte nicht jenen in die Hände fallen, die über Nacht aus Mitläufern zu einer nach Ermittlungskommandos gegliederten Volksgemeinschaft geworden waren.

Wie es zum Selbstbild der bundesrepublikanischen Gesellschaft gehört, die Deutschen seien das erste Opfer Hitlers und die Nachkriegsgesellschaft eine Vereinigung von Hinterbliebenen gewesen, so präsentierte sich die Bevölkerung der DDR vom untersten Volkspolizisten bis zum höchsten Parteifunktionär als allesamt von ein paar Schurken betrogene Idealisten. Und natürlich hatten alle von nichts gewusst. Mit diesen Auskünften war auch dem letzten Zweifler im Westen klar, nicht das hier jemand seine sofortige Entmündigung verlangte, sondern dass es sich bei dem Mob, der nun zur Parole »Deutschland einig Vaterland« überging, tatsächlich um die eigenen Brüder und Schwestern handeln musste. Und gerade dieser Nähe wegen werden sie sich, wenn die Familienfeier erst einmal vorüber ist, nicht mehr ausstehen können.

Einer mit ganz ausgeprägten Familiensinn in diesen bewegten Tagen war der Schriftsteller Martin Walser. Seit er an der Teilung Deutschlands litt, genas seine Literatur zusehends. Und die völlige Wiederherstellung seiner Gesundheit vermeldete er in der Frankfurter Allgmemeinen Zeitung mit einem schwärmerischen Lobgesang auf die Medizin: »Es gibt das Volk, das ist jetzt bewiesen.« Bewiesen war freilich nur, über welche Klarsicht die Nazis damals verfügten mit ihrer Aufforderung: »Nun Volk steh auf und Sturm brich los!« Nun stand ein Begriff auf, und als die Sache losstürmte, wollten viele den Anschluss nicht verpassen. Auch die Grünen nicht. Ganz so, als sei dieser Begriff zwischenzeitlich eingemottet gewesen und habe etwas Staub angesetzt, holte ihn Joschka Fischer frischgebügelt aus der historischen Tiefendimension hervor: »Zum ersten Mal auch seit der blutigen Niederschlagung von 1848 hat der Begriff ‚Volk‘ wieder einen guten, einen aufrechten Klang«, blochte er in der taz. Dieser »gute, aufrechte Klang« hallte wieder in den »Rote raus!«-Parolen der fundamentalistischen Montagsumzüge in Leipzig; er hallte wieder in den Schlägen, mit denen die vom Parteimitglied zum Volksgenossen aufgestiegenen Befehlsempfänger ihrer inneren Stimme nun Ausländer malträtierten; er hallte schließlich wieder im Geräusch umstürzender Grabsteine auf jüdischen Friedhöfen – eine Morgengabe, auf welche noch keine deutsche Volksbewegung verzichten wollte.

Dabei hätten die Deutschen doch Grund genug, gerade den Juden für den erfolgreichen Abschluss ihrer nationalen Selbstfindung dankbar zu sein. Noch im letzten Jahr hatten sie sich in zahlreichen Ausstellungen, im Radio und im Fernsehen, in Geschichtswerkstätten und in neu gegründeten jüdischen Museen über die Toten hergemacht. Je heftiger sie sich mit jüdischen Toten beschäftigten, desto lebendiger wurden sie selbst. Je gründlicher sie erforschten, was jüdisch sei, desto fundamentaler erfuhren sie sich als Deutsche; kurz: am 9. November 1989 wurde ein kollektives Bedürfnis befriedigt, das der manischen Beschäftigung mit den Juden logisch von Anbeginn zugrunde lag. Seit alle wieder Deutsche sind, müsste es deshalb bei ihnen in unbefangener Umkehrung eines alten Grundsatzes nationaler Selbstvergewisserung heißen: »Die Juden sind unser Glück.« Denn was wäre ohne sie aus der Endlösung der deutschen Frage geworden?

1An dieser Stelle seien die Texte zum Thema von der (mittlerweile aufgelösten) Antideutschen Aktion Berlin empfohlen, die versucht hat die diesbezüglichen Gedanken von Geisel fortzuführen und die Frage nach dem gegenwärtigen Stand des Gedenkens gestellt hat: https://antideutschorg.wordpress.com/tag/german-gedenken/ Insbesondere einer Überlegung möchten wir dabei ausdrücklich zustimmen: Eine Ausstellung, eine Fernsehserie oder ein Heimatfilm, worin auch so manch guter Deutsche in der Masse der bösen Nazis vorkommt, ermöglicht dagegen »die Rückprojektion der eigenen Unschuld in die Familiengeschichte des Kollektivs« (Uli Krug). Die Forderung nach Entschädigung ist dagegen der größte Dolchstoß, den man Deutschland heutzutage verpassen kann, weil er die Ambition, als geläuterter Sünder auf der internationalen Bühne zu reüssieren, zumindest torpediert. Sie zerstört das Selbstverständnis als Vergangenheitsbewältigungsweltmeister. Sie deckt auf, dass die deutsche Volksgemeinschaft noch nicht einmal ansatzweise ihre »Schuldigkeit« getan hat. Es ist das Kryptonit des deutschen Supermanns. Es wird Deutschland nicht umbringen, nicht aufhalten, aber es lähmt dieses Monster zumindest.“

2Alles zum Sammelband (inklusive Leseprobe) findet sich hier: https://edition-tiamat.de/die-wiedergutwerdung-der-deutschen/ , ein kurzer Nachruf über den Autor findet sich hier: https://lizaswelt.net/2007/08/06/in-memoriam-eike-geisel/ und der Herausgeber kann hier kontaktiert werden: mail@edition-tiamat.de .

German Gedenken

Es gibt keine deutsche Identität ohne Auschwitz.“. Joachim Gauck

Deutschland zahlt keine Entschädigungen. Egal ob es sich um die Forderungen Griechenlands handelt, die sich für die Wiedergutmachung von Kriegsschäden, für einen Besatzungskredit und für die Entschädigung von NS-Opfern auf 278 Milliarden Euro belaufen, oder ob es um den Völkermord an den Herero und Nama geht. Deutschland bekräftigt in allen Fällen, dass die Bundesrepublik keine indi­viduellen oder kollektiven Entschädigungszahlungen leisten werde. Stattdessen bietet der deutsche Unterhändler Ruprecht Polenz (CDU) den Aufbau einer deutsch-namibischen Zukunftsstiftung an, die erinnerungspolitische Projekte sowie einen Jugendaustausch organisieren soll. Des Weiteren ist geplant, dass Joachim Gauck im März 2017 in Namibia eine offizielle Entschuldigung ausspricht.

Auch die drei Maßnahmen, mit denen der Berliner Zoo auf die Forderung nach Entschädigung der ehemaligen jüdischen Zoo-Aktionäre reagierte, sehen kaum anders aus: eine Informations­tafel, eine Ausstellung und ein akademisches Programm. Wiederholt teilte die Senatsverwaltung für Finanzen auf Anfrage mit, »im Zentrum der Wiedergutmachung des Unrechts in der Zeit des Nationalsozialismus« stehe »heute nicht individuelle Restitution, sondern öffentliche Aufarbeitung und Erinnerungsarbeit«. Statt einer Entschädigung geht es dem Berliner Senat und dem Berliner Zoo um die »Dauerpräsentation unserer Schande«, wie der Schriftsteller Martin Walser es 1998 in der Frankfurter Paulskirche bezeichnete. Walser, der in seiner Rede beklagt hatte, dass nicht das »Nichtvergessendürfen das Motiv ist, sondern die Ins­trumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken«, hat ziemlich genau den Kern der heutigen Erinnerungskultur beschrieben.

In einem Gespräch mit dem Spiegel im Mai 2015 distanzierte sich Walser plötzlich von der allgemein angenommenen Interpretation seiner Rede. Es sei »vielleicht leichtsinnig« von ihm gewesen, »von der Instrumentalisierung des Holocaust zu sprechen, ohne Namen zu nennen«. Er habe damals an Günter Grass, Joschka Fischer und Walter Jens gedacht. Irrtümlicherweise habe dann aber Ignatz Bubis, der damalige Vorsitzende des Zentralrats der Juden, geglaubt, er sei gemeint, so Walser. Beinahe zwei Jahrzehnte brauchte er, um diesen angeblichen Irrtum aufzuklären, was seine neuerliche Läuterung ziemlich unglaubwürdig erscheinen lässt. Aber ein Körnchen Wahrheit steckte trotzdem in seiner Rede.

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Der Text als pdf-Datei: German Gedenken

Walser hatte Recht, wenn er etwa dem damaligen Außenminister Joschka Fischer (Bündnis 90/Die Grünen) vorwarf, die deutsche Geschichte von 1933 bis 1945 zu instrumentalisieren. Der Eintritt Deutschlands in den Jugoslawienkrieg wurde damals mit einer ideologischen Meisterleistung ermöglicht. Der sozialdemokratische Bundestagsabgeordnete und Autor Freimut Duve überschrieb schon 1995 in der Zeit seinen berühmt-berüchtigten Artikel über die Gräueltaten der bosnisch-serbischen Freischärler mit dem Titel: »An der Rampe von Srebrenica«. Joschka Fischer sah in Srebrenica den serbischen Faschismus am Werke und der spätere Verteidigungsminister Rudolf Scharping (SPD) behauptete, dass »UN-Truppen zusehen mussten, wie 30.000 Menschen umgebracht wurden«. Die Schröder-Fischer-Bande versuchte den Eindruck zu erwecken, dass ein erneuter Holocaust durch die bosnischen Serben bevorstehe. Dementsprechend sah sich die noch junge rot-grüne Koalition »gezwungen«, ­Serbien den Krieg zu erklären: Es galt, mit deutscher Beteiligung ein zweites Auschwitz zu verhindern.

Nicht trotz, sondern wegen Auschwitz!

Was durch Ritualisierung zustande kommt, ist von der Qualität des Lippengebets.Martin Walser

Jahrestage, wie zuletzt der Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, verursachen nicht nur bei aufgeklärten, kritischen Menschen ein äußerst mulmiges Gefühl. Die Ritua­lisierung des Gedenkens an die Shoah dient der »Heilung des Patienten«, nicht dem Gedenken an die Erniedrigten und Ermordeten. Am 27. Januar 2015, zum 70. Jahrestag der Befreiung durch die Alliierten, sagte Bundesprä­sident Joachim Gauck in seiner Rede: »Solange ich lebe, werde ich darunter leiden, dass die deutsche Nation mit ihrer so achtenswerten Kultur zu den ungeheuerlichsten Menschheitsverbrechen fähig war.«

Ihm geht es wie allen deutschen Offiziellen, Gauck will die deutsche Post-Holocaust-Identität stärken. Weil es beinahe nur noch einheimische Patienten sind, die über die historischen Rituale wachen, ist es kein Wunder, dass in den vergangenen Jahren daraus ein kollektiver Heilungsprozess wurde. Spätestens seit der Sozialdemokrat Gerhard Schröder das Land zur Friedensmacht erklärte und den Versuch startete, zwischen den beiden Polen Russland und USA einen dritten, den europäischen Block zu etablieren, brauchte das Land eine Ideo­logie, die dieses neue Projekt vermittelt. Nach innen wie auch nach außen. Als Vergangenheitsbewältigungsweltmeister konnte Deutschland endlich die ökonomische Überlegenheit in politisches Kapital ummünzen. Moralisierende Kritik an den USA bei gleichzeitiger Durchsetzung der eigenen ökonomischen Interessen mit ähnlichen, aber weit geringeren militärischen Mitteln, ist seitdem das mehrheitsfähige Projekt. National und international. Früher standen einer solchen provokanten ­Positionierung gegenüber der ehemaligen Schutzmacht USA wenigstens noch die klassischen konservativen Atlantiker gegenüber. Heute dagegen herrscht Einigkeit im gesamten politischen Spektrum.

the good germans

Wenn mir aber jeden Tag in den Medien diese Vergangenheit vorgehalten wird, merke ich, daß sich in mir etwas gegen diese Dauerpräsentation unserer Schande wehrt. Anstatt dankbar zu sein für die unaufhörliche Präsentation unserer Schande, fange ich an wegzuschauen. Ich möchte verstehen, warum in diesem Jahrzehnt die Vergangenheit präsentiert wird wie nie zuvor. Wenn ich merke, daß sich in mir etwas dagegen wehrt, versuche ich, die Vorhaltung unserer Schande auf die Motive hin abzuhören, und bin fast froh, wenn ich glaube entdecken zu können, dass öfter nicht das Gedenken, das Nichtvergessendürfen das Motiv ist, sondern die Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken. Immer guten Zwecken, ehrenwerten. Aber doch Instrumentalisierung.Martin Walser

Die Instrumentalisierung ist im 21. Jahrhundert der deutschen Gesellschaft ins Mark übergegangen. Deshalb reagierte auf die Dresdner Rede von Björn Höcke (AfD) die Berliner ­Republik in Person von Sigmar Gabriel (SPD) selbstredend entsetzt: »Wir Deutschen haben uns mit diesen unvorstellbaren Verbrechen auf eine Art und Weise auseinandergesetzt, die uns auch bei denen Respekt eingebracht hat, denen gegenüber Deutsche schuldig geworden sind.« Gabriel fährt in seinem Facebook-Statement fort und beweist, dass man in Deutschland immer den Teufel mit dem Belzebub austreiben will: »Björn Höcke unterstellt, der Umgang mit unserer Nazi-Vergangenheit mache uns klein. Das Gegenteil ist richtig: Dass wir uns unserer Geschichte gestellt, dass wir aus der Vergangenheit gelernt haben, war die Voraussetzung dafür, dass Deutschland weltweit respektiert wird. Björn Höcke verachtet das Deutschland, auf das ich stolz bin.« Die Geschichte als »abstraktes Symbol«, als »Anstecknadel und Gesinnungsbrosche« (Eike Geisel), die Deutschland wieder zu weltweitem ­Respekt verhilft, ist der Grund warum jede noch so kleine Gedenkveranstaltung ein wichtiges Teil im neuen deutschen Selbstbewusstsein darstellt.

»Nicht mehr die Leugnung des Unleugbaren, wie noch vor 40 Jahren, als wirkliche Täter (und ihre entsprechend parentifizierten Nachkommen) das ­öffentliche Klima bestimmten, macht das Verstockte aus«, wie Uli Krug es formuliert (Bahamas Nr. 71), sondern die noch vor 19 Jahren von Martin ­Walser beklagte »Dauerpräsentation unserer Schande«. Schnell ist man hierzulande bereit, eine Gedenktafel irgendwo anzubringen, eine Straße umzubenennen, einen Stolperstein in die Erde zu rammen oder einen Stu­dienaustausch mit Israel in Gang zu setzen, aber die direkte Entschädigung stößt immer auf großen Widerspruch. Solange alles beim »kleinlaut und formell gewordenen Schuldgetue« bleibt, kostet die Erinnerung nichts weiter als pfäffisches Gewäsch an Gedenktagen, stellte Max Horkheimer schon 1959 fest.

Entschädigung zu zahlen, hindert dagegen die Deutschen bei ihrer internen Identitätsfindung beziehungs­weise -bestätigung. Konkrete Zahlungen an noch lebende Menschen bedeuten das Eingeständnis, dass die Schuld immer noch nicht abgegolten ist. Es impliziert, auch heute sollten sich die Deutschen lieber zurückhalten. Die Entschädigungsforderungen der Griechen werden nicht nur deshalb kollektiv ­abgelehnt, weil es sich um eine veritable Summe handelt, sondern weil dann der Status als nicht nur wirtschaftliche Führungsmacht in Europa wieder in Frage gestellt werden könnte.

Eine Ausstellung, eine Fernsehserie oder ein Heimatfilm, worin auch so manch guter Deutsche in der Masse der bösen Nazis vorkommt, ermöglicht ­dagegen »die Rückprojektion der eigenen Unschuld in die Familiengeschichte des Kollektivs« (Uli Krug). Die For­derung nach Entschädigung ist dagegen der größte Dolchstoß, den man Deutschland heutzutage verpassen kann, weil er die Ambition, als geläuterter Sünder auf der internationalen Bühne zu reüssieren, zumindest torpediert. Sie zerstört das Selbstverständnis als Vergangenheitsbewältigungsweltmeister. Sie deckt auf, dass die deutsche Volksgemeinschaft noch nicht einmal ansatzweise ihre »Schuldigkeit« getan hat. Es ist das Kryptonit des deutschen Supermanns. Es wird Deutschland nicht umbringen, nicht aufhalten, aber es lähmt dieses Monster zumindest.

Antideutsche Aktion Berlin im Februar 2017

Vom Teufel und vom Beelzebub

Deutschland zeigt sich in diesen Tagen wieder in all seiner Hässlichkeit. Wie Björn Höckes Rede in Dresden eindrucksvoll beweist, war es richtig im Mai letzten Jahres den Höcke-Sumpf in Bornhagen „Straight to hell“ zu wünschen. So weit, so schlecht.

Nur einen Tag später wird jedem, dem noch etwas an der Kritik der deutschen Verhältnisse liegt, eindrucksvoll bewusstgemacht, dass in Deutschland das Gegenteil von etwas Schlechtem nicht zwangsläufig das Bessere ist. Es hagelte Anzeigen verschiedener Personen und Politiker wegen des Verdachts der Volksverhetzung gegen Höcke. Unabhängig davon, ob dies juristisch nun der Fall ist oder nicht lohnt sich ein Blick auf so manche, die sich jetzt mit einem solchen Schritt versichern auf der richtigen, also der linken und deutschen, Seite zu stehen.

Dazu gehört auch der Autor folgender Zeilen: „Unser Volk war die bereitwilligste Manövriermasse für die Kulturmonopolisten aus den USA. Derart intensiv ist kein Volk in Westeurropa jemals fremdbestimmt worden. (…) Das hier vorliegende Volksliederbuch ist in einer historischen Phase entstanden, die Geschichtsschreiber später wohl einmal als neuen nationalen Aufbruch bezeichnen werden. Der deutsche Wald, die Heimat können sich nur noch auf die Linke verlassen, sei sie nun rot oder grün oder am besten beides.

Zugegeben, das ist schon etwas länger her. Zur Fußball EM 2016 machte sich der Höckekritiker auf, eine Deutschlandfahne an sein Auto anzubringen um ein Zeichen gegen „antideutsche Intoleranz“ zu setzen. Gegenüber Xavier Naidoo, der ja schon mal bei Reichsbürgern singt, sieht er schon einmal eine „antideutsche shitstorm SA“ am Werk. Er selbst bezeichnet sich auch als „glühenden Verschwörungstheoretiker“ und findet, dass man sich auch „mit der Hamas solidarisieren können“ muss. Kurz: Wer braucht schon einen Höcke, wenn man einen Diether Dehm hat.

Doch auch das staatstragende Deutschland in Person von Sigmar Gabriel (SPD) reagiert selbstredend entsetzt. Höckes Statement zu seiner Dresdner Rede liest sich auf seiner Facebook Seite so: „Diese Fähigkeit, sich der eigenen Schuld zu stellen, zeichnet uns Deutsche aus.“ Ebenfalls auf Facebook schreibt Gabriel: „wir Deutschen haben uns mit diesen unvorstellbaren Verbrechen auf eine Art und Weise auseinandergesetzt, die uns auch bei denen Respekt eingebracht hat, denen gegenüber Deutsche schuldig geworden sind.“ Feel the difference.

Gabriel fährt fort und beweist, dass man in Deutschland immer den Teufel mit dem Beelzebub austreiben will: „Björn Höcke unterstellt, der Umgang mit unserer Nazi-Vergangenheit mache uns klein. Das Gegenteil ist richtig: Dass wir uns unserer Geschichte gestellt, dass wir aus der Vergangenheit gelernt haben, war die Voraussetzung dafür, dass Deutschland weltweit respektiert wird. Björn Höcke verachtet das #Deutschland, auf das ich stolz bin. Nie, niemals dürfen wir die Demagogie eines Björn Höcke unwidersprochen lassen. Nicht als Deutsche, schon gar nicht als Sozialdemokraten.

Die Geschichte als „abstraktes Symbol“, als „Anstecknadel und Gesinnungsbrosche“ (Eike Geisel) die Deutschland wieder zu weltweitem Respekt (Sigmar Gabriel) verhilft, ist dabei nur die andere Seite der deutschen Medaille.

Antideutsche Aktion Berlin im Januar 2017

Blumen auf den Weg gestreut

Nach dem schmerzhaften und Jahrzehnte lang andauernden Schuldkomplex der Opferdeutschen, kommt – nach „Der Untergang“ und „Unsere Mütter, unsere Väter“ – nun endlich eine lustige Auseinandersetzung über die Lasten der Erbschuld in die Kinos. Der Film „Die Blumen von Gestern“ zeigt wie die Themen Holocaust, Liebe und Sinnsuche zu einem heiteren pädagogischen Kinoerlebnis für die ganze Familie verschmolzen werden. Totila Blumen, der Protagonist der Geschichte, ist ein verkrampfter Holocaust-Forscher, der überhaupt keinen Spaß versteht. Da sein Großvater bei der SS diente, fühlt sich Totila schuldig und gerät in eine Sinnkrise. Was liegt da näher als ihn mit der Enkelin einer in Ausschwitz ermordeten Jüdin auf eine Reise in die gemeinsam durchlittene Vergangenheit zu schicken (sein Großvater hat ihre Großmutter ins Gas geschickt). Der Trailer zum Film gipfelt schließlich in einer versöhnlichen Szene: beide, die Jüdin und der Deutsche, liegen sich in den Armen und sie sagt die Worte, die den Sinn des Films festschreiben: „Ich liebe deine Geschichte, weil es meine Geschichte ist.“1

Der Regisseur Chris Kraus, der nebenher natürlich Hobby-Holocaust-Forscher ist, zog die Inspiration für das von ihm verfasste Drehbuch selbstredend aus seiner eigenen Familiengeschichte und den zahlreichen Versöhnungsgeschichten von jüdischen Opfern und deutschen Tätern. Dieses Meisterwerk deutscher Geschichtsaufarbeitung in Komödienform ist durch den „[…] Wunsch, etwas über die Verletzungen des Holocaust zu schreiben, die heute noch in uns wüten“ motiviert. Und weiter: „Im Augenblick erleben wir furchtbare Zeiten, in Syrien, in Libyen. Man hat fast den Eindruck, die halbe Welt brennt.“ Alles in allem ist Kraus also ein Therapeut am deutschen Volkskörper für den neben der Frage: „Die Zeitzeugen verschwinden, durch Immigration wandelt sich unser Land. Wie erreicht man Jugendliche, deren Vorfahren gar nicht von hier kommen?“ vor allem eines wichtig zu sein scheint: „[…] in einem Land, das ein erhebliches rechtes Wählerpotential bekommen hat, trotz aller Erinnerungsmantras, glauben auch in Fachkreisen immer weniger Wissenschaftler daran, dass das auf Dauer funktionieren kann. Weil das ständige Wiederkäuen von Lehrsätzen niemanden mehr innerlich berührt.“2

Diese filmische Neubetrachtung der Shoa, in der die Heiterkeit einer Jüdin das verkrampfte Deutschland aus seinem Trauma erlöst, dient natürlich Höherem. Und so wurde der Film bereits mit zahlreichen Lorbeeren aus dem südwestlichsten aller Bundesländer überhäuft, wo er teilweise auch gedreht wurde. Neben dem „Thomas-Strittmatter-Drehbuchpreis der MFG Filmförderung Baden-Württemberg von 2013“ wurde der Film mit „Baden-Württembergischer Filmpreis in der Kategorie besten Spielfilm 2016“ ausgezeichnet. Denn der Triumph, unverkrampft – aber pädagogisch Wertvoll – auf die eigene Geschichte blicken zu können, macht einen Film in Deutschland „besonders wertvoll“.3

  1. http://die-blumen-von-gestern.de/trailer.php [zurück]
  2. http://die-blumen-von-gestern.de/interview-chris-kraus.php [zurück]
  3. http://www.fbw-filmbewertung.com/film/die_blumen_von_gestern [zurück]

Formelhaft und leer

„Erinnerungen […] sind Geister, die zwischen Leben und Tod wandeln.“ – Definitorische Annäherungen an Erinnerung

Erinnerung scheint weder ganz in der Vergangenheit zu liegen noch Teil der Gegenwart zu sein. Sie liegt zwischen diesen Dimensionen und bildet eine eigene Sphäre aus, die die beiden anderen miteinander verbindet.2  Sowohl Positives als auch Negatives kann erinnert werden. In der Erinnerung löst sich das aktuelle Geschichtsbewusstsein auf und etabliert eine Rhetorik des Erinnerns.3 Daher muss sich vor Augen geführt werden, dass Erinnerung niemals neutral oder objektiv sein kann, sie ist viel mehr selektiv.4 „Erinnerung besteht gerade darin, Vergangenheit – erinnerte, rekonstruierte und damit partiell imaginierte – in die Gegenwart zu holen.“5 Mit Hilfe von verschiedenen Formen der Bezugnahme auf Vergangenes werden ganze Welt- und Selbstbilder konstruiert. Es handelt sich also um eine Geschichtsaneignung für „identifikatorische Zwecke.“6 Darüber hinaus muss auf der Grundlage des konstruierten Charakters der Erinnerung festgehalten werden, dass sie niemals abgeschlossen sein kann und daher ohne Unterlass verhandelt und verändert wird.7 Es lässt sich festhalten: „In der Erinnerung zeigt sich nicht die Vergangenheit des Vergangenen, sondern die Vergangenheit der Gegenwart, also das, was unter gegenwärtigen Bedingungen von der Vergangenheit kollektiv erinnert wird.“8

Nationale Identitätsbildung als Grundanlass des Erinnerns

„Mit der Erfindung der Nation im 18. Jahrhundert, die das politische Subjekt der Moderne darstellt, erhält Vergangenheit ihre bis heute gültige sinn- und identitätsstiftende Bedeutung.“9  Das Eigene und Fremde wurde nicht zuletzt auch an Erinnerungen festgemacht, die die eigene Nationalität prägen sollten. Kulturtheoretisch wird kollektive Erinnerung als Selbstvergewisserung definiert. Es bildet sich ein kollektives Langzeitgedächtnis heraus, das festschreibt, welche Narrative für kommende Generationen zur Verfügung stehen sollten.10 Bei Erinnerung handelt es sich also um ein soziales Bezogensein, daher ist es exklusiv und exkludierend.11 Für gewöhnlich gehen nationale Erinnerungen auf als positiv empfundene beziehungsweise erfundene Ereignisse zurück.12 In der identitätsstiftenden Grundbedeutung der Erinnerung liegt ihr Sinn für Kollektive. Zusammenfassend lässt sich mit Hilfe von Soziologie und Geschichtswissenschaft feststellen, dass die selbstverständliche Aneignung und Institutionalisierung von Geschichte einer Gesellschaft als „Gründungselement eines jeden Nationalstaates“13 gilt. Gerade in der Erinnerungs- und Gedenkpraxis zeigen Nationen, wie sie sich als gegenwärtiges Kollektiv verstehen und wie sie von Anderen gesehen werden wollen.14 Auch in der jungen Bundesrepublik, die den Demokratisierungsvorgaben der Alliierten unterworfen war, funktionierte Identitätsbildung ganz ähnlich. Sie hatte den NS zwar gerade erst erlebt, aber keineswegs überwunden. Eine besondere Schwierigkeit bei der Erinnerung an die Shoah bestand immer schon darin, dass Erinnerung sich meist auf positive Traditionsbestände bezieht und der Shoah jegliche positive Bezugnahme fehlt.15 Trotzdem hat sich die Erinnerung an die Shoah zu einer „Staatsräson“ entwickelt, an ehemaligen Tatorten sind Gedenkstätten entstanden und diese sind institutionalisiert worden. Durch die im Jahr 1999 etablierte und 2008 weiterentwickelte Gedenkstättenkonzeption zeigt sich, wie sehr Erinnerung durch staatliche Beteiligung festgeschrieben wurde. „Bis heute ist das Geschichtsverhältnis zum Nationalsozialismus in weiten Teilen der deutschen Öffentlichkeit im Horizont nationaler Identität betrachtet worden.“17 Astrid Messerschmidt erläutert, dass es zwei Perspektiven dieser neuen Identitätsbildung nach dem Nationalsozialismus gegeben hat: Eine abgrenzende Haltung, die über „die historische Beschädigung des Deutschseins“ klagt und eine identifizierende Haltung, die die Aufarbeitung des Nationalsozialismus für „genuin zur deutschen Identität gehörend besetzt.“18

Generationsbedingte Erinnerung der Shoah

Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in der Bundesrepublik zeichnet sich durch Diskontinuitäten aus.“19 Die Erinnerungsansprüche und -formen verändern sich im Generationsübergang.20 Dabei folgt dieser Aufsatz der gängigen Einteilung in die TäterInnengeneration, deren Kinder (die sogenannte Nachkriegsgeneration) und die Nachkommen dieser (dritte Generation). Natürlich handelt es sich hierbei um ein theoretisches Konstrukt, eine reine Einteilung ist derart präzise nicht möglich, trotzdem lassen sich einzelne Aspekte dadurch veranschaulichen. Die Generation der TäterInnen war in ihrem kollektiven Gedächtnis dem Nationalsozialismus verhaftet.21 Die verbrecherische Geschichte wurde von einer „Kriegsgeschichte in eine Helden- und Leidensgeschichte umgedeutet“,22 die Verbrechen selbst wurden nicht thematisiert. Obwohl also die Gesellschaft den Nationalsozialismus nicht überwunden hatte, musste dieser als Gegenbild konstruiert werden, um der Forderung nach Demokratie beizukommen. Das Kriegsende wird als Kontinuitätsbruch und Identitätsänderung beschrieben.23 Natürlich handelt es sich hier um eine identitätsstiftende Maßnahme. „Um überhaupt wieder historischen Grund für gemeinschaftsbildende Zugehörigkeit und Handlungsfähigkeit zu gewinnen, mußte […] der Holocaust aus derjenigen Geschichte eliminiert werden, auf die identitätsbildend Bezug genommen wurde.“24 Somit wurde dem Nationalsozialismus eine Alterität entgegen der neuen Gesellschaft (dem Eigenen) angedichtet, sodass alle Verbrechen von der Nation gewiesen werden konnten. Der Prozess von Verdrängung bildete die Grundlage der Integration der Nazi-Elite.25 „Dieses Beschweigen gehört zur Gründungsgeschichte der neuen westdeutschen Demokratie.“26 Die zweite Generation wurde mit dem Verschweigen und Verdrängen der Elterngeneration konfrontiert und begann damit, Kontinuitäten aufzudecken. In das kollektive Gedächtnis wurde normativ eingebrannt, dass die Geschichte des Nationalsozialismus thematisiert werden muss und präsent sein soll. Es handelt sich aber trotz aller aufklärerischer Absichten um den Wunsch nach einem Schlussstrich. Festgeschrieben wurde, dass ein Erinnern gegen das Wiedererstarken von Diktaturen und die Verhinderung von Verbrechen gegen die Menschheit ausreicht. Damit konnte man sich von den Verbrechen und einer Schuldzuweisung abwenden. „Ein durchgehendes Motiv im Umgang mit den NS-Verbrechen in […] Deutschland besteht bis heute in der Abwehr eines vermuteten und stets befürchteten Schuldvorwurfs.“27 In dieser Art des Distanzierens ist es besonders paradox, dass einerseits das vergangene Geschehen bleiben und nichts mit den gegenwärtig lebenden Menschen zu tun haben soll, andererseits aber dafür genutzt werden soll, kommende Generationen moralisch zu erziehen. Von ihnen wird nämlich erwartet, dass sie auf der Grundlage des Wissens über NS-Verbrechen in der Lage sein sollen, solche Verbrechen zukünftig zu verhindern. Die nächsten Generationen sind damit konfrontiert, dass das Erinnern zum „guten Ton“ gehört und damit formelhaft erscheint, gerade wenn daraus staatstragende Ereignisse inszeniert werden.28 Weil kaum noch ZeitzeugInnen leben, ist als Erinnerungsbezugspunkt der dritten Generation nur noch das ritualisierte nationale Gedenken möglich.29 Sie werden damit konfrontiert, dass Erinnerung immer einen moralisch erziehenden Charakter hat und es wenig Spielraum gibt sich dem Gegenstand anzunähern, weil von Anfang an Konformitäts- und Uniformitätsdruck herrscht. Darin liegt möglicherweise der Grund für die sogenannte „Holocaust-Müdigkeit“.30

Heutige Erinnerungskultur und Erziehungspraxis – Adorno würde sich im Grab umdrehen

Mit Theodor W. Adorno ist Erziehung unweigerlich mit „Auschwitz“ verknüpft und hat ihren Sinn nur in der Ausbildung einer „kritischen Selbstreflexion“.31 Man bezieht sich in Deutschland auf diesen Erziehungsbegriff nur zum Anlass nationaler Selbstdarstellung – gerade dadurch aber wird er formelhaft und leer. Die derzeitige Präsentation von Erinnerung und Erziehung ist alles andere als die Anregung zur Selbstreflexion. Die Shoah wird zu einem moralischen Lerngegenstand erhoben, bei dem es nicht um eine eigentliche Auseinandersetzung geht, da „schon immer alle wissen was gemeint ist.“32 Gemeint ist eine moralische Positionierung und Anerkennung nationaler Werte und Identität, weniger eine kritische Auseinandersetzung mit dem Gegenstand des Nationalsozialismus. Geschichte wird damit zu einem funktionalen Element, das die Anpassung von Individuen an den Staat herbeiführen soll, sie wird aus dem Kontext gerissen. Es wird suggeriert, dass der Nationalsozialismus nichts mit dem eigenen Selbst zu tun habe.33 Auch Entstehungsmomente, die mit dem Zivilisationsprozess einhergingen und in ihm angelegt sind, werden ausgeklammert.34 „Wiederholt wird dabei ein durchgängiges Motiv bundesdeutscher Erinnerungspolitik: die Vorstellung, ein Großteil der Bevölkerung hätte dem System zwar schweigend, aber ablehnend gegenüber gestanden.“35 Diese Exkulpationsstrategie, die der historischen Wirklichkeit entgegen steht, soll von jeder Person in der Bundesrepublik angenommen werden. Es soll ein moralisches Werturteil konstruiert werden, das den Nationalsozialismus als Negativfolie der heutigen Demokratie präsentiert. Dadurch erscheint es nicht möglich, den aktuellen Staat zu kritisieren. Eigenständigen Bewertungen wird kein Raum gelassen. Denn dazu müssten die Entstehungsbedingungen und charakterliche Dispositionen zum Nationalsozialismus in der Breite diskutiert werden.36 Geschieht dies nicht, entsteht ein lückenhaftes Bild, wie es im aktuellen kollektiven Gedächtnis der Bundesrepublik vorherrscht.37 Historische Ereignisse, so auch der NS, sind auf menschliche Handlungen und eine gewisse Freiheit zurückzuführen: das aufzuzeigen gälte es.38 Deshalb kann die deutsche Gesellschaft nicht zum Opfer weniger NationalsozialistInnen stilisiert werden. Um einen kritischen Umgang zu fördern muss thematisiert werden, dass die Verbrechen auf einen vorauseilenden Gehorsam und Eigeninitiative der Deutschen Bevölkerung zurückgehen.40 Erst dann ist es möglich, ein moralisches Urteil zu fällen.

[1] Szneider, Natan: Gedächtnis im Zeitalter der Globalisierung. Prinzipien für eine neue Politik im 21. Jahrhundert. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 66, 3-4/2016, Holocaust und historisches Lernen.S.12. [2] Vgl. Ebd., S.12.; Vgl Messerschmidt, Astrid: Umstrittenes Erinnern – Aneignung des Holocaust-Gedächtnisses in der Frauen- und Geschlechterforschung. in: Elisabeth Tuider (Hg.) QuerVerbindungen, interdisziplinäre Annäherung an Geschlecht, Sexualität, Ethnizität, Berlin 2008, S.229. [3] Vgl. Knigge, Volkhard: „Das radikal Böse ist das, was nicht hätte passieren dürfen.“ Unangenehme Geschichte begreifen. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 66, 3-4/2016, Holocaust und historisches Lernen, S.5. [4] Vgl. Bernd Faulenbach: Erinnerungsarbeit und demokratische politische Kultur heute. in: Claudia Lenz, Jens Schmidt, Oliver von Wrochem (Hg.) Erinnerungskulturen im Dialog. Europäische Perspektiven auf die NS-Vergangenheit, Hamburg 2012, S. 82. [5] Ebd. S. 82. [6] Vgl. Messerschmidt,: Umstrittene Erinnern, S. 229. [7] Vgl. Szneider, Globalisierung, S.12. [8] Messerschmidt, Astrid: Erinnerung jenseits nationaler Identitätsstiftung. Perspektiven für den Umgang mit dem Holocaust-Gedächtnis in der Bildungsarbeit, in: Claudia Lenz, Jens Schmidt, Oliver von Wrochem (Hg.) Erinnerungskulturen im Dialog. Europäische Perspektiven auf die NS-Vergangenheit, Hamburg 2012, S. 103. [9]  Mesch, Wolfgang: „Auschwitz“ als Bildungsinhalt in der deutschen Einwanderungsgesellschaft. in: Claudia Lenz, Jens Schmidt, Oliver von Wrochem (Hg.) Erinnerungskulturen im Dialog. Europäische Perspektiven auf die NS-Vergangenheit, Hamburg 2012, S. 127. [10] Vgl ebd., S.127. [11] Vgl. Faulenbach, Erinnerungsarbeit,: S. 84. [12] Vgl. Szneider, Globalisierung, S. 11. [13] Mesch, Auschwitz, S. 127. [14] Vgl. Messerschmidt, Identitätsstiftung, S. 103. [15] Mesch, Auschwitz, S. 125. [16] Vgl. Knigge, unangenehme Geschichte, S.3. [17] Messerschmidt, Astrid: Geschichtsbewusstsein ohne Identitätsbesetzungen – kritische Gedenkstättenpädagogik in der Migrationsgesellschaft. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 66, 3-4/2016,  Holocaust und historisches Lernen, S. 21. [18] Messerschmidt, Astrid: kritische Gedenkstättenpädagogik, S. 21. [19] Ebd., S. 16. [20] Vgl. Messerschmidt, umstrittenes Erinnern, S. 229 [21] Vgl., Rüsen, Jörn: Holocaust, Erinnerung, Identität. Drei Formen generationeller Praktiken des Erinnerns, in: Harald Welzer (Hg.) Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung, Hamburg 2001, S. 245. [22] Messerschmidt, Astrid: umstrittenes Erinnern, S. 230. [23] Vgl. Rüsen, Holocaust, S. 245. [24] Ebd., S. 246. [25] Vgl. ebd,, S. 246; vgl. Szneider, Globalisierung, S.12f. [26] Rüsen, Holocaust, S. 248. [27] Messerschmidt, kritische Gedenkstättenpädagogik, S.16. [28] Vgl Messerschmidt, umstrittenes Erinnern, S. 230. [29] Vgl. Messerschmidt,: kritische Gedenkstättenpädagogik, S.16. [30] Vgl. Messerschmidt, Astrid: Umstrittene Erinnerung, S.231. [31] Vgl. Adorno, Theodor W.: Erziehung nach Auschwitz, in: ders., Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959-1969, Frankfurt a.M. 1971, S. 88. [32] Messerschmidt, umstrittenes Erinnern, S. 231. [33] Vgl. ebd. S. 231. [34] Vgl. Adorno, Erziehung, S.88. [35] Messerschmidt, umstrittenes Erinnern, S. 233. [36] Vgl. These über manipulativen Charakter: Adorno, Erziehung, S. 97 [37] Vgl. Mesch, Auschwitz, S. 130. Vgl. Messerschmidt, kritische Gedenkstättenpädagogik, S. 17.  [38] Vgl. Knigge, unangenehme Geschichte, S. 130. [39] Vgl. Goldhagen, D. J.: Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, Berlin 1996.  Literatur: Adorno, Theodor W.: Erziehung nach Auschwitz, in: ders., Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Helmut Becker 1959-1969, Frankfurt a.M. 1971, S. 88-104. Faulenbach, Bernd: Erinnerungsarbeit und demokratische politische Kultur heute. in: Claudia Lenz, Jens Schmidt, Oliver von Wrochem (Hg.) Erinnerungskulturen im Dialog. Europäische Perspektiven auf die NS-Vergangenheit, Hamburg 2012, S. 81-91. Goldhagen, D. J..: Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, Berlin 1996. Knigge, Volkhard: „Das radikal Böse ist das, was nicht hätte passieren dürfen.“ Unangenehme Geschichte begreifen. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 66, 3-4/2016,  Holocaust und historisches Lernen, S.3-9. Mesch, Wolfgang: „Auschwitz“ als Bildungsinhalt in der deutschen Einwanderungsgesellschaft. in: Claudia Lenz, Jens Schmidt, Oliver von Wrochem (Hg.) Erinnerungskulturen im Dialog. Europäische Perspektiven auf die NS-Vergangenheit, Hamburg 2012, S. 125- 135. Messerschmidt, Astrid: Erinnerung jenseits nationaler Identitätsstiftung. Perspektiven für den Umgang mit dem Holocaust-Gedächtnis in der Bildungsarbeit, in: Claudia Lenz, Jens Schmidt, Oliver von Wrochem (Hg.) Erinnerungskulturen im Dialog. Europäische Perspektiven auf die NS-Vergangenheit, Hamburg 2012, S. 103- 115. Messerschmidt, Astrid: Geschichtsbewusstsein ohne Identitätsbesetzungen – kritische Gedenkstättenpädagogik in der Migrationsgesellschaft. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 66, 3-4/2016,  Holocaust und historisches Lernen, S. 16-22. Messerschmidt, Astrid: Umstrittenes Erinnern – Aneignung des Holocaust-Gedächtnisses in der Frauen- und Geschlechterforschung. in: Elisabeth Tuider (Hg.) QuerVerbindungen, interdisziplinäre Annäherung an Geschlecht, Sexualität, Ethnizität, Berlin 2008, S. 227 -246. Rüsen, Jörn: Holocaust, Erinnerung, Identität. Drei Formen generationeller Praktiken des Erinnerns, in: Harald Welzer (Hg.) Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung, Hamburg 2001, S.243 – 260. Szneider, Natan: Gedächtnis im Zeitalter der Globalisierung. Prinzipien für eine neue Politik im 21. Jahrhundert. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 66, 3-4/2016, Holocaust und historisches Lernen, S. 10-15.

#makezoopay

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Zookinder

Am 20. September 1913 kam Carla Simon zur Welt. Am gleichen Tag wurde ein Elefantenbaby im Berliner Zoo geboren und nach ihr benannt. Carla ist eines der sogenannten »Zookinder«. Eines der Kinder, deren Eltern Zooaktionäre sind und die deshalb den Zoo mit ihren Familien kostenlos besuchen dürfen. Gerade während der Zwischenkriegszeit war der Berliner Zoo einer der beliebtesten Treffpunkte der Berliner Bürger. Einige der »Zookinder« erinnern sich noch heute an dort glücklich verbrachte Kindheitstage. Nicht, weil der zoologische Garten im Berliner Ortsteil Tiergarten der älteste Zoo Deutschlands ist, oder weil er als artenreichste der Welt gilt. Sondern weil es ihr Zoo war. Zumindest bis 1938. Denn ab da war es Juden verboten, den Zoo zu betreten.

Jüdische Aktionäre

Am Erfolg des Berliner Zoos hatten die Berliner Juden einen großen Anteil: Von den 4000 Aktionären der Zoologischer Garten Berlin AG waren vor dem Nationalsozialismus 1500 Juden. Carlas Vater Walter Simon war nicht nur Aktionär und Mitglied im Aufsichtsrat. Der Zoo war Lebensmittelpunkt für die Familie. Doch bereits in den frühen 1930ern setzte die Ausgrenzung der jüdischen Mitglieder des Aufsichtsrats ein. Geplant wurde, stattdessen Personen mit nationalsozialistischer Gesinnung in den Aufsichtsrat zu berufen. Es gab Widerstand, jedoch ohne Erfolg. Walter Simon, der bis 1933 den Zoo auch juristisch vertreten hatte, teilte im selben Jahr desillusioniert sein Ausscheiden mit. Die Familie Simon besuchte den Zoo danach nicht mehr, der ihr viele Jahre als Ort gesellschaftlichen Austauschs gedient hatte.

Im Zuge der so genannten »Arisierung« war es den jüdischen Aktionären ab 1938 nicht mehr möglich, ihre Aktien zu vererben oder weiterzuverkaufen – sie konnten ihre Wertpapiere lediglich zu Schleuderpreisen an den Zoo übertragen, der diese dann wiederum an nichtjüdische Deutsche verkaufte. Die Entrechtung und der Raub waren die Vorstufe zur Vernichtung. So musste auch Walter Simon seine Wertpapiere im Dezember 1938 verkaufen. Carla Simon konnte mit ihrem Ehemann 1936 nach London fliehen. Walter Simon und seiner Frau gelang die Auswanderung nicht mehr, sie wurden 1942 in Riga ermordet.

Der Berliner Zoo im Nationalsozialismus

Bis heute hat der Zoo nicht angemessen Stellung bezogen. Wie so viele andere deutsche Unternehmen, hat auch der Zoo lange gewartet, um sich zu diesem Teil seiner Geschichte zu verhalten. Die Resultate, eine Gedenktafel am Antilopenhaus und eine Studie über die Rolle des Berliner Zoos während des Nationalsozialismus, bleiben klägliche Versuche, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Die Historikerin Monika Schmidt – die die Studie letztlich publizierte – stellte fest, dass der Zoo seine jüdischen Aktionäre „aktiv, systematisch und aus freien Stücken“ verdrängte und beraubte. Noch im Mai 2015 hielt Zoodirektor Andreas Knieriem eine Rede anlässlich der Verlegung eines Stolpersteins für Hilde Singer, auch eines der »Zookinder« und Tochter jüdischer Anteilseigner. Knieriem erwähnte den Nationalsozialismus nicht einmal. Kein Wort des Bedauerns über das unsagbare Unrecht fand der Zoochef für die enttäuschten Angehörigen.

Im Dezember 2015 folgt nun die Kehrtwende. Getrieben von den Recherchen der Historikerin Schmidt, gibt der Zoo-Direktor das Versprechen: ab jetzt werde auch „die dunkle Seite der Geschichte des Zoos“ wahrgenommen. Entschädigungen werden aber weiterhin ablehnt. Stattdessen setzt man auf eine Ausstellung und eine weitere Hinweistafel. Das alles geschah durch Druck von außen. Sowohl wenige Überlebende der Shoah, als auch einige Kinder ehemaliger Aktionäre haben durch unzählige Briefe und Bitten dazu beigetragen.

Es passt nur allzu gut ins Bild, dass es im Zoo eine Büste für den von 1932 bis 1945 tätigen Zoodirektor Lutz Heck gibt. Ein Freund Hermann Görings, der bereits 1933 ein Fördermitglied der SS war und es sogar bis zum Leiter der NS-Naturschutzbehörde schaffte. Ein weiteres Beispiel für den ignoranten Umgang mit den ehemaligen jüdischen Aktienbesitzern stellt – zumindest bis heute – die Homepage des Zoos dar: Der 2. Weltkrieg wird in einem Satz abgehandelt und lediglich die „zerstörten Bauten“ des Zoos bedauert, um dann sofort zum Aufbauwerk der Nachfolgerin Hecks überzugehen. Der Raub jüdischen Eigentums und die Ausgrenzung und Vernichtung der Juden wird mit keiner Silbe erwähnt. Wir sind uns allerdings sicher, dass wir hier bald eine Sonderseite zum Thema finden werden. Eine kleine Abbitte in HTML-Format. Das wäre ganz im Stil der bisherigen Auseinandersetzung in dieser Institution.

Erinnerung als höchste Form des Vergessens

In der BRD ist es mittlerweile Tradition, zu diesem Thema pathetische Reden zu halten und sich in Bekenntnissen über die deutsche Schuld an der Shoah zu übertreffen. Doch all das wohlfeile Gerede von Verantwortung führt selten zu materieller Entschädigung. Obwohl Deutschland einerseits durch die Enteignung, andererseits auch mittels der Zwangsarbeit sowie der Ausplünderung der von Deutschland kontrollierten Gebiete finanziell enorm profitierte. Angefangen bei den viel zu niedrigen »Wiedergutmachungszahlungen« der jungen Bundesrepublik an Israel, die wohlgemerkt aus politischem Kalkül und nicht aus einem schlechten Gewissen heraus geleistet wurden, mussten sich viele Opfer des deutschen Vernichtungswahns, wenn überhaupt, mit heuchlerischen Gesten und symbolischen Beträgen begnügen. Heute mangelt es vielen der noch lebenden Holocaustüberlebenden allerdings gerade an finanzieller Unterstützung für das Nötigste.

Unsere Forderungen

Es gibt keine Wiedergutmachung für die Shoah. Dies darf den Profiteuren der »Arisierung« allerdings nicht als Entschuldigung oder Ausrede dienen, noch nicht einmal einen materiellen Ausgleich zu schaffen: Die Kinder und Kindeskinder der jüdischen Anteilseigner, so auch die Erben Walter Simons, haben bis heute nichts von den Investitionen ihrer Eltern und Großeltern in den Zoo gesehen, diesbezügliche Anfragen an den Zoo wurden abgeblockt.

Wir fordern, dass die Zoologischer Garten Berlin AG und das an ihr beteiligte Land Berlin die Nachfahren der rechtmäßigen Anteilseigner ausfindig macht und ihnen endlich eine Entschädigung zahlt – samt dem Wertzuwachs, den die Aktie seitdem durchlaufen hat. Momentan ist die Aktie etwa 4000 € wert, mindestens diese Summe wäre also angemessen. Bei einem regelmäßigen Jahresumsatz im unteren zweistelligen Millionenbereich und jährlich ca. 3 Mio. Besuchern sollte dies möglich sein.

Antideutsche Aktion Berlin im Dezember 2015

#makezoopay

Das Urteil und der Schlußstrich.

Das ist ein gutes Deutschland, das beste, das wir jemals hatten. Joachim Gauck

Dann ist sozusagen hier, das notwendige, was – in Anführungszeichen – erwartet wurde, erfüllt, und damit finita la comedia.Michael Wolfffsohn

Ein vor über dreißig Jahren eingeleitetes Gerichtsverfahren wegen „Gefangeneneigentumsverwaltung“ endete nach zahllosen Etappen mit einem Richterspruch „im Namen des Volkes“: Oskar Gröning „hat sich schuldig gemacht der Beihilfe zum Mord in 300.000 zusammenhängenden Fällen“. Dieses Urteil stößt medial auf breite Zustimmung. Nebenklagevertreter wie Thomas Walther jubeln sogar: „Das ist wunderbar. Das ist eine Erfüllung juristischer Träume.“ Doch dieses Urteil ist weit mehr. Es ist der nächste Meilenstein auf dem Weg zum endgültigen Schlußstrich.

Nachdem die Staatsanwaltschaft Frankfurt 1977 ein Ermittlungsverfahren gegen Oskar Gröning eingeleitet hatte, wurde es nach acht Jahren eingestellt. „Nach gründlicher Durcharbeitung der Vorgänge ergibt sich kein zur Erhebung der öffentlichen Klage hinreichender Tatverdacht“, lautete die damalige Begründung. Weitere Argumente für die Einstellung des Verfahrens sollten später dargelegt werden. Doch dazu kam es nie. Im Namen des deutschen Volkes wollte in dieser Zeit niemand den „Buchhalter von Auschwitz“ vor Gericht zerren.

Es brauchte mehrere Jahrzehnte, bis ein Richter, in diesem Fall der Vorsitzende Richter der 4. Großen Strafkammer des Landgerichts Lüneburg, zu dem Schluß kam, dass „Auschwitz schlicht und ergreifend eine auf die Tötung von Menschen ausgerichtete Maschinerie“ war. Und somit jeder, der daran in irgendeiner Form mitwirkte, sich der Beihilfe zum Mord strafbar machte. Interessant daran ist nicht nur die Frage, warum noch kein Gleisbauer, Lokomotivführer oder Rangiermeister sich vor Gericht verantworten musste, sondern auch, wieso innerhalb von dreißig Jahren sich die Sicht der Dinge derart verändert hat.

Aus der Sicht der Täter.

Der Prozess gegen Gröning hat die ungeheuerlichen Verbrechen greifbar gemacht“, kommentiert Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung das Urteil gegen Oskar Gröning. Wie so oft liegt er auch in diesem Fall falsch. Ungeheuerliche Verbrechen können nicht greifbar, quasi für den alltäglichen Hausgebrauch nutzbar, gemacht werden. Sie sind und bleiben unbegreiflich. Was Prantl wirklich meint, kann man einige Zeilen später lesen: „Es geht und ging nicht um die Höhe der Strafe, es geht und es ging um den Schuldspruch“. Ein Schuldspruch um des Schlußstrichs willen. Ein Schuldspruch der nicht Recht spricht, deshalb ist dem Prantl die Höhe der Strafe egal, sondern der das neue Deutschland frei spricht.

Die Aufarbeitung der ‚Schande Deutschlands‘, juristisch, historisch und politisch ist die Voraussetzung für eine aktivere Rolle Deutschlands in der Welt. Dabei ist nicht von Interesse wie diese Auseinandersetzung stattfindet, allein es reicht, dass sie stattfindet. Genau dies gilt auch für den Prozess. Es war nicht wichtig wie lange Oskar Gröning hinter schwedischen Gardinen verschwinden muss, ob er überhaupt seine Strafe antritt, sondern das er verurteilt wird. Und zwar „im Namen des Volkes“.

Richter Kompisch drückte am Ende des Prozess sogar seine Dankbarkeit aus, dass Oskar Gröning seinen Lebensabend – zumindest teilweise – dem neuen Deutschland opfert. „Insgesamt verdient Ihr Verhalten durchaus Respekt, Herr Gröning“, da er sich dem Verfahren und seiner Verantwortung gestellt habe. „Ich habe die Hoffnung“, so Kompisch, „dass diese Entscheidung für Sie vielleicht ein Schlussstrich unter das Geschehen sein könnte.

Wir dagegen schließen uns Michael Wolffsohn an: „300.000 Märtyrer, drei Jahre, das ist doch in keinem Verhältnis zueinander. Das heißt, wenn ich Gerechtigkeit anstrebe durch ein derartiges Rechtsverfahren, sehe ich keine Gerechtigkeit darin.

Antideutsche Aktion Berlin im August 2015