Heldendichtung

Zum Basiswissen einer marxistischen Charaktermaskenkunde gehört, dass politische und ökonomische Krisen jeweils mit den für ihre Zeit spezifischen Akteuren daher kommen. Es verwundert deshalb nicht, wenn Verfechter dieser Charaktermaskenkunde sich nicht einfach aus der Ruhe bringen lassen und daher glauben, mit klarem Kopf das vor ihnen liegende Phänomen sezieren zu können. Wer Beispiele sucht, wird auf den – oft ästhetisch weniger ansehnlichen – Covern einer beliebigen Ausgabe einer beliebigen linksradikalen Theoriezeitschrift fündig werden.

Gegen dieses Ruhigbleiben ist trotz aller Liebe für aufständische Unruhen und spontan-ausbrechende Revolte auch erst einmal nichts einzuwenden. Sicherlich wirken die Texte oft distanziert und vom eigentlich behandelten Ereignis entfremdet, wenn die Wut bis zur Unkenntlichkeit sublimiert wurde. Garantiert macht es die meisten Zeitschriften weniger lesenswert, weswegen nur glühende Anhänger mehr als ein paar Ausgaben ernsthaft verfolgen. Jedoch ermöglicht diese Ruhe ein Krisenphänomen, wie das des Edgelords, unaufgeregt zu betrachten.

Wenn also Ulf Poschardt, seines Zeichens Häuptling aller prätentiöser Poser von der Nordsee bis zu den Alpen und nebenberuflich als Chefredakteur der Welt angestellt, einen Text über den 2010 verstorbenen marxistischen Theoretiker Karl Held schreibt, dann ist es durchaus angebracht zu fragen: Welches Interesse hat der werte Herr Chefredakteur solch einen Text zu veröffentlichen?

Allgemein kann man davon ausgehen, dass das Interesse der meisten in der postmodernen Medienproduktion darin besteht, die ihnen eigene Ware Arbeitskraft samt ihres popkulturellen Überbaus – die eigene Marke – gewinnbringend zu veräußern. Kurz: sie denken klassisch-bourgeois an erster Stelle an sich selbst. Wenn also in meinungsstarken Texten historische Anekdoten ausgegraben werden, dient dies in erster Linie dazu sich selbst mit gewichtigen Tant zu behängen: „Die Beute wird, wie das immer so üblich war, im Triumphzug mitgeführt“, wusste schon Walter Benjamin.

Wenn Ulf Poschardt über Karl Held schreibt, dann nicht, weil er seinen Lesern diesen linken Theoretiker näher bringen will und auch nicht um mit dessen Hilfe dogmatische Marxisten als Leser zu gewinnen – wer von denen hätte überhaupt ein Welt Plus Abo, um den Text lesen zu können? Ihm geht es darum sich selbst in – oder besser noch: als – Held zu sehen, dessen Vornamen er deshalb im Artikel auch für bürgerlich und obsolet erklärt. Um gar keinen Zweifel zu lassen endsubstantiviert er dessen Nachnamen im Weiteren und macht ihn zu jemanden der „heldet“, was das Nacheifern sicherlich erleichtert.

Held ist man, – wenn man den Text destilliert, dadurch, dass man auch auf „sprachlicher Ebene Dissidenz“ vollzieht und sich nicht gemein macht mit einem Zeitgeist, den Poschardt schon oft genug als woke umschrieben hat. Nur logisch, dass Held sich der „Kathederhaftigkeit“ des Hochdeutschen verweigert – während genau jenes, wie Klaus Bittermann in einer Antwort schreibt, eine Emanzipation aus dem Provinziellen versprechen könnte. Mit jeder Faser ist Held von der Gesellschaft abgekehrt, mit jeder Geste wird diese Distanz betont. Man muss nicht mal Nietzsche gelesen haben, um hier an seinen Übermenschen denken zu müssen. Denn Held sein heißt auch dann ruhig zu bleiben, wenn das Publikum wie auf dem Konkret Kongress 1993 lauthals buht. Es heißt stärker zu sein als die Anderen, weswegen ihn Poschardt sicherheitshalber zum Nihilisten im Stile eines Jewgeni Basarow macht.

Dezent unter den Tisch fällt bei ihm, dass Held nicht alleine gegen ominöse Andere stand, sondern sich immer als Teil der Marxistischen Gruppe (MG) verstand und in deren Marxistischer Streit- und Zeitschrift (MSZ) nicht als eigenständiger Autor genannt wurde. Wenn Poschardt also die MG zum bloßen Anhängsel von Held erklärt, liegt der Verdacht nahe, dass der Chefredakteur hier vor allem über sich und das von ihm gedachte Verhältnis zu seiner Zeitung schreibt. Dementsprechend war das Scheitern von MG und MSZ, die sich 1991 auflösten, für den 55jährigen Kreuzfahrer gegen die Wokeness keine Reaktion auf die verstärkt einsetzende Repression gegen die Organisation, sondern Teil der Idee. Der schon seit der Gründung 1971 an den Tag gelegte Verzicht auf realpolitischen Ehrgeiz deutet er dementsprechend als Konzeptkunst. Wer einmal auf einer Veranstaltung des MSZ-Nachfolgers Gegenstandpunkt war, kann dieser Deutung nur schwer widersprechen; wer Poschardts Onlineauftreten verfolgt, kann auch diesen kaum anders begreifen.

An dieser Stelle ist der Punkt erreicht, wo die marxistische Charaktermaskenkunde an eine Grenze gerät und die Frage nach dem Interesse kaum weiter hilft. Es ist jene Grenze, über die Held auf dem Konkret Kongress 1993 mit Wolfgang Pohrt und Hermann Gremliza stritt; jener Moment, in dem „die Psychologie des bürgerlichen Individuums“ nur noch durch die Massenpsychologie Sigmund Freuds verstanden werden kann. Wenn die Selbsterhaltung aufgegeben wird und aus Bürgern und Arbeiter nur noch Volksgenossen werden, dann gelangt der Marxismus seit 1938 immer wieder an diese unüberwindbare Hürde.

Besonders hebt Poschardt in seinem Artikel hervor, dass für Held all die mit der Wiedervereinigung einhergehende Gewalt gegen Migranten nur eine Fußnote des deutschen Imperialismus sei. In dieser Projektion verstecken sich zwei verschiedene Zeitebenen, die zusammen gedacht werden, aber nicht gehören. Während der Chefredakteur der Welt nicht müde wird der gegenwärtigen antirassistischen Bewegung vorzuwerfen nur ihr eigenen Befindlichkeiten im Sinn zu haben, richtete sich Held dagegen explizit gegen eine im Entstehen begriffene antideutsche Bewegung. Beides wird wiederum von Poschardt in einer Traditionslinie gesehen, weswegen er auch Wolfgang Pohrt und die Antideutschen als Superlinken und Ursprung der Identitätspolitik stilisiert.

Dieses nicht gerade originelle Feindbild hat sich der fränkische Dünnbrettbohrer aus den USA entliehen. Seit Jahrzehnten hetzen evangelikale Rechte gegen den so genannten Kulturmarxismus, wo so unterschiedliche Theoretiker wie Theodor W. Adorno und Judith Butler in eins fallen und an eine von langer Hand geplante Zersetzung des christlichen Zusammenlebens geglaubt wird. Dabei handelt es sich um ein antisemitisches und rassistisches Feindbild, welches auf Authentizität baut, die, gerade weil es sie in der Kulturindustrie nicht geben kann, mit Gewalt wahr gemacht werden muss.

In der MSZ stand Anfang der 1990er schon jede individuelle Leiderfahrung delegitimierend und an die Antideutschen adressiert, dass der nationale Taumel bloß für die „Manövriermasse deutscher Macht mit viel Menschelei zum Unterhaltungsgenuss aufbereitet worden“ sei; bloß ein Teil der „Grundlüge des Nationalismus“, welches den imperialistischen Anspruch auf das Staatsvolk zu einem Recht des Menschen macht, aber ohne wirklich reale politische Relevanz. Kein „altbekanntes faschistisches Kriegsprogramm nach außen und mörderisches Säuberungsprogramm nach innen“ ließen sich ausmachen. Anders lautende Analyse der sich angeblich anbahnenden Manifestation des neuen Deutschlands „fallen allerdings ganz unökonomisch aus.“

Es ist diese rational daherkommende Gleichgültigkeit, in der sich Poschardt wiederfindet, um jede Wut gegen die Zustände in diesem Land als obsolet und moralisch zu verwerfen. Dem Fühlen selbst wird der Kampf angesagt und nicht der geistigen Überhöhung des Fühlens. Dass MG und MSZ nach dem Scheitern der Studentenrevolte genau jenem entmenschlichenden Denken auf den Leim gingen, dass das Kapitalverhältnis jedem Politikern aufzwingt, gehört zur linken Tragödie des zwanzigsten Jahrhunderts. Dass Ulf Poschardt feuilletonistisch das kollektive Leiden individualisiert, wiederum zum faschistischen Programm des 21. Jahrhunderts.

Und während immer noch große Teile der Linken denken, dass die Begriffe des Marxismus – wie Klasse oder Imperialismus beziehungsweise Diktatur des Proletariats – unbeschadet aus der ersten Verdichtung hervor gegangen sind, verdichtet das „neoliberale Twitter-Rumpelstilzchen“ im Stile des 20. Jahrhunderts den Marxismus erneut zum antibürgerlichen Ressentiment. Beide tun so, als hätte sich die deutsche Volksgemeinschaft in den entscheidenden Phasen der Moderne nicht immer als blutrünstige Beutegemeinschaft konstituiert, wenn auch jeweils mit anderen Absichten.

Interessanterweise sind es aber die zum Feindbild aufgeladenen Antideutschen, die die Einfachheit des Antiimperialismus und des Klassenkampfes zu Nichte machen beziehungsweise die Liebe zur deutschen Kulturnation denunzieren. Auf dem Konkret-Kongress 1993 erinnerte ein Gast genau daran: „Dass ihr nie darüber diskutieren wollt, dass dieses Land das Land nach Auschwitz ist; dass dieses Land das Land von Auschwitz ist; dass diese Täter […] Brandsätze bei Nacht und Nebel werfen, weil sie über Gaskammern und Zyklon B noch nicht verfügen, weil aber Gaskammern und Zyklon B genau das sind, was in ihren dumpfen Köpfen umgeht. Darüber könnt ihr nicht Reden, weil ihr selber zu bescheuert seid.“

Der linke Kompromiss mit der Herrschaft

Antizionismus als linker Kompromiss mit der Herrschaft.

„In Wirklichkeit spekuliert diese Behauptung mit der Tatsache, daß der historische Ursprung des Antisemitismus im Herzen der westlichen Zivilisation liegt, um zu suggerieren, seine Geltung beschränke sich darauf. Aber die Gefahr besteht viel mehr darin, daß er alle ansteckt, die dem Einfluß dieser Zivilisation unterliegen.“
– Leon Poliakov 1


Der folgende Text ist der Versuch damit zu beginnen, die antisemitischen Ereignisse und das Verhalten der Linken hierzulande einzuordnen. Dabei werden viele Gedanken aufgegriffen, die wir an anderer Stelle bereits geäußert haben oder auch Andeutungen auf andere Autor:innen gemacht, die wir nicht in Gänze ausführen können, ohne dass der Text völlig überladen wird. Wir haben uns deshalb dafür entschieden, mit einem Fußnotenapparat zu arbeiten und so diverse Ergänzungen, Vertiefungen und Erklärungen einzuarbeiten. Wir wollen versuchen, unsere Texte durch diese Methode Leser:innen mit verschiedenen Hintergründen zugänglich zu machen.


Im Mai 2021 fanden die schwerwiegendsten Raketenbeschüsse in der Geschichte Israels statt. Wie immer, wenn Israel angegriffen wird, wurde auch dies von Demonstrationen und einigen antisemitischen Attacken in Deutschland begleitet. Trotz zahlreicher Lippenbekenntnisse gegen Antisemitismus – wobei die (radikale) Linke Bremens auffallend schweigsam war2 – wird gerne außer Acht gelassen, welche radikalen Ausmaße der Antisemitismus in der Gesellschaft annimmt. Dass Juden:Jüdinnen vor Synagogen angegriffen werden, ist leider nichts Neues. Die Aggressionen der Gleichsetzung von Juden:Jüdinnen mit dem Staat Israel, die exemplarisch in Gelsenkirchen zutage traten, lassen allerdings die oft vorgenommene Schlussfolgerung, dass Antisemitismus und sein gesellschaftlich anerkannter Bruder Antizionismus nur von sogenannten ewiggestrigen Heimatverliebten (und solchen, die sich dazuzählen) ausgehen, nicht zu.3 Denn auch auf einer sich als links definierenden Demo am Bremer Osterdeich wurde hemmungslos die Sehnsucht nach einem Nahen Osten ohne jüdischen Selbstschutz propagiert.4  Die Tragweite der Ideologie der islamischen Rechten wird in dieser einseitigen Debatte gerne einfach vergessen.5 Außerdem wird außer Acht gelassen, welche Kontinuitäten und Einflüsse diese Ideologie abseits fundamentalistischer Milieus bereits jetzt besitzt.6 Die im Minutentakt erfolgende Propaganda der „digitalen Intifada“ (Ben Salomo) und die daraus resultierenden Erklärungen, in denen der Nahostkonflikt mal eben in 5 Minuten gelöst wird, ist nur eine von vielen Begleiterscheinungen. Beispielsweise wird Tarek Baé als populärer Antirassist gefeiert. Baé, der ehemalige SETA- und heutige TRT-Mitarbeiter7 , der unter anderem berechtigte Kritik an den organisatorischen Verstrickungen des Zentralrats der Muslime in Deutschland mit türkischen Nationalisten als islamophob denunzierte, wird wie ein unabhängiger Qualitätsjournalist im Kontext des Nahostkonflikts zitiert und geteilt. Bevorzugt wird er dabei als Gegenspieler der als zionistisch imaginierten bürgerlichen Presse inszeniert.

Oft wird darauf verwiesen, dass diese Ideologeme der islamischen Rechten neue, isolierte Phänomene des rechten Rands seien, mit denen es bislang kaum Berührungspunkte gab. Dagegen spricht zum Beispiel in Bremen, dass es bereits 2017 Kontakte von muslimischen Gemeinden zur libanesischen Terrorzelle Hisbollah gab.8 Ein Reportagebeitrag der ARD von 2018 zeigt, dass der lange Arm des autoritären iranischen Regimes, dessen Ideologie inhärent die Vernichtung des Staates Israel fordert,9 bis nach Delmenhorst reicht. Aktueller lässt sich der Al-Quds-Tag nennen, der alljährlich die Vernichtung des israelischen Staates fordert und am 8. Mai in Bremen in Form eines Autokorsos begangen wurde. Doch nicht nur hier lässt sich erkennen, welche einfachen Erklärungen den Menschen nutzen, um dem Juden unter den Staaten das Existenzrecht abzuerkennen. Ebenfalls fand auf dem Bremer Domshof eine antizionistische Demonstration statt, auf der sich ein bekanntes Gesicht der Bremer Linkspartei und die Träger:innen mindestens einer Antifa-Fahne gemeinsam mit türkischen Nationalisten unter den Teilnehmenden einreihten.

Der sich auf Demonstrationen und in Aufrufen artikulierende Antizionismus geriert sich dabei als antikoloniales, ergo antirassistisches Unterfangen, das seinem Bestreben nach fortschrittlich und demnach über regressive Tendenzen wie Antisemitismus erhaben ist. Dieses Narrativ wird zum einen durch die demagogische Konstruktion Israels als koloniales Projekt des Imperialismus und zum anderen durch die stetige Abgrenzung von eindeutig antisemitischen Akteur:innen der islamischen wie deutschen Rechten gestützt. Zurückzuführen ist diese Tendenz auf den zunehmenden Einfluss der gegenwärtigen intersektionalen Ansätze, die Antisemitismus als bloße Herrschafts- und Unterdrückungsform begreifen. So können Unterdrückte – und jene, die als solche betrachtet werden – nicht selbst unterdrückenden Ideologien anhängen. Sie werden zu unmündigen Subjekten, denen die Möglichkeit, selbst zu unterdrücken, abgesprochen wird. Es fehlt ein Begriff davon, dass sich Antisemit:innen etwa in ihrem Hass auf „die da oben“ selbst als Unterdrückte wahrnehmen. Dieser Ansatz kann wesentliche Spezifika des Antisemitismus nicht erfassen und ist daher in seiner Analyse zwangsläufig verkürzt.10 Der Antisemitismusbegriff der pro-palästinenischen, woken Linken geht so in einem Gros der Fälle nicht über eine Form des Rassismus, die sich explizit gegen Juden und Jüdinnen richtet, hinaus. Dadurch verkommt die Antisemitismuskritik zu einem Lippenbekenntnis, das nur der Festigung der eigenen Position dient und keinerlei Widerspruch darin sieht, auf Demonstrationen implizit und explizit die Vernichtung des jüdischen Staates und seiner Bewohner:innen zu fordern.11 

Emanzipatorische Kritik an diesen Zuständen aus vorgeblich antideutschen Kreisen wird dabei allein mit Verweis auf die verortete Gesinnung der Kritiker:innen bestenfalls ignoriert, im Zweifelsfall aber diffamiert. Die explizite Abgrenzung sowohl gegenüber offen antisemitisch auftretenden Antiimperialist:innen als auch vermeintlich rassistischen bzw. „islamophoben“12 Antideutschen erinnert dabei partiell an eine innerlinke Adaption der Hufeisentheorie, als deren gesellschaftliche Mitte sich die Vertreter:innen des antizionistischen Antirassismus wähnen. Parallel zur herkömmlichen Hufeisentheorie werden auch hier Extreme konstruiert, die ohne weitere argumentative Grundlage aus dem konsensbedürftigen Diskurs ausgeschlossen werden können. Gleich der bürgerlichen Mitte ist allerdings auch die linksradikale Mitte nicht über regressive Tendenzen erhaben. Die äußerliche Distanzierung von offen zur Schau getragenem Antisemitismus bedeutet noch keine Absage an israelbezogenen Antisemitismus, Schuldabwehrantisemitismus oder die Relativierung der Shoah.  Die Stigmatisierung der Extrempole – Antideutsche und Antiimperialist:innen – erschwert eine solidarische, innerlinke Kritik an diesen Zuständen. Gerade die Linke, die vermittels der bürgerlichen Hufeisentheorie selbst diffamiert und marginalisiert wird, sollte derlei Immunisierungsstrategien wachsam und kritisch gegenüberstehen. Die aktuellen Entwicklungen weisen jedoch eher in eine gegenläufige Richtung.13

Allerdings wird das Narrativ der rassistischen Antideutschen und die damit verbundene Karte, Antisemitismus und Rassismus gegeneinander auszuspielen, durch Post-Antideutsche, die sich selbst als Rechtsantideutsche sehen, aktuell bestärkt. So gab es Stimmen aus diesem Umfeld, die sich nicht entblödeten, mit der Parole „Antifa heißt Abschiebung“ auf die antisemitischen Vorfälle zu reagieren und so implizit eine antisemitismusfreie westliche Gesellschaft zu proklamieren, anstatt Judenhass in all seinen Facetten als globales Phänomen zu begreifen. Sie reagieren so mit einer rassistischen Logik auf Antisemitismus. Wie nationalistisch und darüber hinaus fatal für Israel diese Logik ist, haben die Genoss:innen von antideutsch.org aufgezeigt: „Hypothetisch angenommen, man könnte überhaupt Antisemiten einfach so abschieben. Ignorieren wir einfach mal, dass Antisemitismus in Deutschland zu Hause ist und die Regierung mit dem Iran Deals macht, der Israel auslöschen will. Was dann? Man schiebt Menschen ab – was ohnehin eine Praxis ist, die kein Kommunist gut finden kann -, die ihren Vernichtungswunsch gegenüber Juden artikulieren und schickt sie in den Libanon oder Gaza-Streifen oder das West-Jordanland? Was tuen sie wohl dort? Man muss schon sehr national gesinnt sein und sich einen Scheiß für die Situation von Juden außerhalb Schlands interessieren, um so etwas zu fordern. Und dazu kommt nun noch all das, was zu recht seit Jahrzehnten von der radikalen Linken an Abschiebungen kritisiert wird.“14

Diese oben beschriebenen Post-Antideutschen sind wesensverwandt mit sich als antikolonial bezeichnenden Antisemiten. Wo sich bei den einen den Jüdinnen:Juden und dem „Jude[n] unter den Staaten“ (Hans Meyer) bedient wird und er zum nutzbaren Objekt gemacht wird, um dem eigenen Hass auf Rassifizierte ein Ventil zu geben, sind es bei den sich als antikolonial verstehenden Linken die fremden, urtümlichen Völker in der Peripherie der Welt, die gerecht und voller Ehrlichkeit ihren Kampf gegen den abstrakten jüdischen Staat und den „großen Satan“ in Form der Vereinigten Staaten von Amerika führen. Beide Logiken ergänzen sich so und nehmen in ihrer rassistischen Kritik des Antisemitismus Elemente antisemitischen Denkens auf, ebenso wie die antisemitische Kritik des Rassismus rassistische Elemente bedient.

Hier deuten sich zwei Seiten derselben Medaille an. Beide Weltbilder sind sich ähnlicher, als sich die sich vermeintlich unversöhnlich gegenüberstehenden Parteien je eingestehen würden. Bei den Post-Antideutschen und bei Teilen der „antikolonialen“ Linken sind die gesellschaftlich Rassifizierten bloße Objekte Weder Juden:Jüdinnen noch Rassifizierte kommen in dieser Logik als selbständige Subjekte vor, sondern bloß als politische Verhandlungsmasse, die die eigenen Herrschaftsvorstellungen legitimiert.. Ob man nun den Jihadisten, der in Gaza nicht in die Norm passende Menschen verbrennt, als Freiheitskämpfer verklärt oder den vor dem Krieg Geflüchteten mit ebenjenen Jihadisten gleichsetzt, um seinem Verlangen nach Rassimus nachgehen zu können -das „Fremde“ ist für beide eine homogene Masse, an der sich eigene Wünsche und Triebregungen entladen können.15 

Der rechtsantideutsche Philozionismus ist nichts anderes als ein Spiegelbild anstelle der notwendigen Überwindung des Antizionismus. Dieser Antizionismus, der sich gegen den jüdischen Agenten der Herrschaft von Staat und Kapital richtet, ist eine konformistische Rebellion, die am Ende die tatsächliche Rebellion gegen die Herrschaft verhindert. Solange Israel existiert, kann die Hamas ihre Herrschaft legitimieren und die notwendig gewalttätigen Anteile dieser Herrschaft auf Israel abspalten. Linke in Deutschland beteiligen sich daran ideologisch, weil auch sie gedanklich den Frieden mit der Herrschaft gemacht haben, wenn sie verlangen, dass sich der Mensch unter irgendein über den Menschen stehendes Konstrukt – wie Kultur, Ethnizität oder Identität – einzuordnen hat. In einem Kollektiv gibt es stets Differenzen, wenn das Kollektiv gemeinsam etwas untergeordnet ist – selbst wenn es nur eine Idee ist – muss es diese Differenzen abspalten können, um handlungsfähig zu bleiben.16 Dass Rechte Antisemit:innen sind, erachten wir im Übrigen nicht weiter für erwähnenswert, erklärt es sich doch von selbst, dass Kollektive von Menschen, die der Herrschaft affirmativ gegenüberstehen, auch kein Problem mit herrschaftslegitimierenden Ideologien haben. Doch dass Linke, die wir eigentlich als Genoss:innen im Kampf gegen Herrschaft sehen, in ihrem Denken einen Kompromiss mit der Herrschaft gemacht haben, können wir nicht so einfach akzeptieren – schließlich brauchen wir die Bundesgenossenschaft mit ihnen im Kampf gegen Staat, Kapital und ihre rechten Verteidiger.

Die Theorien des Anti- und Postkolonialismus versagen in ihrem Versuch, die Problematik des Antizionismus zu verstehen. Das hat einerseits damit zu tun, dass der Antikolonialismus historisch – so gerechtfertigt er im konkreten Moment sicherlich auch war – kein Angriff gegen die Herrschaft als solche ist, sondern der Versuch, die Herrschaft in die Hände des eigenen Volkes zu legen. Daraus resultieren tendenziell die oben beschriebenen Abspaltungsmechanismen. Vor allem aber liegt es oft daran, dass Kolonialismus als Erklärung nicht weiter in historische Entwicklungen eingebettet wird und Europa als ein kolonisierender Block verstanden wird. So fällt etwa unter den Tisch, dass kolonialistische Bewegungen überhaupt Juden:Jüdinnen aus dem heutigen Israel vertrieben, dass Osteuropa, die neue Heimat vieler Juden:Jüdinnen, selbst wiederum koloniale Spielfläche dreier imperialer Großmächte war und nicht zuletzt, dass die koloniale Expansion sehr häufig mit Versuchen einer antisemitischen Homogenisierung im Inneren einherging: 1492, das Jahr, in dem Kolumbus die Kolonisierung der Amerikas einleitete, war auch das Jahr, in dem Juden aus Spanien vertrieben wurden.

Kapitalismus – als dessen immanente Bestandteile Kolonialismus und Imperialismus verstanden werden müssen – lässt sich spätestens seit dem historischen Moment, in dem Herrschende und Beherrschte sich kollektiv zum Judenmord zusammenschlossen, nicht auf ein einfaches Herrscher versus Beherrschende-Schema reduzieren17. Der antikoloniale Befreiungskampf, der sich gegen koloniale Herrschaft auflehnt, schafft es nicht aus dem kapitalistischen System herauszutreten und fällt selbst in kapitalistische Muster zurück, wenn er etwa einen Staat errichtet. Zugleich wird die für den antikolonialen Befreiungskampf notwendige Kollektivierung selbst repressiv nach innen, weil auch sie eine Triebunterdrückung von ihren Mitgliedern verlangt. Antizionismus und Antisemitismus können die hier nötige Abfuhr angestauter Triebe und zugleich eine Legitimation des Verzichts liefern. Diese Mechanismen werden jedoch von einer Kritik des Kolonialismus, die sich einer dialektischen Betrachtung des Kapitalverhältnisses verweigert, nicht erfasst. Im Gegenteil, sie werden sogar reproduziert.

Das in postkolonialen Zusammenhängen verbreitete Narrativ der weißen und rassistischen Antideutschen wiederum erfüllt das, was Sartre als Tatbestand des Antisemitismus definiert: die totale Wahl. Die eigene Anschauung wird unangreifbar, indem Kritiker:innen des Antisemitismus als Rassisten betrachtet und so aus der Linken ausgeschlossen werden. Mit Verweis auf psychoanalytische Theorien des Antisemitismus kann man davon ausgehen, dass, je vehementer das Narrativ bedient wird, desto mehr die antisemitischen Individuen selbst eine Ahnung davon besitzen, dass sie antisemitisch agieren oder sich in ihrem Denken noch längst nicht frei von den Denkformen des Kapitals gemacht haben. Eine Ahnung, die sie sich nicht eingestehen können, sehen sie sich doch als Postkoloniale im essentialistischen Antagonismus zur gesellschaftlichen Herrschaft. Die antisemitische Projektion ist das bewährteste Mittel, um dieses fetischisierte Denken – die immer nur relativ mögliche Rebellion wird in das Individuum hineingelegt – aufrechtzuerhalten: Das Festhalten am Antisemitismus und die Verdrängung der schmerzhaften Einsicht der eigenen Verstrickung erfüllt so die Funktion von „self care“.18 Wir haben am eigenen Leib erfahren, wie sich antisemitische Narrative materialisieren und wie kollektiv die ausgeübte Gewalt rationalisiert wird, um jede schmerzhafte Selbsterkenntnis im Keim zu ersticken.

Den hier angedeuteten antisemitischen Angriff haben wir in zwei früheren Texten mehrfach analysiert und Falschbehauptungen richtig gestellt.19 Dennoch scheint es angesichts der sich hartnäckig haltenden Lügen relevant zu sein, zumindest den Versuch zu wagen, diesen entgegenzutreten. Trotz unseres Bewusstseins, dass die Personen, welche die Wahl getroffen haben, Antisemit:innen zu sein, sich von einer weiteren Darstellung wenig beeindrucken lassen, hoffen wir zumindest darauf, dass diesen Antisemit:innen und ihren Falschbehauptungen künftig mehr Gegenwind anstelle von unkritischer Zustimmung und Verbreitung entgegenschlägt.

Nach der Ermordung von Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar, Kaloyan Velkov und Gabriele Rathjen20 am 19. Februar in Hanau durch einen faschistischen Terroristen gab es in vielen Städten Gedenkveranstaltungen für die Ermordeten. So wurde auch in Bremen ein Gedenkspaziergang durch das Viertel in Richtung Innenstadt veranstaltet, der bereits zuvor als Demo nach einem rechten Brandanschlag auf die Friese angemeldet war. Zu dieser Demonstration trafen sich viele über die Anschläge Erschütterte zum gemeinsamen Gedenken, so auch unsere Gruppe. Da wir auf diesem Gedenkspaziergang auf den antisemitischen Hintergrund des Täters aufmerksam machen wollten, nahmen wir uns zwei (ca. 20x15cm große) Israelfähnchen mit. Getroffen wurde zwar kein Jude* und keine Jüdin* dennoch waren auch sie mit dem Angriff gemeint.21 Nach Erreichen des Versammlungsorts entdeckten wir weitere Nationalflaggen, unter anderem kubanische und kurdische, welche offensiv geschwungen wurden.22 Dieser Eindruck verleitete uns zu dem Trugschluss, dass unsere im Vergleich winzigen Flaggen mit dem Davidstern kein großes Aufsehen erregen würden.

Nach einem erfreulichen Kommentar zu den israelischen Fähnchen und zwei irritierenden Gesprächen setzte sich der Zug in Bewegung. Nach ein paar Minuten zerstreute sich unsere Gruppe, da wir nicht mit Bedrohungen auf einer Gedenkveranstaltung rechneten. Als zwei Gruppenmitglieder mit den Fähnchen an einer ca. 10-15 Personen umfassenden Gruppe vorbeilief, erfolgte der antisemitische Angriff. Aus dieser großen Gruppe heraus löste sich zuerst ein (mittlerweile in Hamburg lebender) stadtbekannter Antisemit und versuchte lautstark und aggressiv, einem erschrockenen Gruppenmitglied die Flagge mit dem Davidstern zu entreißen. Das besagte Gruppenmitglied suchte Schutz am Rande der Demo, doch der Aggressor, angestachelt von der tatkräftigen Unterstützung seiner Gruppe, versuchte weiterhin uns die Flaggen zu entreißen. Nur durch das beherzte Eingreifen weiterer Demoteilnehmer:innen konnte der Angriff auf unsere bei weitem unterlegene Gruppe abgewendet werden. Im Nachgang wurden wir noch bespuckt und verängstigt und gedemütigt von den Angreifer:innen zurückgelassen. Diese konnten trotz unserer Berichterstattung den Anmelder:innen gegenüber weiter an der Demo teilnehmen und uns noch ein weiteres Mal verbal bedrohen, bis wir die Demo verließen. Später durften wir mehrfach lesen, dass wir nicht Opfer eines antisemitischen Angriffes gewesen seien, sondern rassistische Aggressoren.23

Die im Nachgang immer wieder ins Gespräch gebrachte Kategorisierung um den Begriff Rassismus zeugt im Kontext des Antisemitismus von einer unzureichenden Analyse des Nationalsozialismus. Das Verständnis von Nationalsozialismus als kolonialistisch-imperialistisches Phänomen, also als Symptom des Kapitalismus, verkennt, dass die nationalsozialistische Volksgemeinschaft die negative Aufhebung des Widerspruchs von Kapital und Arbeit war, die zum kollektiven Massenmord der Shoah führte. Die Shoah wurde nicht aus wirtschaftlichem Interesse begangen, sondern um die als übermächtig imaginierten Juden:Jüdinnen auszulöschen. Hier zeigt sich auch der bereits zuvor angesprochene Unterschied zwischen Rassismus und Antisemitismus, den viele Postmoderne und Antiimperialist:innen oftmals ignorieren. Rassismus geht von den minderwertigen Anderen aus, während Antisemitismus von den übermächtigen Juden und Jüd:innen ausgeht, die wegen ihrer Übermacht umso konsequenter vernichtet werden müssen, denn der/die Antisemit:in geht von der drohenden eigenen Vernichtung aus. Deswegen wurden auch vor allem Osteuropäer:innen zur Zwangsarbeit eingesetzt, während Juden und Jüd:innen primär vernichtet wurden. Die postmoderne Faschismustheorie begreift den Nationalsozialismus zwar nicht nur als kolonialistisch bzw. imperialistisch, wie im antiimperialistischen Verständnis, sondern auch als weiß. Jedoch bezog sich die nationalsozialistische Rassenideologie – zumindest in erster Linie – auf andere Kriterien als dem der Hautfarbe, mit denen die Grenze zwischen Volksgemeinschaft und den zu versklavenden Osteruopäer:innen, den Sinti und Roma und den zu vernichtenden Juden und Jüd:innen gezogen wurde. 

Die Außenpolitik des Deutschen Reiches war unter anderem weniger weiß im postmodernen Sinne und vielleicht sogar antikolonial in den Augen einiger postkolonialen Antizionist:innen.24 Mit einem arabischsprachigen Propaganda-Sender wurde antisemitische Propaganda mit islamistischem Kitsch aus Zeesen bei Königs Wusterhausen nach Jerusalem gesendet. Das Narrativ von Großbritannien und den USA als jüdisch kontrolliert und nach der Vernichtung des Islams strebend kombiniert mit der historischen Tatsache, von diesen Kolonialmächten besetzt und ausgebeutet worden zu sein, bot einen verlockenden Anreiz, um der antisemitischen Ideologie zu verfallen und auf ihr das eigene homogenisierte und ideologisch mobilisierte nationale Projekt aufzubauen. Auch wenn Hitler in „Mein Kampf“ über Araber:innen herzieht25, versuchte er sie als Teil eines antisemitischen Zweckbündnisses zu mobilisieren, um die Gründung eines jüdischen Staates zu verhindern.26 Im Zweifel überwindet die Volksgemeinschaft ihren Rassismus, solange der Antisemitismus eint.

Die Zusammenarbeit und Propaganda blieb nicht folgenlos. 1945 lebten 900 000 Juden und Jüdinnen in den arabischen Staaten. Aktuell sind es 4500.27 Juden sind zwischen die Fronten im ungleichen Krieg zwischen Orient und Okzident geraten, den postkoloniale Theoretiker:innen und Aktivist:innen zu Recht untersuchen und kritisieren.28 Israel, der Schutzraum der Juden:Jüdinnen, war und ist kein kolonialer Staat, auch wenn er heute diverse Institutionen der westlichen Staaten übernommen hat.29 Doch waren die ersten strategischen Partner Israels nicht westliche Staaten, sondern die Sowjetunion und die slawischen Staaten, deren Bewohner:innen die Opfer des innereuropäischen Kolonialismus und Nationalsozialismus waren. Eigentlich ist Israel ein antikoloniales Projekt, weil es den im Kolonialismus Entwurzelten – europäischer wie arabischer Provenienz – eine Heimat bietet, da in der Frontstellung, die der Antikolonialismus produziert, Juden nirgends dazugehören. Doch genau diese Erkenntnis geht im Zuge der einseitigen Betrachtung verloren, ebenso wie die historische Tatsache, dass im Antisemitismus Herrschende (deutsches Bürgertum bzw. Europa) und Beherrschte (deutsches Proletariat bzw. arabische Welt) sich gegen die Juden zusammentun.

Dies alles kann nur eine erste Skizzierung der Problemkonstellation sein. Wir hoffen jedoch, dass sie zumeist die Grundlage für eine dringend notwendige Debatte schafft, die im Mai ausgeblieben ist. Uns geht es hier wie anderswo darum, aufzuzeigen, wie sich Denkformen der Herrschaft des Kapitals auch in den Köpfen derer niedergeschlagen haben, die nicht selbst herrschen oder die Herrschaft gutheißen. Wir werden uns in den nächsten Monaten weiter mit den hier angeschnittenen Themen beschäftigen und dazu auch einige Diskussionsveranstaltungen organisieren.

In diesem Sinne,
Nie wieder Deutschland,
Solidarität mit Israel,
& für den Kommunismus,
Solarium.

1 Weiter schreibt Poliakov, Shoah-Überlebender und Autor der umfangreichen Studie „Geschichte des Antisemitismus“, in seiner Polemik „Vom Antizionismus zum Antisemitismus“: „So tritt etwa im 19. Jahrhundert das facettenreiche Phänomen des jüdischen Antisemitismus auf. Und in den USA hat sich in jüngster Zeit gezeigt, daß Schwarze den besten Nährboden für den Antisemitismus abgeben. Soll man da wirklich glauben, dass einzig und allein die Araber sich einer Immunität oder gar einer besonderen Allergie gegen den Antisemitismus erfreuen?“ Mehr zum Antisemitismus der US-amerikanischen Black Panther Bewegung: : https://monde-diplomatique.de/artikel/!5568215

2 Als Ausnahme ist hier das Bremer Bündnis gegen Rechts zu nennen, das auf Twitter ein Statement veröffentlichte: https://twitter.com/bgrBremen/status/1400725367195906049

3 Als solch vermeintlich „Ewiggestrige“ können sowohl klassische Neonazis wie die NPD als auch nicht-autochthone Autoritäre wie die Grauen Wölfe verstanden werde. Beide sind als Teil einer globalen Rechtsradikalen offen antisemitisch und auch antizionistisch.

4 Wie AfD-Watch Bremen berichtet – und dafür durchaus Kritik erntet – wurde auf dieser Demo, die sich von Antisemitismus distanzierte, die Parole „From the river to the sea – Palestine will be free“ gerufen. Diese Parole imaginiert ein Palästina, das vom Fluss Jordan bis zum Mittelmeer reicht und impliziert die Vision eines Nahen Ostens ohne Israel. Dass dieser Nahe Osten ohne Israel auch ein Naher Osten ohne Juden wäre, zeigt die Geschichte des Ausschlusses – zumeist antizionistischer – Juden aus der palästinensischen und anderen arabischen Nationalbewegungen, die der Staatsgründung vorausging und maßgeblich zur Verbreitung der zionistischen Idee unter den Juden der arabischen Welt beitrug. Lesenswert dazu: Nathan Weinstock – Der zerrissene Faden, besonders das Kapitel: „Das heilige Land“.

5 Weil sich die Demo am Osterdeich von dieser „islamischen Rechten“ distanzierte, meinten Teilnehmende in mehreren Diskussionen, dass diese Demo auch frei von derartigen Ideologien wäre. Eine Reflexion darüber, wie weit diese Ideologien bereits in der positiven Bezugnahme auf die palästinensische Nation (und die Akzeptanz des von ihr definierten Ausschlusses von Juden:Jüdinnen) stecken, fand nicht statt. Stattdessen wehte die palästinensische Fahne als einzige auf der Demonstration, weder die rote noch die Antifa-Fahne oder sonstige über die Nation hinausweisende Fahne waren zu sehen.

6 Der Begriff des Volkes (oder auch der Nation) ist ein hervorragendes Beispiel dafür, wie rechte Ideologien es – nicht nur in diesem Fall – in linke Mobilisierungen und Gedanken hineingeschafft haben. Eine Nation ist nie etwas anderes als die kulturelle Homogenisierung eines Staatsvolkes und somit notwendigerweise affirmativ gegenüber den bestehenden Verhältnissen. Ihr wohnt immer ein Moment des Abschlusses inne. Auch Israel ist hier keine Ausnahme, sondern bloßer Beweis der Macht dieser Verhältnisse, in denen Juden:Jüdinnen gezwungen sind, auf ebenjene Homogenisierung zurückzugreifen, um nicht selbst vernichtet zu werden. Der Staatsgründung Israels gingen zwei an dieser Homogenisierung gescheiterte jüdische Emanzipationen voraus: die der Juden:Jüdinnen zum Staatsbürger und die zum Sowjet, da sowohl die bürgerlichen Staaten des Westens als auch die Sowjetunion ihre staatliche Homogenisierung – ergo Machtstabilisierung – auf dem Rücken der jüdischen Gemeinschaft ihrer jeweiligen Länder ausübten. In einem Redebeitrag haben wir dazu mal gesagt: „Es geht nicht darum, dass Israel im Gegensatz zu anderen Staaten irgendwie humaner wäre, sondern darum, dass Israel durch die Inhumanität der anderen Staaten zur einzig möglichen Verteidigung der Jüdinnen und Juden geworden ist.“ Siehe: https://antideutschorg.wordpress.com/2020/01/30/im-eingedenken-an-die-opfer-des-nationalsozialismus-2/

7 SETA ist eine wissenschaftliche Stiftung, die dem Erdogan-Regime nahesteht. TRT ist das türkische Pendant zu Russia Today, also ein Propaganda-Instrument des Erdogan-Regimes. Es wundert also nicht, dass Baé keine Probleme mit dem Einfluss türkischer Nationalisten im Zentralrat der Muslime hat.

8 Siehe: https://www.mena-watch.com/deutsches-islam-zentrum-sammelt-geld-fuer-die-hisbollah/]

9 Zur antisemitischen Ideologie des iranischen Regimes ist das Buch „Suicide Attack“ von Gerhard Scheit zu empfehlen, der zum Thema auch diverse Vorträge gehalten hat, die auf YouTube zu finden sind: https://www.youtube.com/watch?v=On1VWbKjaa8 & https://www.youtube.com/watch?v=pmwEnnHAr44

10 Es verwundert nicht, dass der Antisemitismus – anders als der Rassismus – das Anti bereits im Namen trägt und auch in seinem Selbstverständnis diese gefühlte Rebellion trägt. Während der Rassismus die Höherwertigkeit einer ethnischen Gemeinschaft postuliert und so ihre Herrschaft positiv stützt, imaginiert der Antisemitismus die Herrschaft einer Elite, gegen die er sich positioniert. Näheres zum Verhältnis von Rassismus und Antisemitismus hat Joachim Bruhn geschrieben, der im Antisemitismus den Hass auf die vermeintlichen Übermenschen und im Rassismus den Hass auf die vermeintlichen Unmenschen sieht: https://www.ca-ira.net/wp-content/uploads/2018/06/bruhn-deutsch_lp.pdf

11 Dadurch ergibt sich auch eine Gemengelage, in der sich ein antisemitischer Antirassismus artikuliert, den wir an anderer Stelle bereits kritisiert haben: https://antideutschorg.wordpress.com/2020/03/28/die-provokation-der-juedischen-existenz-reloaded/. Siehe auch https://taz.de/Autorin-ueber-modernen-Antisemitismus/!5784415/

12 Wir haben den Begriff in Anführungszeichen gesetzt, weil er unserer Meinung nach fälschlicherweise einen Rassismus – der die Religion lediglich als Mittel zum Zweck, als inhaltliche Ausgestaltung seines Ressentiments sieht – mit einer Kritik an einer Religion in einen Topf wirft. Es ist kein Zufall, dass der Begriff vom iranischen Regime, dem die islamische Religion zur Legitimation ihrer Herrschaft dient, popularisiert wurde. In der Taz konnte man dazu bereits 2010 lesen: „Wenn man sich die Entstehungsgeschichte des Wortes anschaut, muss man an dessen Tauglichkeit und begrifflicher Trennschärfe zweifeln. Glaubt man den Publizistinnen Caroline Fourest und Fiammetta Venner, dann kam das Wort erstmals im Iran nach der Islamischen Revolution von 1979 auf: Den Mullahs diente er als politischer Kampfbegriff, um ihre Gegner zu diffamieren.

Bis in die Gegenwart wird der Begriff in diesem Sinne durch islamische und islamistische Organisationen wie die Islamic Human Rights Commission in Großbritannien instrumentalisiert, die fast jede kritische Stimme mit diesem Schlagwort belegt. Zum anderen steht „Phobie“ von der Wortbedeutung her für ein besonders ausgeprägtes Gefühl der Angst, das über ein vertretbares Maß hinausweist. Es soll hier aber nicht um individuelle Emotionen, sondern um reale Diskriminierung gehen und um eine Feindseligkeit, die sich gegen Muslime als Muslime richtet.“ Siehe: https://taz.de/Debatte-Islamophobie/!5135490/

13 Auch das ist ein Beispiel für die linke Übernahme eines rechten Ideologems. Der Rechten dient die Hufeisentheorie dazu, sich einerseits des eigenen antisemitischen NS-Erbes zu entledigen, während man zugleich jede Form linker Gesellschaftskritik, die nach den Ursprüngen der NS-Ideologie und ihrer Massenbasis in der Mitte fragt, diffamiert. Die Übernahme dieser Denkstruktur in der Linken hat den gleichen Effekt: das antisemitische Erbe, das über Stalinismus und Maoismus bis hin zur postkolonialen Theorie Edward Saids reicht, wird verdrängt, während zugleich die grundlegende Kritik am Antisemitismus diffamiert wird.

14 Siehe: https://twitter.com/antideutsch_org/status/1394712751587594248

15 Projektionen wie die hier dargelegten verraten einem nie etwas über den Gegenstand, aber immer viel über jene, die von ihm sprechen. Wer im Jihadismus einen Freiheitskampf sieht, der träumt von einer Welt, in der jede Form der bürgerlichen Vermittlung von Herrschaft aufgehoben ist, gerade weil man selbst dermaßen in diesen verstrickt ist. Wer den Geflüchteten per se als Jihadisten sieht, der weiß um die eigenen Triebregungen, die der bürgerlichen Vermittlung im Weg stehen und spaltet sie so auf das rassifizierte Objekt ab.

16 Hier sind wir wieder beim Punkt der Homogenisierung. Dazu haben wir an anderer Stelle geschrieben: „1998 erschien Leah C. Czolleks Text Sehnsucht nach Israel, in dem sie sich mit der Allgegenwart eines linken und feministischen Antisemitismus beschäftigte, die Weigerung der deutschen Linken, das Problem des Antisemitismus ernst zu nehmen, scharf kritisierte und ihre eigene Erfahrung als Jüdin innerhalb dieser Gruppen durchzuarbeiten versuchte. Der Text ist getragen von der Enttäuschung einer linken und feministischen Jüdin, dass ausgerechnet ihre Genoss*innen, mit denen sie gegen die herrschende Gesellschaft kämpfen möchte, den Antisemitismus der herrschenden Gesellschaft selbst reproduzieren. 18 Jahre später reflektierte sie erneut diesen Text und stellte erschüttert fest: „Solidarität haben Juden und Jüdinnen in der feministischen und antirassistischen Szene nicht zu erwarten.“7 Die Überlegungen, die sie zu diesem Urteil kommen lassen, können einiges zum Verständnis der hier behandelten Debatte beitragen. Für Czollek beginnt das Problem bereits in der geforderten Positionierung, welche die Illusion beinhaltet, eine gesellschaftliche Position ließe sich auf einen klaren Nenner bringen, gewissermaßen essentiell im Individuum fixieren.8 „Jede Irritation“, schreibt sie, „soll vermieden werden. Auf irgendeine Art soll die Unberechenbarkeit der Pluralität, die Unübersichtlichkeit der Pluralität, das Chaos der Pluralität gebannt werden.“9 In diesem Zwang zur Positionierung – auf den wir bereits im letzten Statement mit dem Begriff Zwangs-Outing eingegangen sind – manifestiert sich ein Streben nach „Reinheit und Einfachheit. Es sollen sichere Orte geschaffen werden, indem alles draußen zu bleiben hat und jene vor der Tür bleiben müssen, die die Reinheit stören.“10 Die Reinheit der Allianz gegen Diskriminierung wird dabei jedoch nicht dadurch gestört, dass Antisemit*innen im Block mitlaufen, sondern einzig und allein durch zwei israelische Flaggen, die diesen Zustand erst deutlich machen und deshalb als Eindringlinge ausgemacht und mit aller Macht abgewehrt werden müssen.“ Siehe: https://antideutschorg.wordpress.com/2020/03/28/die-provokation-der-juedischen-existenz-reloaded/

17 Genau darin liegt für Kommunist:innen die Besonderheit von Auschwitz. In der antisemitischen Massenvernichtung wurden die Unterschiede zwischen Herrschenden und Beherrschten, Arbeiter:innen und Kapitalist:innen aufgehoben. Es waren nur noch Deutsche, die gemeinsam die Endlösung anstrebten. Genau diese Möglichkeit der absoluten Vereinigung der Klassen – ohne sie abzuschaffen – bietet der Antisemitismus noch heute.

18 In dem die Unterdrückungserfahrung nicht mehr als Produkt gesellschaftlicher Verhältnisse gesehen wird, sondern in die Körper der Unterdrückten selbst hineingelegt wird, wird sie fetischisiert. Anstatt zu erkennen, dass Unterdrückte in bestimmten Situationen selbst unterdrücken, müssen Opfer des Antisemitismus der Unterdrückten zu Weißen und damit per se zu Tätern gemacht werden. Die eigene Verstrickung in Herrschaft kann so abgespalten werden.

19 Siehe: https://antideutschorg.wordpress.com/2020/02/22/die-provokation-der-juedischen-existenz/ & https://antideutschorg.wordpress.com/2020/03/28/die-provokation-der-juedischen-existenz-reloaded/

20 Auch die Mutter des Täters war ein Opfer. Dieser Femizid darf in der Betrachtung des Attentates nicht unter den Tisch fallen gelassen werden,

21 Ein Blick in das Manifest des Attentäters zeigt diese Verstrickung von Antisemitismus und Rassismus sehr deutlich.

22 Die Behauptung, dass nicht die Israelfahne, sondern generell das Tragen einer Nationalfahne der Grund für den Angriff – der gerne als Intervention abgetan wird – war, ist und bleibt eine Verdrehung der Tatsachen. Wie wir bereits in der Antwort auf ein Statement der Administratoren der Telegram-Gruppe Hütbürger:innen Watch klargestellt haben: „Das Statement schließt damit, dass erneut Falschaussagen über den antisemitischen Angriff auf unsere Gruppe Anfang des Jahres 2020 verbreitet werden, um uns als „Wiederholungstäter:innen“ darstellen zu können. Das Narrativ, dass wir „als weiß männlich dominierte Gruppe“ auf der Demo aggressiv eine Eskalation erzwingen wollten und dabei für „Faschos“ gehalten wurden, ist dabei ebenso an den Haaren herbeigezogen wie das angebliche Verbot von Nationalflaggen, über das wir uns hinweggesetzt hätten. Es gibt ein Video, das deutlich zeigt, dass wir mit zwei kleinen Israelfähnchen versuchten, den BIPoC-Block zu passieren, um in den vorderen Bereich der Demo zu gelangen. Dabei wurden wir von einem – nicht nur uns bekannten Antisemiten – als Hurensöhne beleidigt und angespuckt. Im danach entstehenden Tumult konnten wir nur durch die Hilfe von uns Unbekannten unbeschadet aus der Situation herauskommen. Hätten wir provozieren wollen und die Auseinandersetzung gesucht, wären wir sicherlich besser auf derartige Reaktionen vorbereitet gewesen. Der Angreifer trug übrigens eine Kuba-Fahne, was ebenso wenig wie sein antisemitischer Angriff als Grund gesehen wurde, ihn von der Demo zu verweisen. Wir haben uns in zwei Texten ausführlich zu diesen Vorwürfen geäußert und werden auch in naher Zukunft die Beweislage in Gänze veröffentlichen, um derartige Mythenbildung und Täter/Opfer-Umkehr als das zu entlarven, was sie sind: antisemitische Propaganda. Diese Propaganda wird von dem Statement von „Hutbürger:innenwatch Bremen“ erneut verbreitet, was die zahlreichen Bekenntnisse gegen Antisemitismus in etwa so glaubwürdig erscheinen lassen wie die eines Heiko Maas.“ Siehe: https://antideutschorg.wordpress.com/2021/05/13/statement-zu-hutbuergerinnenwatch-bremen/

23 Die genaue Ausführung des Vorfalls haben wir bereits im direkten Anschluss der Demo veröffentlicht: https://antideutschorg.wordpress.com/2020/02/22/die-provokation-der-juedischen-existenz/

24 Es gab zahlreiche Sympathie für den Nationalsozialismus bei den Kolonisierten des britischen Empires, wie Uli Krug basierend auf einem Buch von Dan Diner hier darlegt: https://jungle.world/artikel/2021/14/der-vergessene-ozean)

25 Folgerichtig kursieren im arabisch-sprachigen Raum überarbeitete Ausgaben, die entsprechende Passagen heraus kürzten und bis heute ideologischen Einfluss auf nationalistische Bewegungen ausüben.

26 Siehe dazu: https://www.deutschlandfunk.de/ns-und-naher-osten-exportierter-antisemitismus.886.de.html?dram:article_id=461073 

27 Siehe dazu das bereits erwähnte Buch von Nathan Weinstock: Der zerrissene Faden.

28 Bei Edward Said, der den Orientalismus als Diskurs des Okzident untersuchte, werden Juden:Jüdinnen pauschal dem Okzident zugezählt. Um dies argumentativ aufrechtzuerhalten, muss er dann auch die gesamte Kooperation der deutschen mit den arabischen Antisemit:innen unterschlagen. Diese Kooperation beweist einmal mehr das Potential des Antisemitismus, Herrschende (Okzident) und Beherrschte (Orient) zusammenzubringen.

29 Auch das hat historische Gründe. Denn es war die westliche Demokratie und die auf westlichen Prinzipien basierende Sowjetunion, welche historisch den Juden:Jüdinnen die Emanzipation von feudaler Unterdrückung versprachen.

Freie Radikale: Coronabekämpfung – Gegen Kapital und seine Mutanten

Anbei veröffentlichen wir einen eingesendeten Text der Gruppe: Freie Radikale. Mehr Infos zur Gruppe auf www.freie-radikale.net .

Vor eineinhalb Jahren ist eingetreten, was – genau wie der drohende Klima-Kollaps – seit langem absehbar war: Die beispiellose Zerstörung intakter Ökosysteme führte zu einem viralen spillover und einer weltweiten Pandemie: Entwaldung, Wildtierhandel und Erderwärmung hatten wilde Tiere ihrer natürlichen Lebensräume beraubt, sie in engen Kontakt mit Menschen gebracht und ihre Krankheitserreger bekamen so die Chance, auf diese überzugehen. Nicht nur Covid-19, auch HIV, Ebola und das Zikavirus sind so entstanden. Die kapitalistische Vernutzung der Natur ist die Ursache dieser Pandemie und sie wird weitere hervorbringen.

Anders als z.B. die vietnamesische, australische oder kubanische Regierung erweisen sich die europäischen und viele andere Staaten als unfähig, angemessen auf diese Bedrohung zu reagieren. Sie führen vielmehr unbeirrt ihr Tagesgeschäft fort, das darin besteht, den kapitalistischen Verwertungsprozess mit auf Jahrzehnte angelegten Strategien zu befördern (etwa wenn es um den Zugang zu Rohstoffen, Förderung zukünftiger Technologien oder um die Eroberung wichtiger Märkte geht) und das dadurch verursachte Elend von Präsident*innen und anderen preiswerten Festredner*innen beweinen zu lassen. Sie gehen mit der Pandemie um, wie sie mit sozialen Katastrophen umzugehen gewohnt sind, und begannen dementsprechend erst zu handeln, als es für mehrere Tausend Menschen bereits zu spät war. Und auch dann setzen sie vor allem auf eine technische Antwort. Denn Impfstoffe und Intensivmedizin schützen und heilen nicht nur, sondern ermöglichen es der Pharmaindustrie auch, ihren Schnitt zu machen. Prävention und die Beseitigung der Ursachen stehen nicht auf ihrer politischen Agenda.

Insbesondere die deutsche Regierung versucht, die Pandemie fast ausschließlich durch Maßnahmen zu bekämpfen, die die Interessen der maßgeblichen Kapitalfraktionen der Exportindustrie nicht antasten: Geschäfte, Restaurants, Theater, Kinos, Clubs und Schulen wurden geschlossen, Bewegungsfreiheit und Privatleben drastisch eingeschränkt; Arbeiter*innen dagegen werden gezwungen, ihre Gesundheit in den Fabriken, Büros und öffentlichen Verkehrsmitteln aufs Spiel zu setzen, und wohnungslose Menschen mit dem Appell, sich in den eigenen vier Wänden zu schützen, verhöhnt. Wer sich auf der Straße oder bei der Arbeit infiziert, ist selbst schuld und selbst bei größeren Coronaausbrüchen in Fabriken wie z.B. bei VW in Hannover wird die Arbeit nur kurz unterbrochen. Diese Politik vermag gegen das Virus natürlich nur wenig auszurichten, belastet die oberen Schichten der Gesellschaft dafür aber kaum und die mittleren und unteren umso mehr; sie musste Widerstand provozieren.

Dass dieser Widerstand in Deutschland emanzipatorisch ausfallen sollte, war freilich kaum zu erwarten: Weil die Medien genauso zuverlässig schlecht über erfolgreiche Pandemiebekämpfung in anderen Ländern wie über das Leiden in den hiesigen Krankenhäusern informieren, unterschätzen viele die Krankheit und wissen nicht, dass sozialere und wirksamere Maßnahmen möglich wären. Außerdem bringt der herrschende Konkurrenzdruck eine „No risk no fun“-Mentalität und eine Unfähigkeit zur Empathie hervor. Die Wut, die sich in den Protesten gegen die Coronamaßnahmen Bahn bricht, ist daher blind und von Todesverachtung, nämlich von einer Missachtung des eigenen Lebens und desjenigen der Anderen geprägt; die Proteste konnten zum Spielfeld irrationaler, antisemitischer und anderer rechtsextremer Verschwörungstheorien werden.

Diese Art von Protest kommt der Regierung gerade recht. Der rechte Wahnsinn bietet ihr einerseits die Möglichkeit, sich als regulierende Vernunft aufzuspielen, und gibt andererseits ihrer Missachtung wissenschaftlicher Prognosen und Sabotage von Maßnahmen, die tatsächlich wirksam wären, willkommene Rückendeckung. Der freundschaftliche Umgang der Polizei mit den Pandemieleugner*innen und Impfgegner*innen drückt nicht nur die privaten Neigungen einzelner Polizist*innen aus.

Nachdem es lange so aussah, als müsste die Linke mit antifaschistischen Aktionen die herrschende Politik gegen die Corona-Leugner*innen verteidigen, befindet sie sich nun wieder in offenem Widerspruch gegen die Regierung. Mit der Zero-Covid-Kampagne haben radikalreformerische Forderungen eine breitere Öffentlichkeit gefunden. Auch wir treten für einen solidarischen Lockdown, die Freigabe der Impfstoffpatente und bessere Ausstattung und Entlohnung im Gesundheitssystem ein.

Wir finden solche Forderungen aber nur sinnvoll, solange sie in taktischer Absicht vorgebracht werden und die strategische Orientierung auf die Überwindung von Staat, Nation und Kapital nicht aus dem Blick gerät. Denn es ist der kapitalistische Konkurrenzkampf, der die Unternehmen – bei Strafe der Pleite – zwingt, ihre Profitinteressen gegen alle andern Unternehmen und gegen die von ihren Lohnzahlungen abhängigen Menschen durchzusetzen und gegen jede Vernunft die menschlichen und natürlichen Ressourcen bis zur Erschöpfung zu plündern. Solange noch nicht alle wilden Tiere ausgestorben sind, wird dies zu immer neuen spillovers und pandemischen Wellen führen. Alle Maßnahmen gegen die Pandemie müssen nutzlos bleiben, solange nicht der auf der Natur lastende kapitalistische Verwertungsdruck beseitigt ist.

Eine solidarische Gesellschaft, in der an die Stelle des Herrschaftsinstrumentes Staat eine Form gleichberechtigter Koordination und Organisation treten würde, wäre nicht nur in der Lage, auf eine bereits entstandene Pandemie besser zu reagieren. Sie ließe sich beim Kampf gegen ein Virus nicht von den kurzfristigen und partikularen Interessen einer herrschenden Klasse ablenken, sondern würde rechtzeitig alle Ressourcen auf die Abwehr verwenden und könnte Medikamente und Impfstoffe allen gleichermaßen und kostenlos zur Verfügung stellen. Nur eine Gesellschaft, in der die Ware-Geld-Beziehung und die Profitorientierung aufgehoben sind und deren maßgebliche Triebkraft nicht mehr die Kapitalverwertung ist, wird auch verhindern können, dass sich solche Pandemien wiederholen und die Klimakrise ungebremst fortschreitet. Erst die befreite Gesellschaft kann die reflektierten Bedürfnisse der Menschen befriedigen und Menschheit und Natur aus ihrem Status als bloßem auszubeutenden Arbeitskräfte- und Rohstoffreservoir emanzipieren.

freie radikale – die verhältnisse zum tanzen bringen, Berlin

What other Germany?

Dieser Text wurde ursprünglich als Diskussionsbeitrag für eine angestrebte Reflexion des sogenannten Antifa-Sommers in einer Zeitschrift gegen die Realität geschrieben. Er bezieht sich bewusst auf unseren Jungle World Artikel vom letzten Jahr und wurde seit dem Sommer 2020 nicht mehr bearbeitet.

»Das deutsche Volk wird kämpfen, bis es die Niederlage spürt. Wenn es soweit ist, wird niemand mehr unschuldig sein. Sie werden alle kommen und sagen: ›Wir waren dagegen.‹ Das ist der entscheidende Punkt, dem wir uns stellen müssen, und wenn wir daran scheitern – was keine schöne Vorstellung ist –, dann steht vielleicht ein neuer Krieg bevor: ein Krieg, aus dem niemand außer dem ›gutwilligen deutschen Anti-Nazi‹ lebend herauskommen wird.«
– Walter Loeb1

Was vor 20 Jahren im sogenannten Antifa-Sommer zur Staatsdoktrin der Berliner Republik wurde, war die Mär vom anderen Deutschland. Eine Erzählung, die schon zu Zeiten des Londoner Exils deutscher KommunistInnen und SozialdemokratInnen geprägt wurde. Mittlerweile hat die deutsche Erinnerungspolitik die militärische Niederlage in einen moralischen Sieg verwandeln können. Die Kinder und Enkel der Volksgemeinschaft, die nur mit äußerster Härte an ihrem mörderischen Treiben gehindert werden konnte, werfen die Erblast gekonnt ab und inszenieren sich werbewirksam als Nachkommen eines antifaschistischenDeutschlands. Diese Bewegung kulminiert in einem staatstragenden Antifaschismus der Zivilgesellschaft, in dem der 8. Mai als Tag der Befreiung zum Nationalfeiertag erhoben werden soll, ganz so, als wäre man nicht jene Nation, von der die Welt zumindest kurzzeitig befreit worden ist.2 So sehr die Kritik deutscher Erinnerungspolitik zum festen Bestandteil des linksradikalen Einmaleins geworden ist, so wenig wurde die eigene Rolle und Abkehr von der Militanz des revolutionären Antifaschismus in den Fokus gerückt. Doch der Antifa-Sommer und die daraus resultierende zivilgesellschaftliche Politik der Berliner Republik sind einer von vielen Belegen, wie sich eine radikale Linke erfolgreich in das kapitalistische Staatswesen hat domestizieren lassen.3

Das andere Deutschland als Herrschafts-Legitimation

Es gehört zum linksradikalen Allgemeinwissen, dass es bei staatlicher Aufarbeitung der Vergangenheit im Besonderen um gegenwärtige Interessen geht. Was sich im Begriff der Gedenkpolitik widerspiegelt, ist die von Walter Benjamin schon zur Zeit des Nationalsozialismus denunzierte Tatsache: »auch die Toten werden vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein«4. In einer staatlich-verfassten Welt darf es nicht verwundern, dass Staaten versuchen, ihre Legitimation aus der Geschichte zu ziehen: Niemand hat mehr als eine Fortsetzung der Herrschaft zu erwarten. Dass die Geschichte der Erschlagenen nur als Beute der Herrschenden denkbar ist, folgt dieser brutalen Logik. Das sollte niemals außer Acht gelassen werden, wenn über staatliches Gedenken gesprochen wird. Nicht zuletzt gilt das für die zahlreichen linken Oppositionsparteien, auf die so manche in Zeiten der AfD ihre antifaschistischen Hoffnungen setzen.5 Wie schon Karl Marx anmerkte, sind diese als Regierungsparteien im Wartestand zu begreifen, deren Wirken sich nie gegen die Herrschaft und Gewalt als solche richtet, sondern immer nur gegen das aktuelle Regierungspersonal. Die Opposition strebt nicht danach mit der Instrumentalisierung der Toten zu brechen, von der Benjamin sprach. Ihr geht es um eine inhaltliche Verschiebung. Exemplarisch zeigte das die deutsche Sozialdemokratie nach 1918,6 die den Klassenkampf als potenziellen Sieg und nicht als Notwendigkeit das Siegen an sich zu beenden sah, in großer Regelmäßigkeit.

Im Londoner Exil der frühen Vierzigerjahre bewies die deutsche Sozialdemokratie, was realpolitischer Gehalt der geschichtsphilosophischen Überlungen Benjamins war, die zur gleichen Zeit in Paris entstanden. Unmöglich war es ersterer zu großen Teilen, dem deutschen Volk – das aus parteipolitischer Sicht aus potenziellen Wählern bestand – eine Schuld an den Verbrechen des Nationalsozialismus zu geben. Wie 1914 schickte man sich an zu beweisen, dass deutsche ProletarierInnen sehr wohl ein Vaterland hätten. Das schöne Gerede von Solidarität wurde bereitwillig auf dem Altar der nationalen Sache geopfert. Wie alle Altklugen hielt man diese Aufgabe der jugendlichen Radikalität für einen Beweis der eigenen Reife. (Das haben Ex-Linksradikale immer gemeinsam, ob sie nun in den zwanziger Jahren kämpfende KommunistInnen oder in den neunziger Jahren militante Antifas waren.) Mit aller Kraft nahm die deutsche Exil-Sozialdemokratie den nationalen Kampf gegen jene Minderheit von ExilantInnen auf, die bereit waren, das Vaterland für das Wohle der Menschheit zu verraten und dabei gemeinsam mit nicht-deutschen Politikern wie dem tschecho-slowakischen Exilpräsidenten Edward Beneš7 oder dem britischen Premierminister Winston Churchill radikal gegen die durch Massenvernichtung zum Behemoth synthetisierte Volksgemeinschaft agitierten.

Während für jene der bedingungslose Antifaschismus als Gebot der Stunde erkannt wurde, konstruierten ihre damaligen GenossInnen fleißig den Mythos vom anderen Deutschland, das lediglich von einigen wenigen Nazis verführt wurde und nur noch befreit, aber sicher nicht umerzogen werden müsse. Die radikalen und antideutschen AntifaschistInnen sahen keine Möglichkeit, innerhalb der Sozialdemokratie etwas zu bewegen. Sie schlossen sich zur FightForFreedom-Gruppe zusammen und arbeiteten zunächst mit konservativen britischen Kräften zusammen, auch weil die britische Sozialdemokratie sich gegen das Behaupten einer deutschen Kollektivschuld wehrte.8 Die Gründungsresolution der FightForFreedom-Gruppe definierte den Unterschied zwischen »jenen, die das nationale Interesse und die Interessen des deutschen nationalen ‹Sozialismus› über Erwägungen der internationalen Gerechtigkeit und über die gemeinsamen Interessen aller Völker – heute namentlich über die Interessen der vergewaltigten Völker – stellen und jenen, deren Anschauungen und Politik den nationalistischen Strömungen nicht unterworfen sind, und die sich Sinn für politische Gerechtigkeit erhalten haben.«.9

Nach der militärischen Niederlage des Nationalsozialismus wurden die von den Alliierten besetzten Gebiete in die bis Ende der Achtziger die Weltpolitik dominierende Blockkonfrontation des Kalten Krieges eingegliedert. Die mit der Verdopplung Deutschlands einhergehende Hoffnung, dass zwei Staaten weniger deutsch wären als einer, entpuppte sich als eklatante Fehleinschätzung. Während in der BRD die Verfolgung der Nationalsozialisten peu à peu eingestellt wurde und stattdessen die Partei der KommunistInnen und ihre SympathisantInnen gejagt wurden, verhängte die Staatsführung der DDR ein Verbot der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) und integrierte ehemalige Nationalsozialisten wie Curt-Heinz Merkel in den Staatsapparat. Auf beiden Seiten der Mauer verloren die nationalsozialistischen Verbrechen und ihre Aufarbeitung angesichts der Blockkonfrontation an Bedeutung und spielten nur noch im Kontext einer Delegitimierung der gegenüberliegenden Seite eine Rolle. Jede Seite sah sich als Nachfahr des im Exil entdeckten anderen Deutschlands und wies jede Schuld am Nationalsozialismus von sich. Stattdessen sah man dessen Fortwesen entweder im totalitaristischen Osten oder imperialistischen Westen. Beiden galt die eigene Bevölkerung zügig als demokratisiert, wobei weder Reeducation in der BRD noch der verordnete Antifaschismus in der DDR wirklich Früchte getragen haben.

Weder SED noch SPD setzten sich mit dem Scheitern der deutschen Arbeiterbewegung im Abwehrkampf gegen die Nationalsozialisten auseinander. Der Sozialdemokrat Kurt Schumacher verteidigte die Deutschen vehement gegen eine Kollektivschuld, welche angeblich von den Alliierten kolportiert würde. Wie ein Beserker stand der bekennende Lassalleaner der Bevölkerung in ihren Bemühungen, die eigenen Verstrickung zu leugnen, bei. Anstatt den Kampf vieler SozialistInnen und SozialdemokratInnen in den Vordergrund zu stellen, setzte sich 1951 die Parteiführung um Schumacher bei den Alliierten dafür ein, dass 28 in Nürnberg von den Alliierten zum Tode verurteilten führenden Nationalsozialisten begnadigt werden. Im „besseren“ Deutschland klammerte man sich derweil an antifaschistische Superhelden wie den heimattümelnden Stalinisten Ernst Thälmann, während tatsächlich militante Antifaschisten wie Georg Elser in der Aufarbeitung des Widerstandes keinerlei Rolle spielten. Der systematische Versuch der Vernichtung des europäischen Judentums durch die Nationalsozialisten galt als Kollateralschaden eines aggressiven Nationalismus. Dies spiegelte sich z.B. in der Aufteilung in Kämpfer gegen den Faschismus und Opfer des Faschismus wider. Mitglieder beider Arbeiterparteien und ihrer Vorfeldorganisationen galten als wackere StreiterInnen gegen den Nationalsozialismus. Als Opfer wurden zumeist nur Juden eingeordnet. Mit dieser selektiven Geschichtsschreibung konnte die SED ein weiteres Problem umgehen: Ihr eigenes Versagen als Arbeiterpartei vor 1933, das sinnlose Verheizen von zehntausenden ParteigenossInnen in den ersten beiden Jahren der NS-Herrschaft musste nicht zur Sprache kommen.

Neues Deutschland? Die Berliner Republik

Am 8. Mai 1985 begann mit der Rede von Richard von Weizäcker die Verschiebung der Erinnerung im westlichen Deutschland, die mittlerweile das offizielle Gedenken und die Publikationen des zivilgesellschaftlichen Antifaschismus bestimmt: Der 8. Mai sollte als Tag der Befreiung gewürdigt werden. Es gingen mehrere Jahre ins Land, bis das politische Establishment der Berliner Republik vollends »den Mehrwert des Schuldbekenntnisses«10 erkannt hatte. In dieser Hinsicht überlebte die Bonner Republik – in Gestalt von Helmut Kohl – die DDR um ganze acht Jahre. 1995, zehn Jahre nach der Rede von Weizäckers, erklärte der ewige Kanzler: »Niemand hat das Recht festzulegen, was die Menschen in ihrer Erinnerung zu denken haben«.11 Was der hellsichtige von Weizäcker besser als Kohl verstand und was Alexander Gauland nur mit dem Verrat an seinem Traum von einer Volkssouveränität akzeptieren kann, ist nicht weniger als die Wiedergeburt der deutschen Volksgemeinschaft nach dem Nationalsozialismus. Es war die Rehabilitierung der durch die Geschichte gänzlich verdreckten Ideen von Familie und Heimat als schützende Kollektive. »Beide nämlich«, so Uli Krug, »salviert das geläuterte Deutschland, bereinigt sie vom Makel der Vergangenheit, nicht, indem es sie verschweigt, sondern indem es in ihr schwelgt, narrativiert und personalisiert.«12 Wie sehr die Volksgemeinschaft der Berliner Republik unter etablierten Parteien Konsens geworden war, zeigte nicht zuletzt das Aufkommen einer Partei, die sich, und das für viele Wähler scheinbar glaubwürdig, als fundamentale Alternative gegenüber jenem Konsens präsentieren kann.

Die AfD muss gegen die Berliner Republik und von Weizäcker mobilisieren, weil ihre Konzeption einer Volkssouveränität nicht mit einer postnazistischen Volksgemeinschaft denkbar ist, die in die Institutionen des Parlamentarismus eingehegt wurde. Denn die »Ausstellung der Schande« (Martin Walser), durch die sich die Berliner Republik als geläuterter Global Player inszeniert, belegt, dass das Volk als solches fehlbar ist und eines demokratischen Rahmens bedarf. Genau dieser künstliche Rahmen, das von den Vereinigten Staaten auferlegte System des Rechts, steht über dem Lebhaften des Politischen – wie es von Carl Schmitt und seinen Anhängern gedacht wird. Auch die CDU der Bonner Republik und Helmut Kohl konnten mit der »List der Vernunft« (Hegel), die im Erlangen eines Sieges durch die Akzeptanz einer Niederlage steckt, wenig anfangen. Erkannte sie doch, dass die Erinnerungen der Bevölkerung – insbesondere der eigenen Wählerschaft – an den 8. Mai noch viel zu lebhaft und die erlebte Trauer über die brutale Zerschlagung des eigenen mörderischen Traums zu tiefgreifend war, als sie ernsthaft daran denken konnten, Oma, Opa oder Hans-Peter glauben zu machen, dass man befreit worden wäre. Die CDU der Bonner Republik wusste sehr gut, dass Saul Friedländer mit seinen Beobachtungen aus dem Jahre 1945 Recht hatte. Sie bedienten ihr ex-nazistisches und ihr ins Private gekehrtes Klientel so gut es ging, indem beispielsweise der Traum von der Eroberung Moskaus, eingebettet in das „Sternen und Streifen Banner“, weiterleben konnte.

Als im November 1989 die Mauer fiel und im Schnellverfahren die ehemalige SBZ an die Bundesrepublik angeschlossen wurde, offenbarten sich die unter Westbindung und Sowjettreue fortwesenden Kontinuitäten in Städten wie Solingen, Mölln, Rostock-Lichtenhagen oder Hoyerswerda. Fortan nahm es die radikale Linke selbst in die Hand. Ob in Recherche- oder Sportgruppen, stets wurde dem pädagogischen Verständnis ihre Strategie des Dialogs entgegengehalten: »Was wir reichen sind geballte Fäuste, keine Hände.«13 Die Selbstorganisation jenseits von Parteien wurde durch bundesweite Organisationen und lokale Hochburgen postautonomer Strukturen ermöglicht: ein militantes Netzwerk, das sich erfolgreich dem Zugriff des Staates entzog. Fast ein Jahrzehnt konnte der revolutionäre Antifaschismus sich als linksradikale Praxis abseits von ostalgischem ML-Kitsch und mit explizit artikulierter Staatsferne etablieren, um gegenüber Deutschland und seinen Nazis – im wahrsten Sinne des Wortes – schlagkräftig, autonom und handlungsfähig zu bleiben. Doch alles war, wie so viele linksradikale Bewegungen, nur von kurzer Dauer.

Der Antifa-Sommer 2000 und der damit einhergehenden Etablierung der Berliner Republik als antifaschistischer Gedenkweltmeister, das Aufkommen des Rechtspopulismus und -extremismus in ehemals von Deutschland besetzten Ländern bzw. in Ländern, die gegen den Nationalsozialismus kämpften, führten zu einer Verschiebung der Wahrnehmung. Die gezielte Tötung von Kaukasiern auf offener Straße in Moskau durch russische Neonazis, das Aufkommen des Front National, der Versuch der Islamischen Republik Atombomben herzustellen, die gesellschaftliche Ausgrenzung der Sinti und Roma in Osteuropa, die Wahl von George W. Bush jr. oder die tiefgreifende Ablehnung von Homosexualität im katholischen Polen verführten zur irrigen Annahme, dass zumindest bestimmte Regionen Deutschlands eine Oase des Glücks darstellen, zu dessen Verteidigung die kategorische Staatsferne aufgegeben werden konnte. Dass diese angebliche Liberalität zu einem großen Stück einer wirtschaftlichen Situation geschuldet war, die nur dank der großzügigen Hilfe der US-Amerikaner nach dem Zweiten Weltkrieg ermöglicht wurde und in Krisenzeiten stets als Erstes vom postnazistischem Staat und seinem Volk geopfert würde, wurde verdrängt.

Bereits zwei Jahre nach dem als Aufstand der Anständigen ausgerufenem Antifa-Sommer konstatierte das Antifaschistische InfoBlatt (AIB): »Der rechte Rollback auf allen Ebenen trifft viele unabhängige Antifas unvorbereitet.« Das Fachmagazin, dessen ästhetische Nähe zur Militanz ihm den zivilgesellschaftlichen Erfolg von Der Rechte Rand bis heute verwehrt, sah die antifaschistische Bewegung durch den Zusammenbruch der überregionalen Organisierung als »dramatisch geschwächt« an. Die Redaktion stellte nüchtern fest, dass »subjektive, alle Sicherheitskriterien und Ideen von Kollektivität außer Acht lassende Aktionsbeschreibungen z.B. bei Indymedia ein schlechter Ersatz für gemeinsame, überregionale Diskussionen, Analysen und durchdachte Kampagnen« seien. Vor allem die »Streicheleinheiten der Zivilgesellschaft« und das Offenlegen von Strukturen, »die nicht an die Öffentlichkeit gehören« wurden als Todeskuss einer Bewegung gesehen, deren cleverer Teil das kleine Schwarze nach dem Studienabschluss erfolgreich gegen ein Sakko tauschen konnte und nun erfolgreich in Zivilgesellschaft macht. Die Floskel »Antifa in der Krise«, dass verrät ein kurzer Blick in das Archiv des AIB, ist seitdem in der Publikation häufiger zu finden.14

Das AIB erkannte, anders als es das notwendig falsche Bewusstsein der berufstätigen Ex-Linksradikalen zulassen könnte, dass die Zivilgesellschaft nicht als anti-staatlicher Akteur, Arbeitgeber oder Kooperationspartner einer linksradikalen Bewegung zu sehen ist. Sie ist vielmehr als gegensouveränistische Verlängerung des Staates zu verstehen, die einen Beitrag zur Konstitution der deutschen Souveränität leistet.15 Die Zivilgesellschaft ist selbst verstaatlicht, denkt in den vom Staat gesetzten politischen Kategorien des Rechts und greift dem Staat dort unter die Arme, wo dieser seit der rot-grünen Entschlackungskur selbst nicht mehr aktiv werden kann oder will, was sich besonders im ehrenamtlichen Engagement äußert. Natürlich steht die Zivilgesellschaft nicht Seite an Seite mit dem Verfassungsschutz oder der Polizei, aber gerade durch diesen synthetisierten Widerspruch von Freiheit und Zwang konstituiert sich die deutsche Souveränität und die Legitimation durch Partizipation der Bevölkerung. Wenn sich die Zivilgesellschaft einmal zur Polizeikritik hinreisen lässt, dann bewegt sich diese auf einer rein inhaltlichen Ebene der Ausgestaltung des staatlichen Gewaltmonopols, wodurch die Existenz der Gewalt bereits verdrängt und der Staat fetischisiert wurde. Nicht nur sorgt die Zivilgesellschaft so für ein ruhiges Hinterland, welches ein außenpolitisch umtriebiger deutscher Staat dringend benötigt. Sie leistet auch die Resteverwertung einer sich einst revolutionär gebärdenden Jugendbewegung und ihrer wichtigsten Protagonisten. Die #Antifa ist staatstragend geworden und hat sich mit der Polarisierung der Gesellschaft durch die AfD auf die Seite von Weiszäckers, der Berliner Republik und des postnazistischen Sozialpakts geschlagen. Als Alexander Gauland daran erinnerte, dass das deutsche Volk am 8. Mai eine Niederlage erlangte, wurde dies in den sozialen Medien mehr als deutlich.

Nationalfeiertag oder Staatskritik

Denen, die sich mit diesem Label ins politische Geschäft begeben und mit dem Slogan Wer nicht feiert, hat verloren das Ablassgeschäft mit der deutschen Kollektivschuld ritualisiert haben, kam Gaulands Äußerungen gelegen, um die eigene politische Agenda voran zu treiben. Die Forderung? Der Tag der Befreiung solle zum Nationalfeiertag werden, wodurch sich eine ganze Nation als Gemeinschaft von WiderstandskämpferInnen und ihren Nachfahren inszenieren, gleichzeitig das Erbe des NS auf das dunkle Deutschland und seine blaue Partei abgespalten werden könne. Die Diskrepanz zwischen denen, die 1945 befreit wurden, und denen, die als Teil der deutschen Nation diese Befreiung feiern, ist himmelschreiend. Als Testemonial für diese Kampagne kürten sie die Holocaust-Überlebende und bekennende Antizionistin Esther Bejarano. Der mit dieser Entscheidung einhergehende Verrat an jenem Land, das als einziges der Welt die richtigen Konsequenzen aus dem Nationalsozialismus zog und noch heute dafür sorgt, dass Juden niemals wieder unbewaffnet ihren Peinigern gegenüberstehen sollen, ist den Adepten des deutschen Antifaschismus nicht einmal aufgefallen.

Mit der Forderung eines Nationalfeiertages ist man endgültig erwachsen geworden. Man hat die eigene Militanz als »linksradikale Kinderkrankheit« (Lenin) erfolgreich kuriert. Während der autonome Aktionismus zur Jugendsünde oder dem Erwerb von soft skills herabgewürdigt wird, hat man Staatskritik erfolgreich in eine materialistische Staatstheorie und damit zahnlose akademische Disziplin verwandelt. Der Abgesang auf das Konzept des revolutionären Antifaschismus war die Grundlage für eine erfolgreiche Integration in die wiedergutgewordene Zivilgesellschaft, als deren human ressources und brainpool sich die einstigen Antifas heute sehen.16 Zwang einen die praktische Militanz zur Staatsferne, hat man mittlerweile das Prinzip Georg Elser ausgerechnet gegen den Antifaschismus von KPD und SED getauscht, von dem jener so bitter enttäuscht wurde. Indem man gegen AfD und für Nationalfeiertage breite Bündnisse schmiedet und die Einheit eines aufrechten, guten, anständigen und anderen Deutschlands beschwört, unterscheidet man sich im Konformismus nicht mehr von den marxistisch-lenistischen Traditionslinken, gegen die man als Jugendbewegung aufbegehrte. Letztere übrigens haben in Gestalt der DKP der breitgefächerten Bündnispolitik von einst eine strikte Absage erteilt. Wenn man Nie Wieder sagt, dann dünkt man sich heute noch bedeutend klüger als jene mit ihrem Nie wieder Krieg. Doch wie der Marxismus-Leninismus hat man selbst seinen Frieden mit dem deutschen Staat gemacht. Die #Antifa-Haltung erinnert nur noch vom Namen her an ihren Ursprung. Sie ist notwendig falsches Bewusstsein all jener, die in der Zivilgesellschaft oder den deutschen Parteien ihr Geld verdienen, den karrieretechnischen Bedürfnissen entsprechend zurechtgestutzt worden sind.

Dass die breite Kampagne für den Nationalfeiertag auf wenig bis gar keine Resonanz stieß, zeigt vor allem eins: Der deutsche Staat hat es nach dem Antifa-Sommer 2000 und dem Willkommens-Sommer 2015 längst nicht mehr nötig, international zu Kreuze zu kriechen. Ohne dass es allzu große Aufmerksamkeit erzeugen würde, kann mittlerweile frei von der Leber weg Israel für sein nationalistisches und egoistisches Gedenken an die Shoah kritisiert werden. Ganz so, als wäre die Notwendigkeit eines nationalen Egoismus der Juden nicht die einzig mögliche Antwort auf einen allgegenwärtigen Antisemitismus in einer Welt von Staat und Kapital. Dieser Aufstieg Deutschlands, vom Juniorpartner der USA zum Hegemonen innerhalb Europas, verlief nicht gradlinig, erst recht nicht reibungslos, führte letztlich aber zum Erfolg. Der dritte Griff zur Weltmacht der vor 75 Jahren besiegten Volksgemeinschaft wird kaum auf militärische Mittel zurückgreifen.17 Niemand begeht dreimal denselben Fehler. Der Krieg der deutschen »Anti-Nazis«, von dem Walter Loeb im Eingangszitat sprach, wird mit friedlichen Mitteln geführt. Er zielt direkt auf das Herz der Bestien. Im Bündnis mit Schurkenstaaten wie der Islamischen Republik Iran, autoritären Regimen wie Russland und atheistischen Diktaturen wie der Volksrepublik China robbt sich Old Europe unter Führung Deutschlands langsam, aber sicher an der Hegemonialmacht USA vorbei.

1 Walter Loeb: Deutsche Propagandisten in Curt Geyer, Walter Loeb u.a. : Fight for Freedom – die Legende vom anderen Deutschland. Freiburg, 2009, 95-104, hier 103.
2 Ausführlicheres zum staatstragenden Antifaschismus siehe: Redaktion Antideutsch.org: Antifa heißt nicht Zivilgesellschaft in Jungle World 2020/26.
3 In der Regierungsperiode von Rot-Grün 1998-2005 betrifft dies verschiedene Generation des linksradikalen Protestes. Neben den ehemaligen Spontis, die nun auf den Regierungsbänken Platz nahmen, waren es ehemalige Antifas und Autonome, die die neugeschaffenen Stellen innerhalb der Zivilgesellschaft annahmen. Beide Generationen folgten so dem unsäglichen Diktum: Wer mit 19 kein Revolutionär ist, hat kein Herz. Wer mit 40 immer noch ein Revolutionär ist, hat keinen Verstand.
4 Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte (Werke und Nachlass Band 19), Berlin, 2010, 96.
5 Siehe dazu: The Future is Unwritten: Gestern radikal – heute Landtagswahl in konkret2019/09. Online: https://www.unwritten-future.org/index.php/gestern-radikal-heute-landtagswahl/
6 Mit Willy Huhn ließe sich argumentieren, dass in der deutschen Sozialdemokratie 1918 gar kein Umschwung gegen die Revolution stattgefunden habe und die Parteielite weder ein ernsthaftes Interesse an der Marxschen Kritik noch an revolutionären Erhebungen hatte. Als Belege führt er dazu nicht nur die nationalistische Positionierung 1914 an, sondern deren generelle auf die staatliche Politik ausgerichtete Struktur. Siehe dazu: Willy Huhn: Der Etatismus der Sozialdemokratie – Zur Vorgeschichte des Nazifaschismus. Freiburg, 2003.
7 Näheres zur Rolle von Beneš im Londoner Exil: Florian Ruttner: Pangermanismus – Edvard Benes und die Kritik des Nationalsozialismus. Freiburg, 2019.
8 Zur FightForFreedom-Gruppe siehe: Geyer et al. 2009. Darin befindet sich auch eine historische Einordnung durch Jan-Georg Gerber und Anja Worm.
9 Fritz Bieglik, Curt Geyer, Carl Herz, Walter Loeb, Kurt Lorenz & Bernhard Menne: Der Kampf gegen den Nationalismus in der deutschen Arbeiterbewegung muß von vorne begonnen werden. Erklärung der Fight-for-Freedom-Gruppe vom 2. März 1942 in: Geyer et al. 2009, 65-70, hier 67.
10 Uli Krug: Böser Adolf, guter Richard in Bahamas 71/Sommer 2015.
11 Zitiert nach: ebenda.
12 Ebenda.
13 Brothers Keepers: Adriano (Letzter Warnung).
14 Alle Zitate im vorherigen Absatz aus: Antifa in Bewegung. In Antifaschistisches Infoblatt 56/02.2002. Online: https://www.antifainfoblatt.de/artikel/antifa-bewegung
15 Hier ist der aktuellen Blattlinie der Bahamas explizit zu widersprechen, wenn sie die Zivilgesellschaft für ein Untergraben der Souveränität kritisiert und sich im politischen Spiegelspiel auf die Seite des Souveränismus schlägt. Ausführlicheres dazu: Redaktion Antideutsch.org: Clash of what…? Online: https://antideutschorg.wordpress.com/2019/05/21/europwahl/
16 Wie sehr ehemalige AntifaschistInnen in der Zivilgesellschaft angekommen sind, zeigt sich, wenn in öffentlich-rechtlichen Medien über Antifa gesprochen wird und dabei Beschäftigte des akademischen Betriebs zu Wort kommen, deren Themenwahl und Alter zumindest Berührungspunkte mit dem militanten Antifaschismus der Neunziger nahelegen. Beim Deutschlandfunk wird zum Beispiel offen ausgesprochen, was hier polemisch formuliert wurde: »Viele professionell und halbprofessionell arbeitende Fachjournalistinnen texten für Internetseiten und soziale Medien. Es gibt etablierte Archive, Vereine, die aus antifaschistischen Strukturen hervorgegangen sind.« (Schnee, Philipp: Zwischen Engagement und Gewalt. Online: https://www.deutschlandfunk.de/mythos-antifa-zwischen-engagement-und-gewalt.724.de.html?dram:article_id=463089 )
17 Lesenswert dazu: Ilka Schröder (Hg.): Weltmacht Europa – Hauptstadt Berlin? Hamburg, 2004.

Antideutsche Identitätskrise (Leser:innenbrief)

Anlässlich des 30ten Jahrestages der Wiedervereinigung und des antinationalen re:kapitulation Kongresses veröffentlichen wir einen Leser:innebrief aus diesem Frühjahr (nach Erscheinen unseres Artikels im Distanz Magazin). Wir sind der tiefsten Überzeugung, dass es fatal wäre die Kritik der deutschen Nation den Antinationalen zu überlassen, wissen aber zugleich um die gegenwärtige Unfähigkeit der potenziellen antideutschen Kritiker:innen. Wir haben uns aus diesem Grund entschieden uns erst einmal nicht weiter zur Thematik zu äußern und damit weiter zu machen, was wir am besten können: Kritik der Tradition und Tradition der Kritik.

Sehr geehrte Redaktion antideutsch.org,
wir geben zu, wir sind nach wie vor mehr als nur skeptisch was euer Vorhaben angeht, den Faden der „antideutschen Kritik“ wieder aufzugreifen und weiter zu treiben. Wir müssen uns aber auch eingestehen, dass wir mit dem was ihr bisher versucht habt als eure „antideutsche Kritik“ zu umreißen – insbesondere dort wo ihr versucht an die Kritik der linken Bewegungen eines Wolfgang Pohrt oder der Kritik des Arbeitermarxismus von Joachim Bruhn anzuknüpfen – doch mehr anfangen können, als uns das selbst lieb ist.

Wir wollen euch die Details unseres Werdegangs ersparen und auch keine identitäre Selbstbestimmung vornehmen – oder gar Sprechortposition einnehmen. Zum Verständnis der folgenden Zeilen ist es vielleicht dennoch hilfreich, wenn wir versuchen die Tradition unserer Kritik offen darzulegen. Als loser Zusammenschluss können wir eine temporäre Zugehörigkeit – was auch immer das am Ende, abseits von individuellen Identitätsbedürfnissen, heißen mag – in den meisten Erscheinungen dessen, was nach 1990 als antideutsch galt, vorweisen. Sei es als Teil von Politgruppen oder Lesekreisen, als leidenschaftliche Leserinnen der einschlägigen Szenepublikationen, Besucherinnen und Diskutantinnen auf unzähligen Vorträgen und Konferenzen. Gemeinsam ist uns, dass uns allen – wenn auch auf ganz individuelle Weise – das antideutsche Festhalten am Existenzialurteil der kritischen Theorie (oder: das Festhalten am Existenzialurteil, dass uns zu Antideutschen machte) zum privaten Verhängnis wurde.

Obwohl die Rede davon, dass alle Verhältnisse umzuwerfen seien in denen die Spaltung der Gattung fortbesteht, mittlerweile zur ritualisierten Phrase verkommen ist, die man vor sich hinbetet, bevor man dann doch seinen Frieden mit dem falschen Ganzen macht und Karriere in Politik oder Akademie anstrebt, hat sie nichts an ihrer Wahrheit oder Aktualität verloren. Im Gegenteil: allein durch die nicht begründbare Verranntheit in sie, ist es überhaupt möglich die Momente zu erkennen, in denen sie zur Phrase wird. Anders als es die zahlreichen ehemaligen Weggefährtinnen von uns behaupten werden, hatten wir nie die Absicht Recht zu haben – sondern wurden von der Hoffnung getrieben, widerlegt zu werden. Hinter dem von uns zeitweise angenommenen Begriff „antideutsch“ sollte zu keinem Zeitpunkt mehr stecken, als das Festhalten am Kommunismus gegen diejenigen, die sich trotz ihrer Kompromissbereitschaft mit der falschen Gesellschaft selbst zu Kommunistinnen machten, irgendwie begrifflich zu fassen. Doch jenes Wörtchen taugt eigentlich nicht mehr als Platzhalter für diesen Begriff – das wisst ihr wahrscheinlich besser als wir.

Wenn es stimmt, dass sie Erschlagenen durch das Vergessen ein zweites Mal erschlagen werden – und wir wüssten nicht womit sich diese Feststellung widerlegen ließe – dann werden sie nicht durch Identifikation mit ihnen plötzlich wieder lebendig. Die tragisch gescheiterten Versuche, das Einfache das schwer zu machen ist zu verwirklichen, können nur als Farce wiederholt werden. Die historische Möglichkeit sich als Revolution zu bewahrheiten lässt sich nicht beliebig reproduzieren. Beim Leninismus wird nie etwas anderes herauskommen als autoritärer Staatssozialismus, der mit seinem Versuch den Staat gegen das Kapital in Stellung zu bringen beide Verhältnisse manifestierte und die Kritik an ihnen zur Legitimationsideologie verkommen lassen muss. Wie bei den anderen linken Zerfallsprodukten ist sein Scheitern zu akzeptieren, um seine utopischen Momente nicht auf dem Müllhaufen der Geschichte zu entsorgen oder – was das gleiche ist – zur Kohle der Lokomotive der Geschichte des Fortschritts werden zu lassen.

Gemeinsam ist all den gescheiterten Versuchen ihre mangelnde Treue zu besagtem kategorischen Imperativ – was sicherlich meistens erst im historischen Rückblick klar erkennbar ist. Erst als Emma Goldman nach den Ereignissen des Oktobers 1917 in die Sowjet Union reiste und die Gegenwart nach der angeblichen proletarischen Revolution sah, konnte sie die Oktoberrevolution selbst kritisieren. Eine derartige Kritik halluziniert sich dem zu Folge nicht ins Cockpit der Weltgeschichte und erörtert, was 1917 hätte anders gemacht werden müssen, sondern hält das Scheitern in seiner grausamen Brutalität fest. Analoges gilt für all die kleinen und großen Streitigkeiten innerhalb dessen, was wir im vollsten Bewusstsein aller internen Verwerfungen, als kommunistische Bewegung bezeichnen.

Das Wörtchen „antideutsch“ war ein passendes Label, um nach dem Jahr 1990 die unzähligen blutigen Niederlagen des kurzen zwanzigsten Jahrhunderts und ihre Gründe auf den Begriff zu bringen. Es war wichtig und richtig nach dem Ende der Nachkriegszeit auf das sich ständig perpetuierende Scheitern vom 30. Januar 1933 und Auschwitz als seine bisher ohne Vergleich gebliebenen Folge zu reflektieren. Die schon oben erwähnten Joachim Bruhn und Wolfgang Pohrt haben genau das geleistet – das gilt es zu bewahren. Doch in der Gesellschaft der Kulturindustrie – die sich nicht auf Kunst beschränken lässt, sondern nur als Totalität und (bis zu ihrer Abschaffung) unvermeidliches Schicksal aller dem falschen Ganzen widerstrebenden feinen Dinge verstanden werden kann – verschwimmen die Unterschiede zwischen Vergessen und Kulturalisierung, wovon die Meterware des Marxismus Zeugnis ablegt. Der Kampf gegen das Vergessen mit den Mitteln der Kulturindustrie – und wenn wir von ihr Sprechen gehen wir auch von ihrer Totalität aus – ist ein Kampf gegen Windmühlen. Oder anders gesagt: in der subkulturellen Szene hat sich die Kritik zur Ware verhärtet und die Erschlagenen Kritiker werden im Gedenken an sie ein zweites Mal erschlagen.

Wenn Antideutsche von einem zu wenig an Staat und dem Verlust der vermittelten bürgerlichen Souveränität an den angeblich unmittelbaren islamischen Gegensouverän faseln, weil die physische Präsenz der Staatsmacht nicht mehr vorhanden sei oder das Patriarchat für beendet erklären, weil die christlich-abendländische Kultur im Vergleich zur islamischen Religion der Frau mehr Freiheiten in der Sphäre der Reproduktion gibt, dann ist ihnen die gleiche Untreue am kategorischen Imperativ vorzuwerfen wie dem Leninismus. Sie verlieren die negative Totalität der falschen Gesellschaft aus dem Auge, wägen ab und fangen an politisch zu denken. Sie vergleichen Religionen als in sich geschlossene Subsysteme – klassisch-idealistisch auf der Basis ihrer Schriften (!) – miteinander oder halluzinieren sich den Gegensouverän als autonome Bedrohung, gegen die es sich abzuschotten gilt, anstatt diese als jeweils verschiedene Ausdrücke des Verhältnisses von Staat und Kapital zu begreifen. Weil sie die Totalität nicht mehr denken, können sie auch nicht mehr nach ihrer Umwerfung und Abschaffung streben. Wer wüsste besser als ihr, dass Antideutsche oder Ideologiekritikerinnen dies tun. Die folgerichtige Konsequenz daraus wäre, dass man Antideutsche als ebenso gescheiterte historische Erscheinungen ansieht wie Leninisten.

Doch wir müssen euch zustimmen, wenn ihr nun argumentiert, dass das eben dargestellte keine „antideutsche Kritik“ sein kann, sondern nur die Theorieproduktion von Leuten, die sich das Label geben und wir müssen euch auch weiter zustimmen, wenn ihr uns darauf aufmerksam macht, dass die spezifischen historischen Bedingungen der antideutschen Kritik – die Zeit nach der Nachkriegszeit – weiter existieren und die „antideutsche Kritik“ der einzige Anknüpfungspunkt für deren Kritik ist, den wir im Moment haben. Waren wir uns zunächst sicher, dass wir euch euer Festhalten an diesem Label als identitären Kitsch kritisieren müssen (und das obwohl wir in der Sache kaum widersprechen können), so müssen wir uns nun die Frage stellen, ob nicht das Bedürfnis der Absage an dem und der Historisierung des Begriffs das größere identitäre Bedürfnis ist. Womit wir wieder am Anfang wären: Wir müssen uns eingestehen, dass wir mit dem was ihr bisher versucht habt als „antideutsche Kritik“ zu umreißen mehr anfangen können, als uns selbst lieb ist.

In diesem Sinne verbleiben wir fürs erste mit Skepsis und Zustimmung,
gezeichnet:
einige Kommunistinnen in der Identitätskrise.

75 Years: Antifa-Infopodcast

„Zunächst möchten wir uns klar von anderen Formen des Gedenkens abgrenzen. Wir finden, dass dies zu wenig innerhalb der radikalen Linken und im Besonderen in der antideutschen Szene passiert ist. Gerade in Deutschland, wo das Gedenken zur ideologischen Legitimation des staatlichen Handelns dient, muss man sich in fundamentale Opposition gegenüber jeder offiziellen Form des Gedenkens begeben, wenn man sich nicht von der staatstragenden Zivilgesellschaft der Berliner Republik vereinnahmen lassen möchte.“
– Solarium (Im Gespräch mit uns)

Anlässlich des 75jährigen Jubiläums der militärischen Zerschlagung des Nationalsozialismus haben wir damit begonnen, gemeinsam mit unseren GenossInnen von Solarium (kommunistische Gruppe Bremen), einige Texte aus den Broschüren der 70Years-Kampagne zu vertonen. Die 70Years-Kampagne war eine an Jugendliche gerichtete Antifa-Infokampagne mit dem Ziel den deutschen Umgang mit dem Nationalsozialismus der Widerwärtigkeit zu überführen und ihm einen antifaschistischen, antideutschen und ideologiekritischen (damit auch kommunistischen) Umgang mit der Geschichte entgegen zu halten. Dies knüpft sowohl an das Projekt dieser Website an, als auch an einige Aktivitäten unsere GenossInnen aus Bremen.

Alle drei Broschüren der 70Years-Kampagne lassen sich Online abrufen, die dritte kann über uns oder bei Solarium (solariumkgb at riseup dot net) bestellt werden.
1) D-Day: https://issuu.com/70years/docs/brosch__re
2) Victory Day: https://issuu.com/70years/docs/brosch__re_dina5
3) The Aftermath: https://issuu.com/antideutscheaktionberlin/docs/the_aftermath_of_the_allied_triumph

Kapital, Staat, ihre Fetische und dieses deutsche Scheiszland.

Im folgenden möchten wir die überarbeitete Version eines internen Diskussionspapier mit Skizzenhaften Überlegungen für einen antideutschen Materialismus veröffentlichen, um die analytische Grundlage unserer bisher veröffentlichten Flugblätter offen darlegen zu können. Es geht uns darum um nichts weniger, als um den Versuch die Basis der vom antideutschen Materialismus ausgehende kommunistische Kritik der Welt aufzuzeigen. Dabei geht es uns allerdings nicht um besserwisserische Arroganz – die überlassen wir dem GegenStandPunkt und dem lokalen Ableger Argu.Diss – sondern um den Anstoß einer (nicht nur) in Bremen notwendigen Diskussion über linksradikale Gesellschaftskritik, die sich weder darin begnügt die Farce zu vergangenen linken Tragödien zu sein, noch – bewusst oder unbewusst – Erfüllungsgehilfin politischer Parteien zu werden. Die im folgenden skizzierten Begriffe erachten wir als Basis dieser Kritik.

Weil wir das nun folgende bereits als Flugblatt zugespitzt haben und weil es eigentlich um etwas anderes geht, sind die Verweise auf den Aufruf von NIKA Nordwest für die Demonstration gegen Thilo Sarrazin in Bremen bewusst implizit gehalten. Der bewusste Bezug zum Aufruf soll dennoch nicht verdrängt werden und hier nochmal vorangestellt werden. Die im Flugblatt geäußerte Kritik soll an dieser Stelle viel mehr als pars pro toto für eine kritisierenswerte Lage linker Kritik genommen werden.1 Des Weiteren sei bereits vorab angemerkt, dass das nun folgende keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann und will, sondern lediglich versucht ein wenig Grundsätzliches über einen antideutschen Materialismus zu sagen, der die Basis unserer Kritik an einer viel zu wenig radikalen Linken ist.

Das Kapital:

Anders als die antikommunistischen Marxisten es raunen, ist das Kapital kein Kreis von Personen, der in irgendwelchen Räumen über die Welt herrscht. Der von Marx erkannte Widerspruch von Kapital und Arbeit, der vom Marxismus erst zum Grundwiderspruch aufgeblasen wurde, um dann personifiziert zu werden, ist nicht die wesentliche Bestimmung des Kapitalismus. Jene wäre erst, mit einem Begriff von einer Vergesellschaftung, in der das Kapitalverhältnis zum totalen System geworden ist, also eine alles Denken und Handeln bestimmende Totalität erreicht hat, zu haben. Doch wie drückt sich diese Totalität aus, wie lässt sie sich auf den erforderlichen Begriff bringen?

Wer in Marx einen Theoretiker des Kapitals – und darin unterscheiden sich die meisten seiner Anhänger nicht voneinander, egal ob sie früher Sozialdemokraten, Stalinisten, Trotzkisten oder neuerdings Autonome und Antinationale sind – sehen möchte, der erwartet implizit das Begreifen und vernünftige Darstellen einer absolut unbegreiflichen und unvernünftigen Angelegenheit.2 Polemisch gesagt: Wenn es Marx nur darum gegangen wäre, das Wesen der Totalität theoretisch darzustellen, anstatt es als Unwesen zu denunzieren, dann hätte er lediglich Hegel interpretieren und keine Kritik der politischen Ökonomie schreiben müssen. Wenn er eine Theorie des Kapitals zu schreiben versucht hätte, dann hätte er dadurch in das Kapitalverhältnis eine Vernunft hineingelegt. Er wäre Linkshegelianer geblieben, anstatt den Versuch zu unternehmen, Hegel vom Kopf auf die Füße zu stellen und der idealistischen Theorie eine materialistische Kritik entgegenzustellen.

Wenn Jahrzehnte später nun Adorno unter dem Eindruck der Shoah und im Anschluss an Marx davon sprach, dass das Ganze das Unwahre und das Wesen des Kapitals ein Unwesen sei, dann sind das weit mehr als bloße akademische Spielereien mit hegelscher Dialektik, sondern es ist Ideologiekritik par excellence und damit notwendiger Anknüpfungspunkt für jede linksradikale Gesellschaftskritik. Hegel brachte, als Metaphysiker des Tausches, wie kein zweiter die Art und Weise, in der sich die bürgerliche Gesellschaft konstituiert, zu einem Bewusstsein. Welches, – und das meint der Ideologiebegriff – für den Erhalt dieser Gesellschaft zwar notwendig, auf Grund seiner Affirmation der Spaltung der Gattung in Herrschende und Beherrschte, allerdings grundsätzlich falsch ist.

Es kann aber auch nicht richtig sein, da die einzige Wahrheit über das paradoxe Verhältnis des Werts, welches den Einschluss aller durch alle im Ausschluss aller durch alle erreicht, dessen Abschaffung wäre. Das heißt, dass die gesellschaftliche Synthese, die das Kapitalverhältnis stiftet, alle ausschließt, weil es die Individuen zu Arbeitskraftbehältern und die sinnlichen Dinge zu Waren atomisiert und zugleich alle einschließt, in dem alles auf den Wert bezogen und dadurch miteinander austauschbar (und damit vergleichbar) wird. Der Mensch wird im sozialen Verhältnis des Wertes als bloßer Arbeitskraftbehälter sowohl vom gesellschaftlichen Reichtum ausgeschlossen, als auch als Verkäufer der Ware Arbeitskraft im Marktzusammenhang eingeschlossen.

Jede Theorietisierung dieses real-existierenden völligen Widersinns eines automatischen Subjekts des Kapitals, eines sich selbstverwertenden Wertes, eine ewig voranschreitende Prozession von Geld – Ware – mehr Geld, wäre eine Rationalisierung und damit Legitimierung der Herrschaft des Menschen über den Menschen, deren Abschaffung gerade das Ziel der kommunistischen Kritik ist. Der polemische Gehalt des marxschen Begriffs vom automatischen Subjekt liegt gerade in seiner paradoxen und theologischen Dimension: zum einen ist etwas entweder automatisch oder es ist Subjekt, zum anderen ist die Selbstverwertung des Wertes ein Zirkelschluss und deshalb logisch nicht korrekt und doch ökonomische Realität auf die jede ökonomische Theorie aufbaut.3 In gewisser Weise existiert im Kapitalismus mit dem Wert ein, sich jeder Rationalität entziehendes, göttliches Moment, dass dennoch vom Menschen geschaffen wurde.4

Die allgemeine Gültigkeit erhält dieses abstrakte Wertverhältnis durch seine sinnliche Form: das Geld. Dessen Rätsel – und die Denker der politischen Ökonomie haben bis heute keine Antwort darauf gefunden5 – liegt in seiner zugleich objektiven Gültigkeit als abstraktes Wesen des Werts und in seinem subjektiven Charakter als konkrete Erscheinung in der Geldware. Hier ist zum Einen auf die Unbegreiflichkeit zu verweisen, die in diesem logischen Paradox liegt und zum Anderen auf die weitgehenden Folgen für eine Gesellschaft, in der dieses Paradox zur bestimmenden Synthese – zum Ausschluss aller durch den Einschluss aller – werden konnte.6

Der Staat:

Wenn man wie Marx, über die Bedeutung des Geldes für das Kapitalverhältnis nachdachte und dabei eine britische Pound Sterling Münze in die Hand nimmt – was der gute Karl nach jedem Besuch seines Finanziers Engels tun musste, um seine Familie ernähren zu können – wird deutlich, dass auf der einen Seite der Wert in einer Zahl ausgedrückt wird, während sich auf der anderen Seite der Kopf des Souveräns befindet. Kurzum: es wird deutlich, dass der Staat nicht unbeteiligt an dieser Form der Vergesellschaftung sein kann. Es verwundert demnach nicht weiter, dass Marx nach dem Manifest der kommunistischen Partei und in den Arbeiten zur Kritik der politischen Ökonomie Abstand nahm von der Idee des Staates als Hebel zur Errichtung der befreiten Gesellschaft. Es bezeugt darüber hinaus den konterrevolutionären Charakter aller Erscheinungen des Marxismus-Leninismus und sonstigen sozialdemokratischen Elendsverwaltungsbestrebungen, dass Lenins Buch Staat und Revolution und nicht Staat ODER Revolution hieß. Doch was genau hat der Staat mit dem Kapitalverhältnis zu schaffen?

Wie bereits angedeutet ist das Kapitalverhältnis ein Verhältnis, in dem das Tauschverhältnis eine allgemeine Gültigkeit erlangt. Erst dadurch, dass Waren aufeinander im Tausch bezogen – also: verglichen – werden, entsteht Wert, Ware, Geld und Kapital. Eine Voraussetzung des Tausches ist, dass sich die Tauschenden als Freie und Gleiche gegenübertreten – denn wenn ich etwas einfach so nehmen kann, dann werde ich nicht dafür bezahlen. Diese Freiheit und Gleichheit wird garantiert durch die Vereinigung in Brüderlichkeit im Nationalstaat, der – mit den legitimatorischen Weihen seiner Staatsbürger gesegnet – die Freiheit und Gleichheit (und somit den Tausch) rechtlich garantiert, was auch heißt, dass er Rechtsübertritte ahndet. Dazu darf er nicht nur – als einziger – Gewalt einsetzen (Stichwort Gewaltmonopol), mehr noch: er definiert überhaupt erst was Gewalt ist.

Es ist mittlerweile unter kritischen Historikern nicht unüblich, sich die Entstehung von Staatlichkeit als das Agieren einer Mafiabande vorzustellen und es ist auch für unsere Belange hilfreich, sich den Prozess der ursprünglichen Zentralisation7 – die Entstehung einer Staatlichkeit – unter Berücksichtigung dieses Bildes zu vergegenwärtigen. Betrachten wir also exemplarisch Feudalherren, deren herrschaftliche Sitze nur unweit von einander entfernt liegen und die sich im permanenten Zwist um die zwischen ihnen befindlichen Ländereien befinden. Je länger der Zwist andauert, desto mehr Geld – welches sie von den Bauern, die ihre Ländereien bewirtschaften erhalten – brauchen beide, um ihr Söldnerheer finanzieren zu können. In gewisser Weise besteuern sie die Bauern, damit das funktioniert, müssen sie wiederum alle Gewalt – außer die eigene – von den Bauern fern halten, kurzum: sie verlangen Schutzgeld. Zum Eintreiben dieses Schutzgeldes benötigen sie Bürokraten, zur Aufrechterhaltung des Schutzes benötigen sie ein permanentes und stehendes Heer und so weiter. Langfristig setzt sich einer der beiden durch – oder sie kooperieren, das Gebiet vergrößert sich und damit notwendigerweise der Staatsapparat und das stehende Heer. Am Ende entsteht aus diversen ehemaligen Provinzen ein vereinigtes Königreich.

Das ist die – stark vereinfacht dargestellte – feudale Form von Staatlichkeit, in der die Herrschaft noch unmittelbar durch Gewalt ausgeübt wird und in der die Reichtümer vor allem den Gelüsten der Herrscher dienen. In der Epoche des Merkantilismus gewinnt das kaufmännische Bürgertum immer mehr ökonomische Macht, durch die sie Kompromisse mit der Feudalherrschaft eingehen und Privilegien erlangen können.8 Marx spricht davon, dass die Feudalherrschaft ihre eigenen Totengräber hervorbringt und verweist auf den Moment, in dem sich das Bürgertum gegen die Feudalherrschaft auflehnt und mit der Parole Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit sich die Welt nach ihren – auf Tausch basierenden – Vorstellungen einrichtet. Dabei wird jedoch nicht gänzlich mit der Herrschaft des Feudalismus gebrochen und Gewalt nicht einfach durch Recht ersetzt, wie es Liberale bis heute behaupten. Die Herrschaft wird durch das Recht vermittelt und Gewalt wird zur ersten Bedingung und letzten Garantie des Rechts.

Wie alle Waren durch den Wert aufeinander bezogen sind, so sind es die Menschen – die einzig als Träger der Ware Arbeitskraft relevant sind – im Recht durch den Souverän aufeinander. Denn nur, wer über seine Ware Arbeitskraft verfügt, kann diese zu Markte tragen. Erst als Staatsbürger sind sie rechtliche geschützte Subjekte.9 Dieses Rechtssubjekt ist das Ideal des allgemeinen Menschen, der von allen empirischen Besonderheiten und natürlichen Beschränkungen abstrahiert wird. Das heißt, dass der abstrakte Begriff des Menschen dem konkreten Menschen gegenübersteht. Verkörperung dieses abstrakten Bildes vom Menschen ist der Souverän,10 der mit seinem Gewaltmonopol diesen Zustand des Rechts erst ermöglichen kann.

Zwei Sachen, die an dieser Stelle leider ausfallen müssen, aber von Relevanz sind: Erstens muss erwähnt werden, dass der Staat nicht allein existiert, sondern im permanenten Kriegszustand gegenüber anderen Staaten, die – trotz temporärer Kollaboration – in einem Konkurrenzverhältnis zu einander stehen. Zweitens muss angemerkt werden, dass in der Idee der Nation Staat und Souveränität ideologisiert – gewissermaßen erfahrbar gemacht – werden, in dem der bloßen Abstraktion ein mythisches Leben eingehaucht wird. Der erste Weltkrieg ist – wie nicht zuletzt Rosa Luxemburg analysierte – die ebenso brutale wie logische Konsequenz von Staatlichkeit.

Die Subjekte I:

Dass die Waren sich nicht selbst zu Markte tragen können, wie Marx anmerkte, heißt – wenn man an die weiter oben angeschnittene Zentralität der Warenform für die gesamte Vergesellschaftung denkt –, dass der Mensch für Marx das Subjekt der Geschichte ist und bleibt. Das heißt, dass das automatische Subjekt seine Existenz allein der Handlung von nicht-automatischen, ergo menschlichen, Subjekten verdankt; dass die Realabstraktion Staat nur vermittels Subjekten – seien sie Polizisten, Politiker oder Soldaten – erscheinen kann. Wenn Marx allerdings sagt, dass sich die Geschichte scheinbar hinter dem Rücken der Subjekte vollziehen würde,11 spricht er damit das – schon vorher erwähnte – notwendig falsche Bewusstsein der Subjekte an. Er erklärt, dass sie – ohne es zu merken – zu Charaktermasken12 werden und attestiert ihnen einen fetischisierten Alltagsglauben.

Ihre Fetische:

Der Begriff des Fetischcharakters der bürgerlichen Gesellschaft wird von Marx im ersten Band des Kapitals entwickelt. Als solcher ist der aus der aufgeklärten und bürgerlichen Religionswissenschaft stammende Begriff13 zu tiefst polemisch. Als Fetisch gilt der Glaube von sogenannten primitiven Religionen, die in einem Gegenstand – zum Beispiel in einem bunt angemalten Stück Holz – magische Fähigkeiten behaupten. Im Bewusstsein des Verhältnisses von Mythos und Aufklärung, über das Adorno und Horkheimer später ein ganzes Buch14 schreiben sollten, attestiert Marx der aufgeklärten Gesellschaft des Bürgertums einen Okkultismus, der dem der primitiven Völker in Nichts nachsteht. Ein Wuppertaler Foucaultianer brachte diese aufgeklärte Form des mythischen Glaubens auf ein Bild, dessen Tragweite er mit seiner Ablehnung einer negativen Dialektik15 eventuell selbst nicht verstehen kann: „Und wie der erste Mensch vor Blitz und Donner stand, steht der moderne Mensch vorm Kontostand und bangt um seine Existenz. Ängstlich wie er immer war, murmelt er Beschwörungsformeln. Der Glaube ging, die schnöden Sorgen um das Übermorgen blieben.“16

Ohne allzu genau auf die einzelnen Fetische eingehen zu können, seien die für unsere Beobachtungen Wichtigsten an dieser Stelle noch einmal kurz angerissen. Als Warenfetisch versteht Marx die okkulte Annahme, dass jeder Gegenstand schon qua Natur eine Ware sei und damit ein Wert in ihm – also zum Beispiel in einem Tisch – selbst enthalten und nicht erst Ergebnis des gesellschaftlichen Tauschverhältnisses sei. Diese Fetischisierung ist gleichbedeutend mit einer Enthistorisierung des Kapitalverhältnisses, das nicht mehr als bestimmte aktuelle Form von Vergesellschaftung erscheint, sondern als stets allgegenwärtige: Wenn alle Dinge immer Waren mit Wert sind, dann ist das sie umgebende Verhältnis immer das Tauschverhältnis. Analog dazu der Staatsfetisch und der Rechtsfetisch, die einen Menschen qua Natur als Rechtssubjekt sehen (Stichwort: Menschenrechte oder Naturrechte) und somit die gesellschaftlichen Verhältnisse, die diesen Zustand erst hervorbringen, zu einer zweiten Natur werden lassen.17

Die Subjekte II:

In der von Staat, Kapital und ihren Fetischen bestimmten, bürgerlichen Gesellschaft kann der konkrete empirische Mensch – sofern er das Glück hat, ein Staatsbürger zu sein und nicht ohne Papiere im Mittelmeer ertrinken muss – nur in der Subjektform überleben.18 In dieser ist die Individualität zum Accessoire der Persönlichkeit degradiert.19 Sein Denken ist in die Warenform gebannt, die „erkenntnistheoretisch von der Philosophie und triebökonomisch von der Psychologie verdoppelt und rationalisiert wird.“20 Das Individuum steht also nicht im von Soziologie und Feuileton behaupteten Gegensatz zur Gesellschaft, sondern die Gesellschaft hat sich ins Innerste des Individuums eingebrannt. Zum Subjekt wird das Individuum, wenn es in der Lage ist, sich selbst als Eigentümer der Ware Arbeitskraft zu denken, seine eigenen Triebe so zu beherrschen, um zur gesellschaftlichen Produktion beitragen zu können – letzteres hat allerdings mehr mit Glück als Verstand zu tun.21 Kurzum: Subjektform, das heißt – nach einem Worte von Joachim Bruhn – „Kapital verwertend und Staatsloyal“22 zu sein, sprich: „Subjektform ist die Uniform“.23

Das Subjekt ist, wovon es in seinem fetischisierten Bewusstsein nur eine Ahnung (als Existenzangst) entwickeln kann, vollauf prekär. Permanent droht die eigene Wertlosigkeit und damit der Verlust der Subjektivität: „Derart ist das bürgerliche Subjekt verfasst, dass es Identität nicht aus sich selbst erzeugen kann, sondern nur im Prozess einer ständigen Abgrenzung, eines permanenten Zweifrontenkrieges gegen das ‚unwerte‘ und gegen das ‚überwertige‘ Leben. Bürgerliche Subjektivität existiert nur in der vollkommenen Leere der permanenten Vermittlung, die sie zwischen den Waren, im Tausch, und um den Preis der ihr andernfalls drohenden Annihilation zu stiften hat.“24 Die erste Front ist eine Abspaltung und Projektion, der eigenen – sich der Verwertung und Verrechtlichung entziehenden – triebhaften Naturbeschaffenheit, auf einen rassifizierten Menschen beziehungsweise Gruppe von Menschen, dem beziehungsweise denen man den Subjektstatus verweigern muss, um sich selbst als Subjekt wähnen zu können.25 Die Ambivalenzen zwischen Romantisierung der edlen Wilden und dem Streben nach ihrer totaler Beherrschung folgen der dialektischen Logik des Wertes.

Antisemitismus und Antizionismus:

In der zweiten Front werden pathisch die eigenen Sehnsüchte auf die „Gegenrasse als solche“ projiziert. Er ist das mörderische Streben des Bürgertums sich selbst zu rassifizieren, die eigene Subjektivität durch Aneignung des angeblich geheimen Wissens der Juden zu erlangen. Diese Abspaltung findet allerdings zweifach statt: ökonomisch im Antisemitismus und politisch im Antizionismus – das Eine bedingt das Andere so sehr, wie sich Staat und Kapital gegenseitig bedingen.

Dem Antisemiten erscheint das Kapitalverhältnis als Gegenüberstellung von Produktions- und Zirkulationssphäre, wobei die Produktion als „schaffend“ und die Zirkulation als „raffend“ gedacht werden. Dass die Warenproduktion nicht nur ohne die Zirkulation – also den Kauf- und Verkauf von Waren zum Zweck des Profites – nicht kann, sondern selbst bereits die Zirkulation – den Kauf der Produktionsmittel, ihre Aufwertung durch die gekaufte Ware Arbeitskraft und ihren Weiterverkauf – in sich enthält, kann das fetischisierte Bewusstsein, dass die Wertsteigerung auf magische Weise im Gegenstand selbst vermutet, nicht begreifen. Die Trennung und die Abspaltung stabilisiert das System, ist es doch so möglich, die Produktivität des Kapitalverhältnisses gegen seine ihm innewohnende Destruktivität auszuspielen. In Krisenzeiten der Verwertung erfüllt das Pogrom die Funktion des ritualisierten Opfers an die Gottheit des automatischen Subjekts – von der triebökonomischen Funktion ganz zu schweigen. Der Antizionist wiederum trennt die sich gegenseitig Bedingenden Recht und Gewalt, während er letzteres dem vermeintlich künstlich gesetzten jüdischen Staat zuschlägt, um den eigenen Staat als natürlich gewachsene Entität des Rechts halluzinieren zu können. Die Funktion ist in gewissem Maße analog zum Antisemitismus. Die Fetischisierung des Rechts verdrängt die Gewalt, deren Existenz jedoch unwiderlegbar ist, die einem anderen Subjekt mit finsteren Absichten zugeschoben werden muss.

Bei beiden ist der Neid auf das vermeintlich geheime Wissen der Juden und ihrem Staat nicht von der Hand zu weisen, ist das ihnen Unterstellte doch das eigene Verlangen: Verwertung und Herrschaft. Antisemitismus und Antizionismus sind die negative Ökonomie- und Staatskritik in den Formen des fetischisierten Bewusstseins. Beide sind somit gerade nicht Ausdruck einer Archaik oder Feudalität – im Falle des Irans Beleg seines irgendwie vormodernen Daseins – sondern im Gegenteil Ausdruck der bürgerlichen Moderne. Weder Bildungsarbeit noch Politik können irgendetwas gegen sie ausrichten, sind sie doch keine Unwissenheit, sondern logische Konsequenz der bürgerlichen Subjektivität, auf der jede Vorstellung von Politik notwendigerweise beruht.

Eine Kritik an Staat und Kapital, die ihren negativen und fetischisierten Konterpart nicht wahrnimmt, scheitert am eigenen Anspruch. Die Solidarität mit dem Staat Israel, als einzig möglicher Antwort auf den antisemitischen Vernichtungswahn der verstaatlichten Subjekte, steht somit nicht in Widerspruch zur Kritik an Staatlichkeit, sondern ist deren Bedingung. Wenn an den Juden die Übel der Moderne ausagiert werden sollen, dann ist es schlicht und ergreifend fahrlässig und konterrevolutionär, ihnen die Selbstverteidigung – in der einzig ihnen zu Verfügung stehenden Form des Staates – abzusprechen. Wenn der Kommunismus die Befreiung der Menschheit sein soll, dann kann diese nicht mit dem Preis des stets drohenden antisemitischen Mordes errichtet werden.

Dieses deutsche Scheiszland:

Folgt man dem bisher Dargelegten zustimmend, dann bleibt den lesenden Individuen nichts anderes übrig, als sich als antinational, israelsolidarisch und kommunistisch zu verstehen. Das heißt – um es herunter zu brechen – sich kritisch gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft und all der gescheiterten linken Versuche, diese zu überwinden, zu verhalten und darauf zu pochen, dass die staatenlose nicht ohne die klassenlose und die klassenlose nicht ohne die staatenlose Gesellschaft zu machen ist und dass Staat und Kapital sich nicht auf einzelne Personen herunter brechen lassen, sondern ihre Macht als Realabstraktion aus dem notwendigen und falschen Bewusstsein der gesamten Gesellschaft ziehen.26 So radikal diese Haltung – würde sie in letzter Konsequenz durchgezogen – auch gegenüber der gegenwärtigen Linken wäre, so sehr lässt sie doch außer Acht, dass die Lügen von Staat und Kapital beinahe auf mörderische Weise wahr gemacht worden wären und es, neben diversen von den Opfern des Nationalsozialismus gebildeten bewaffneten Widerstandsgruppen, allen voran den Staaten der Sowjetunion, der Vereinigten Staaten von Amerika und des Vereinigten Königreichs zu verdanken ist, dass dem nicht geschah. Ebenso wird außer Acht gelassen, dass dieses Unterfangen nicht zufällig von einem bestimmten Staat ausging: Deutschland.

Richard Wagners affirmative Emphase, dass es deutsch sei, eine Sache um ihrer selbst Willen zu tun, bekommt ihre historische Wahrheit in der antisemitischen Vernichtung um der Vernichtung Willen. Ihren materialistischen Gehalt erhält sie durch den Verweis auf Adornos Rede, dass ein Deutscher jemand sei, der keine Lüge aussprechen könne, ohne sie selbst zu glauben.27 Das heißt – in aller Kürze –, dass die Unwahrheiten der bürgerlichen Gesellschaft im Nationalsozialismus auf brutalste Art und Weise beinahe wahr gemacht worden wären, wie die bloß über den Wert vermittelte vermeintliche Egalität der Klassengesellschaft zur Auflösung des Klassenwiderspruchs in der Egalität des Mordkollektivs wurde; wie der Traum von der krisenfreien Ökonomie in der kriegerischen Konsumgemeinschaft realisiert werden sollte.28 Das Erbe dieser Gemeinschaft lebt fort im postnazistischen Sozialpakt, in der Unterstützung antisemitischer Mörderbanden, dem Aufschwingen zur moralischen Weltmacht und in der stetigen Möglichkeit, sich im Angesicht der Krise erneut auf die altvertraute – beinahe erfolgreiche – Krisenlösung zu besinnen.

Auf diesen Unterschied zwischen den Staaten – und Deutschland ist in diesem ideologiekritischen Sinne nicht der einzige, aber der erste deutsche Staat – zu bestehen, heißt sich der Bedingung der Möglichkeit der eigenen Kritik bewusst zu sein.29 Gerhard Scheit fasste treffend zusammen, dass Staat und Kapital zwar die Bedingungen der Möglichkeit der Katastrophe seien, aber selbst noch nicht die Katastrophe. Anders als es aktuell häufig versucht wird, lässt sich das Antideutsche nicht gegen das Kommunistische ausspielen, denn das Bejahen der bürgerlichen Gesellschaft ist die Akzeptanz der Bedingung der Möglichkeit ihres eigenen Umschlags in Barbarei; denn das Beharren auf kommunistischen Idealen und Prinzipien im Angesichts der mörderischen Vernichtungsdrohung staatsgewordener deutscher Ideologie ist schlicht und ergreifend zynisch. Um es in eine Parole zu fassen: Nieder mit Deutschland heißt Solidarität mit Israel und für den Kommunismus.

Die Subjekte III:

Alles was bisher über Subjektivität gesagt wurde, gilt natürlich auch für den deutschen Staat, der nur durch seine Staatsbürger überhaupt sein kann und der sich eben nicht bloß durch Wirtschaftsbosse und Politfunktionäre ausdrückt, sondern in dem jeder einzelne Staatsbürger in eine entsprechende Charaktermaske schlüpft. Das Ausspielen der klassenbewussten Antifa gegen die rassistischen Funktionäre von Staat und Kapital verkennt die gerade in Deutschland (gern) praktizierte Verbindung von Mob und Elite. Verkennt, dass der arbeitslose Faschist in Ostdeutschland mit den Sarrazins, Höckes und den Mitgliedern des Wirtschaftsclubs Havanna in Bremen in einem Verhältnis steht; dass sich die Subjektivität der ersten in Abschiebungen und Bevölkerungspolitik äußern kann, während letztere zum verzweifelten Versuch der Festigung ihrer bürgerlichen Subjektform – und das hat Joachim Bruhn im Fall eines Mörders von Solingen bereits auf dem Konkret Kongress 1993 deutlich dargelegt – einzig und allein der rassistische Mord bleibt.30 Die von buchgläubigen Kommunisten erstrebte Emanzipation der Deutschen zu Menschen, betrifft jeden Staatsbürger auf unterschiedliche Weise, aber doch gleichermaßen. Um eine Parole vom 10ten Dezember aufzugreifen: die Grenze verläuft weder zwischen den Kulturen, noch zwischen klassenbewusster Antifa und Wirtschaftsclub, sie verläuft durch die entfremdeten Subjekte hindurch.31

Dies festzustellen ist nicht gleichbedeutend mit einer Verdrängung der berechtigten Wut auf die Charaktermasken der politischen und ökonomischen Macht oder einer Predigt für den Verzicht auf nonverbale Kommunikation mit autoritären Dreckssäcken – notfalls auch vermittelt über deren Eigentum. Vielmehr ist dies festzustellen, um die Gemeinsamkeiten der rassistischen Formierung im Bewusstsein zu behalten, ohne dabei die einen zum bloßen Fußvolk der Anderen zu machen. Deutscher – und das heißt manifester Antisemit und Rassist – zu sein, ist eine Entscheidung, für die jeder im sartre‘schen Sinne zur Verantwortung zu ziehen ist.

Und ebenso sind Linke zur Verantwortung zu ziehen, die sich nicht in allerletzter Radikalität in eine Fundementalopposition zu diesem widerwärtigen Drecksland begeben und sich ausgerechnet an der Fahne Israels stören. Das Gegenteil von gut ist in der Welt von Kapital, Staat und ihren Fetischen leider, leider, leider gut gemeint.

XOXO,
Solarium – kommunistische Gruppe Bremen.

post scriptum: Zum konkreten Inhalt dieses Textes sind Diskussionsveranstaltungen geplant, außerdem werden wir in den nächsten Monaten versuchen Vorträge zu organisieren, die den im Text artikulierten Ansprüchen an eine Gesellschaftskritik Folge leisten möchten. Dazu bei Zeiten mehr.

1Unser entsprechendes Flugblatt: https://antideutschorg.wordpress.com/2019/12/11/der-staat-bist-du-charaktermasken-abschminken/
2Das zeichnet eine Theorie im strengen Sinne aus, dagegen zielte der Begriff der kritischen Theorie von Max Horkheimer.
3Das hat Marx in seiner Auseinandersetzung mit den ökonomischen Theorien von Adam Smith und David Riccardo erkannt, weswegen er ihnen eben keine alternative ökonomische Theorie entgegen stellte, sondern eine Kritik der politischen Ökonomie.
4Oder auch kantisch: als transzendental Subjekt auf den alle Vernunft bezogen ist.
5Die gesamte Geschichte der Ökonomie als Wissenschaft ist der Streit zwischen der objektiven Wertlehre und der subjektiven Wertlehre, die beide ständig gegeneinander Recht haben und sich doch irren.
6Der Ehrendoktor der Universität Bremen, Alfred Sohn-Rethel, geht dabei so weit , dass er die gesamte Philosophie des Abendlandes seit der Antike als eine versuchte Theoretisierung dieses Geldrätsels versteht – aber dazu bei einer von uns bald geschaffenen Gelegenheit mehr.
7Die notwendig in einem Verhältnis zu der von Marx dargelegten ursprünglichen Akkumulation steht.
8Die Geschichte der Bürgerrrechte der Hansestadt Bremen ist ein Beispiel für die historische Manifestation dieser logisch dargestellten Entwicklung. Wobei selbstverständlich die Komplexität keiner Geschichte – weder die Bremens noch die des britischen Königreiches – nahtlos in dieser linearen Logik aufgeht.
9Die Dialektik einer Aufklärung, die sich in ihr Gegenteil umkehrt, zeigt sich auch im Kolonialismus, durch den als rechts- und staatenlos wahrgenommene Individuen auf brutalste und unmittelbarste Weise ausgebeutet wurden. Der Reiz der nationalen Befreiungsbewegungen für diese Individuen, ob sie sich nun liberal oder sozialistisch artikulierten, liegt in der Verrechtlichung der eigenen Existenz und dem Schutz vor gänzlich irrationaler Willkür.
(Exkurs: Was dieses Moment angeht, so ist nicht nur die Geschichte Vietnams und Kubas, sondern auch die Entwicklung des Realsozialismus im sowjetischen Einflussbereich ein Zeugnis davon, dass der Realsozialismus ein bürgerliches Verstaatlichungsprojekt war, dass sich lediglich im Inhalt – Sozialstaat und Arbeitszwang – von westlichen Nationalstaaten unterschied.)
10Man darf Souverän hier nicht mit den demokratischen Gestalten verwechseln, die temporär in dessen Charaktermaske hineinschlüpfen (und somit selbst auf ein Idealbild von Herrscher bezogen werden). Besonders deutlich wird die Funktion des Souveräns als Verkörperung (der hobbesche Leviathan) dort, wo Person und Funktion zusammengewachsen sind, wie im britischen Königshaus. Die gesamte Fernsehserie the Crown gibt Auskunft darüber, wie wenig Individualität den zur bloßen Charaktermasken degradierten Mitgliedern der Königsfamilie eingestanden werden darf, damit sie ihre Funktion als Idealtyp des Menschen an sich ausüben können. Überhaupt kann in einer Auseinandersetzung mit der britischen Geschichte und den Ritualen der gegenwärtigen Politik viel von einer Souveränität als zu erfüllende Rolle gelernt werden, was in Deutschland im Traum vom Führer und der Projektion auf den amerikanischen Präsidenten verdrängt wird.
11Adorno spricht hier von Ohnmacht.
12Bloßen Funktionsträgern des automatischen Subjekts, hinter denen sich ein empirisches Individuum befindet, dass von sich selbst abstrahieren muss, um funktionieren zu können.
13Wie Marx sehr oft auf Begriffe aus der Theologie und Religionswissenschaft zurückgreift, wenn er versucht die Widersinnigkeit des Kapitals zu fassen.
14Die Dialektik der Aufklärung.
15Wie dieser selbst sagt: „Ich zitier‘ Adorno, doch ich denk nicht dran ihn ernst zu nehmen.“
16Prezident – Menschenpyramiden
17Weil es nicht oft genug gesagt werden kann: eine Linke, die sich auf das Völkerrecht oder die Menschenrechte beruft, ist eine Linke, die in den Formen von Staat und Kapital denkt und damit eine Linke, die ihren einzigen Zweck – die Errichtung der befreiten Gesellschaft – verwirkt hat und damit auf den Müllhaufen (oder Ablagestapel) der Geschichte entsorgt werden kann.
18Der soziale Tod der Subjektlosigkeit ist dabei miteingeschlossen.
19Für alle Kapitalesekreisabsolventen: Das Subjekt verhält sich zum Individuum, wie der Tauschwert zum Gebrauchswert.
20Bruhn, Joachim: „Typisch deutsch“ – Christian R. und der linke Antirassismus, in: Was deutsch ist,Seite 162.
21Der arbeitslose Alkoholiker kann als Deutschrapper über Nacht zum Subjekt werden.
22Bruhn, Joachim: Videomitschnitt vom Konkret Kongress 1993.
23Bruhn, Joachim: Subjektform ist Uniform, auf: https://www.ca-ira.net/verein/positionen-und-texte/bruhn-subjektform-uniform/
24Bruhn, Joachim: Unmesch und Übermensch, in: Was deutsch ist, Seite 96.
25Die vorkoloniale Rassifizierung der britischen Landbevölkerung, die als doppelt freie (frei von besitzt werden und frei von eigenem Besitz) Proletarier zu den Fabriken in die Städte strömte (siehe Malik, Keenan: Multiculturalism and its Discontents) sind ein Beispiel, das diesen materialistischen Begriff von Rassismus gegenüber postmodernen Identitätstheorien deutlich unterscheidet. Aber auch der koloniale Rassismus kann nur im begrifflich hergestellten Bezug der Subjektivität auf Staat und Kapital überhaupt als etwas anderes als bloße Willkür erscheinen.
26Kurzum: sich dem angeblichen Widerspruch zwischen Anarchismus und Marxismus gänzlich zu entziehen.
27Erwähnt sei hier noch Friedrich Engels, der dem deutschen Bürgertum vorwarf, die Mittel – wie den Staat oder den Antisemitismus – der Kapitalakkumulation zum heiligsten Zweck zu verklären.
28Dazu siehe bitte: Scheit, Gerhard: die Meister der Krise.
29Siehe dazu: Redaktion antideutsch.org: Verteidigung der falschen Freiheit, auf: https://antideutschorg.wordpress.com/2019/01/06/verteidigung-der-falschen-freiheit-/ & derselbe: Kann es einen Materialismus geben, der nicht antideutsch ist?, auf: https://antideutschorg.wordpress.com/2018/11/05/wertarbeit/
30Bruhn, Joachim: „Typisch deutsch“ – Christian R. und der linke Antirassismus, in: Was deutsch ist.
31Die Subjekte, die zugleich Individuum wie Charaktermaske sind, sind in sich selbst gespalten.

Gespräch über wütend-sublimierende Kritik

Anlässlich der Wiederveröffentlichung der Doktorarbeit Wolfgang Pohrts im Rahmen der gesammelten Werke haben wir mit dem Mitherausgeber Arne Kellermann einige Gedanken und Diskussionen über die Theorie des Gebrauchswerts wieder aufgegriffen, die im Zuge seines kurzen Vortrags auf unserer Pohrt-Gedenkveranstaltung im April aufkamen. Im Vorfeld der Veranstaltung haben wir bereits mit Klaus Bittermann gesprochen. Ein Großteil des Abends – darunter die Vorträge von Arne Kellermann und Klaus Bittermann – wurde aufgezeichnet und veröffentlicht.

antideutsch.org: Du hast mit Klaus Bittermann den kürzlich erschienenen ersten Band der Pohrt-Werke herausgegeben. Auf dem von uns organisierten Abend im Gedenken an Wolfgang Pohrt hast du die Einleitung der 1976er Version vorgelesen – warum erschien Dir diese passender als die von 1995?

Arne Kellermann: Also: erstmal muss ich sagen, dass ich den Ausdruck „passender“ hier unpassend finde: Die Einleitung von 1976 ist in der Gegenwart nicht passender als die von 1995. Wie ich im Editorischen Nachwort für die jetzige Werkausgabe festgehalten habe: „So [wie 1976] war schon 1995 nicht mehr zu schreiben.“ Für Eure Veranstaltung jedoch hatte ich mich entschieden, die alte Einleitung vorzulesen, weil sie helfen kann, sowohl Pohrts Werk als auch unsere eigene Zeit zu begreifen. Pohrts Pointe war es hingegen nicht, die eigene Zeit bloß zu begreifen, sondern er kämpfte – vornehmlich durch seine Schriften – dafür, dass die Menschen ihre Zeit dazu nutzten, gesellschaftliche Befreiung zu verwirklichen. Heute scheint mir diese Perspektive unter dem Schrottberg neoliberaler Geo-Polit-Ökonomie vollkommen verschütt‘ gegangen zu sein. So schien es mir wichtig, die Einleitung von 1976 – also vom Anfang der neoliberalen Epoche – vorzutragen, weil Pohrt da noch anders gegen die kapitalistische Welt polemisiert hatte. In dem Text findet sich ein unnachahmlicher Gestus von „Empörung“ – das Wort kann man ja heute kaum noch gebrauchen –, der aber tatsächlich nicht auf bloßen Moralismus hinauslief, sondern auf die revolutionäre Veränderung der Welt.

Du sprichst hier wieder selbst den Neoliberalismus als Epoche an. Du hattest auf der Veranstaltung Pohrt den Revolutionär des Neoliberalismus genannt und jetzt redest Du wieder von der revolutionären Veränderung der Welt – die Bezeichnung fand ich damals interessant. Meinst Du aber nicht, dass Pohrt gerade im Angesicht der deutschen Bewegungen berechtigten Schrecken vor einer revolutionären hatte?

Klaus Bittermann sagte mir, dass Pohrt mit einer solchen Bezeichnung wohl nicht einverstanden gewesen wäre. Wenn ich aber eben schon gesagt hatte, dass mir die alte Einleitung so wichtig ist, um unsere Zeit zu begreifen, dann geht es mir bei der Bezeichnung nicht so sehr darum, Pohrt beim Buchstaben zu nehmen, sondern seine Stoßrichtung zu begreifen. Und dafür ist die Einleitung von 1976 äußerst hilfreich. Wenn ich sage, dass Pohrt der Revolutionär des Neoliberalismus war, dann meine ich ja nicht, dass er sich jeden Tag eine Barrikade gesucht hätte, sondern vor allem, dass der durchgehende Impuls seines Schreibens darauf ging, die Menschen noch vor sich erschrecken zu lassen, um ihnen – wie Marx sagt – Courage zu machen. Und zu diesem Zweck hat Pohrt sich nach der Theorie des Gebrauchswerts nicht mehr so sehr in die Theorie gestürzt, sondern politisch-kulturellen Phänomenen seiner Gegenwart zugewandt. In diese hat er auf unterschiedliche Art und Weise versucht, derart einzugreifen, dass es vielleicht doch noch einmal klappen könnte.

Auf unserer Veranstaltung wurden ja Texte aus dem gesamten Werk Pohrts vorgetragen, das von Klaus Bittermann in vier Phasen unterteilt wurde. Bestimmen die Phasen diese jeweils unterschiedliche Art und Weise?

Genau. So weit ich das beurteilen kann, ist Bittermanns Unterscheidung vollkommen richtig. Tragend für diese Veränderungen bleibt aber meines Erachtens der revolutionäre Impuls, der sich eben immer wieder an der Gegenwart abgearbeitet hat. Wenn ich vom Neoliberalismus spreche, dann darf man das ja auch nicht als vollkommen gleichförmige Epoche verstehen: Im Neoliberalismus gab es sehr wohl Veränderungen, deren immanenter Hässlichkeit Pohrt sich jeweils entgegengestellt hat. Dennoch kann man, denke ich, einen durchgängigen Zug seiner Texte ausmachen. Vielleicht kann ich das anhand des Anfangs unseres Gesprächs verdeutlichen: Pohrt hätte sich niemals einen solch miesen Kalauer wie das Unpassende des „passenden“ erlaubt; auch hätte er sich nicht eines altväterlichen „Also“ bedient. Der müde Witz produziert doch nur das Einverständnis mit der langweiligen Welt; das anmaßende „also“, was von alpha bis omega die Allwissenheit über die Buchstabenwelt suggeriert, indem es von ALLem her kommend, SO die Welt hinter sich zu wissen vorgibt. Das selbstherrliche Gefühl konformistischen Aufmuckens war doch gerade das, was die Welt im Kapitalismus gefangen hält. Wichtiger für das, was ich mit dem Revolutionär des Neoliberalismus meine, scheint mir aber noch ein dritter Punkt zu sein: Pohrt hatte sehr früh verstanden, dass sich der zurückgeschlagene Befreiungsimpuls von ’68 ein gemütlicheres Zuhause suchen würde. In der Einleitung von ’76 schreibt er etwa von der „Neuen Subjektivität“, die sich innerhalb der gegebenen Welt Autonomie vormachen will. Revolutionär war es im Neoliberalismus eben, solche Pseudoautonomie jeweils auf ihre materiellen Grundlagen zurück zu verweisen und den Pseudosubjektiven bissig ihre Selbstherrlichkeit um die Ohren zu hauen. Heute verliert man sich hingegen in solchen viertel-gebildeten Wurstigkeiten, wie etwa über das alpha und omega des „also“ zu schwadronieren.

Genug also von solch leerlaufender Selbstbezüglichkeit – das ist doch affig! Wolfgang Pohrt bemerkt im Vorwort der 1995er Einleitung („twenty years after“), dass das mit den Worten „dem akademischen Marxismus zum Gedächtnis“ vorangestellte Zitat mittlerweile obsolet sei. Diese Bemerkung erscheint sinnbildlich für den Unterschied zwischen 1995 und 1976. Aus heutiger Sicht muss man feststellen, dass der akademische Marxismus zurückgekommen ist – wenn er auch das revolutionäre Potenzial mittlerweile endgültig domestiziert hat. Welchen Beitrag kann die Wiederveröffentlichung (inklusive der vergleichenden Gegenüberstellung) zur heutigen Auseinandersetzung mit Marx leisten?

Erstmal muss ich Dir vollkommen Recht geben: es ist affig. Und ich denke, das gilt auch für nahezu all das postkulturelle Zeugs, das heute produziert wird und zu dem ich auch den (akademischen) Marxismus zählen würde. Kritische Theorie – von Marx, über Horkheimer und Adorno bis zu Pohrt – hatte ja immer versucht, die objektiven Möglichkeiten guten Lebens der jeweiligen Gegenwart mit dem zu konfrontieren, was deren Verwirklichung gewaltvoll und herrschaftlich den Weg abschnitt – und solchen Gegensatz eben bis in die Subjekte hinein zu verfolgen. Wie aber für jene neue Subjektivität gilt, dass sie ja nicht einfach das offen Inhumane angestrebt hatte, so sollte man wohl auch nicht allzu harsch mit dem akademischen Marxismus ins Gericht gehen: Teil der neuen Subjektivität war ja nicht nur, dass man sich in esoterischem Raunen verlor, sondern auch Kämpfe innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise geführt hat, die – wie die Frauenemanzipation, oder die relative Zurückdrängung von Homophobie und Xenophobie – Individuen ein glückenderes Leben beschert haben. Ebenso stimmt es, dass der akademische Marxismus die eine oder andere Pointe herausgestellt hat, inwiefern Marx wirklich immer schon Besseres meinte als den Stalinismus. Dass er auch zeigen konnte, wie provisorisch manche „Grundwahrheiten des Marxismus“ für Marx selber gewesen sind, ist nicht vollkommen bedeutungslos. Pohrt selbst hatte aber – auf der Veranstaltung in der Volksbühne 2012 – darauf hingewiesen, wie weit etwa die ansatzweise realisierte Frauenemanzipation vom Ziel einer Befreiung zur Menschheit entfernt blieb. Und damit traf er nicht nur das – trotz allem – Partikulare der seitherigen Befreiungsbewegungen, sondern auch, dass kaum noch etwas gedacht wird, was wirklich – marxistisch oder nicht – auf eine solche Befreiung zur Menschheit hinausdeutete. – Das Wort von der „Befreiung zur Menschheit“ kommt nun aber schon wieder von mir. Vielleicht darf ich das dafür nutzen, zu meiner Einschätzung über die Bedeutung der Neupublikation zu kommen.

Nur zu, wir bitten darum.

Zuerst einmal muss ich sagen, dass ich finde, dass die Frage nach der Bedeutung für eine „heutige Auseinandersetzung mit Marx“ schon an dem vorbei geht, was das Wichtige an Pohrts Schrift war: dass die Frage eigentlich selbst schon Richtung akademischer Marxismus geleitet. Kolja Lindner hatte zum Neuerscheinen der Theorie des Gebrauchswerts 1995 eine lange Rezension verfasst, die sich auch online findet. Dort kann man nachlesen und nachempfinden, was der kluge akademische Marxismus zu Pohrt zu sagen hätte: Einige Dinge (in Marx‘ Werk) hatte Pohrt nicht beachtet; einige andere Fluchtlinien der kapitalistischen Entwicklung hätte er anders fassen müssen etc. Ich habe die Rezension mit Gewinn und mit Ekel gelesen. Wenn Lindner etwa meint, dass Pohrt sich doch lieber Überlegungen hätte hingeben sollen, die seiner Zeit die Regulationstheorie hervorbrachte, dann muss ich sagen, dass es unser Glück ist, dass er es nicht getan hat: Die Frage danach, wie der Kapitalismus sich nun wieder reguliert, mag zwar zur Produktion traditioneller Theorie sinnvoll sein; wahr – im Sinne eines Widerspruchs gegen das Fortwähren gewaltgrundierter Unfreiheit – ist sie aber nicht. Zurück zum akademischen Marxismus von heute – um es knapp zu sagen: Der heutige akademische Marxismus wird sich mit Pohrts Schrift einfach gar nicht auseinandersetzen. Ob es ihm helfen würde, mag ich nicht zu sagen: Die Regalmeter Marx-Philologie von heute finde ich – nach dem, was ich davon kenne – zu uninteressant, um mich intensiver damit zu beschäftigen. Einzig interessant fände ich die Frage, wie uns die Wiederveröffentlichung für eine politisch-emanzipatorische Auseinandersetzung mit der Welt, in der wir (über)leben, helfen könnte.

Dass eine Auseinandersetzung mit Marx, die sich nicht mit der Welt auseinandersetzt, völlig an dem vorbei geht, was Kritik der politischen Ökonomie oder kritische Theorie intendiert haben – da sind wir voll bei dir. Es ist ja gerade die Krux an Marxismus und Marx-Philologie, dass die Abscheulichkeiten der Welt, in der wir leben, meist nur als Gegenstand erscheinen, auf den eine Methode angewendet wird. Stattdessen müsste ja jede Auseinandersetzung mit Marx sich an dessen kategorischen Imperativ – das Existenzialurteil von dem die kritische Theorie Horkheimers ausgeht – orientieren und auf radikale Abschaffung das unwahren Ganzen statt auf dessen Theoretisierbarkeit zielen. Du meinst also, dass die alte Einleitung genau in diesem Sinne interessant ist? Also sich von der Masse an akademischen Arbeiten über Marx darin unterscheidet, dass sie eben nicht nur von bloß historischem Interesse ist?

Ja, unbedingt. Aber das bedeutet eben auch, dass man sich mit der vorausgegangenen Geschichte der Gewalt auseinandersetzen muss. Wenn ich sage, dass Pohrt der Revolutionär des Neoliberalismus war, dann will das unter anderem darauf hinaus, dass wir nicht mehr im Neoliberalismus leben. Dieser endete 2007/08. Was in der Einleitung von 1976 deutlich wird, ist – ex negativo –, dass der Neoliberalismus wesentlich eine Epoche der Moralisierung und Kulturalisierung gesellschaftlicher Widersprüche war, die man sich leisten können musste. Und – zumindest im „Westen“ – auch konnte. Und das ist ein entscheidender Punkt, der etwas mit jener Geste der Empörung zu tun hatte: Die Leute, die sich heute auf Pohrts Theorie des Gebrauchswerts berufen, sind auch die Wortführer einer Denunziation moralischer Kritik am Kapitalismus. Frappierend war für mich bei meiner ersten Lektüre von Pohrts Buch, wie moralisch die Kritik grundiert war. Und das nicht im Sinne politizistischer Moral, sondern das Moment der Moral war selbst notwendig geworden, für eine revolutionäre Kritik am Kapitalismus. Wenn die sogenannten Antideutschen den Kapitalismus heute als geschlossenes System denken und sich dabei auf Pohrt beziehen, dann übersehen sie, dass die Systemhaftigkeit des Kapitals mit dem Beginn des Neoliberalismus gerade dadurch hergestellt wurde, dass die krassesten Verwüstungen dieser Produktionsweise ab 1970 vom Westen in die Welt geschickt wurden. Pohrt befand sich 1976 genau in dem historischen Moment, wo die vulgärste Verelendung Anderen überlassen wurde und die Zerstörung ferne Landstriche betraf. Aber das ist vielleicht noch nicht mal das Neue, auf das Pohrt insbesondere in jener Einleitung zielt: Er nimmt wahr, dass die Menschen anfangen, sich mit dieser Situation abzufinden und sogar Gefallen daran zu finden. Die vollkommene Immanenz des Kapitalismus im Westen gründete damals gerade darauf, dass die Brutalität des Kapitalismus „uns“ primär als moralisches und ästhetisches Problem entgegentrat: Die Verelendenden der (dritten) Welt waren dann doch bald zu weit weg und im sogenannten Systemkonflikt flüchtete man dann eben amoralisch in eine „neue Sensibilität“. 1976 heißt es dazu noch: „Wer vom Kapitalverhältnis, von den Formbestimmungen nicht reden mag, der soll auch über Bedürfnisse schweigen, und umgekehrt.“

Du sprichst hier den Moment der Kritik an der kapitalistischen Totalität an, in dem sie sich selbst im Systematischen (verliert) und den Einzelmenschen aus dem Blick verliert. Das haben ja bereits Jean Amery oder auch Paul Celan gegenüber Adorno angemerkt. Uns scheint es oft, als hätten die meisten, die sich heute als „antideutsch“ bezeichnen, Adornos Diktum „Wer denkt, ist nicht wütend“ einseitig und falsch dahingehend zum Dogma gemacht, dass sie der Wut auf die falsche Einrichtung der Welt jede Berichtigung nehmen, anstatt sie durch Sublimation als einen Motor der Kritik zu betrachten. Und das, obwohl diese Wut eigentlich sehr zentral ist bei Pohrt, Bruhn oder anderen, die als antideutsche Klassiker verstanden werden. Wobei die Kanonisierung als Klassiker, deren Erbe man verteidigen möchte – wie es unlängst von der Bahamas gegenüber dem ISF und der Sans Phrase versucht wurde – wahrscheinlich gerade das ist, was dazu geführt hat, diese Wut zu historisieren, zu domestizieren und schließlich aus dem eigenen Denken zu liquidieren.

Ja, und in gewissem Sinne zwingt uns Pohrt schon 1976 dazu, solche Tendenzen kapitalistischer Ideologie als das zu begreifen, was sie werden wollten: Die moralischen Implikationen fortwährender kapitalistischer Ausbeutung und Gewalt waren damals zentrales Moment von Pohrts Kritik an den Grundlagen des Kapitalismus seiner Epoche. Das deutlichste Beispiel, das ich gerne dafür heranziehe, bezieht sich auf die praktizierte Gedankenfreiheit der „sogenannten Creativen“. 1976 heißt es, dass auch ihnen noch „die Reflexion auf die gesellschaftliche Bestimmung ihrer Tätigkeit wie ihres Produkts verboten [sei]. Sonst würden sie kaum den sich allmählich zu Tode langweilenden Mittelstand mit Urbanität, Ästhetik, Kommunikation und anderen Spielarten der neuen Lebensqualität beglücken wollen, ihm auch keine Creativität und neue Sensibilität einreden, auf deren vermeintlichen Besitz er am Ende gar noch stolz ist, um sich desto behaglicher in seinem Alltag voller kleiner Schandtaten einzurichten, sondern sie würden ihm, wenn er weinerlich Isolation und mangelnde Kommunikation beklagt, Camus’ Losung »Solitaire? Solidaire!« unter die Nase reiben und ihm erklären, daß dies heute heißt, sich für die eigene Schuld am Schicksal der Verhungernden, Abgeschlachteten und zu Tode Gefolterten in der Dritten Welt etwas mehr als nur zu interessieren.“

1995 heißt es da nur noch: „Sonst würden sie kaum den sich krank langweilenden Mittelstand mit Urbanität, Ästhetik, Kommunikation und anderen Spielarten der neuen Lebensqualität beglücken wollen, ihm auch keine Kreativität und neue Sensibilität einreden, auf deren vermeintlichen Besitz er am Ende gar noch stolz ist, um sich desto behaglicher in seinem Alltag voller kleiner Schandtaten einzurichten, sondern sie würden ihn, wenn er Isolation und mangelnde Kommunikation beklagt, an Camus’ Losung »Solitaire? Solidaire!« erinnern.“ – aus dem Zu-Tode-Langweilen, ist die Krankheit erwachsen, in die sich die Westler mittlerweile geflüchtet haben; der Weinerlichkeit, der nur restrevolutionäre Hoffnung ihre Substanz absprechen kann, sollte noch etwas unter die Nase gerieben werden – eine Geste, die heute wohl nur noch als autoritär wahrgenommen würde. Entscheidend ist aber die Formulierung, dass man sich eben „etwas mehr als nur zu interessieren“ hätte. Pohrt bringt dies eloquent und treffend mit jener Langeweile – dem subjektiven Ausdruck der Zerstörung des Gebrauchswerts – zusammen. Aber gerade dafür war emanzipatorische Kritik des Kapitalismus daran gebunden, die Opfer jenseits des eigenen Nationalstaats auch – eben: mehr als – wahrzunehmen.

Das bringt uns zurück zu einer anderen Frage: An besagtem Abend ging es häufiger um das „revolutionäre Feuer“ beziehungsweise darum der „Utopie in der Negation die Treue zu halten“ und es wurde gefragt, wie viel davon im Spätwerk Pohrts noch zu finden sei. Dass die Erstveröffentlichung hoffte, ein schwelendes Feuer weiter anzufachen, wird im Rückblick, den Pohrt 1995 geworfen hatte, deutlich. Ist dir bekannt, wie er in den letzten Jahren seines Lebens auf den Sinn und Zweck der 1995er Ausgabe blickte; welches Verhältnis er darin zur Utopie und Revolution entwickelte? Welchen Sinn und Zweck würdest du ihr zuschreiben, welches Verhältnis zur Revolution und Utopie erblickst du darin?

In dem genannten „Editorischen Nachwort“ heißt es dazu knapp, dass Pohrt „Anfang 2000 das Interesse an dem Buch verlor“; dabei berufe ich mich auf eine Aussage von Klaus Bittermann. Selber kann ich dazu nicht viel mehr sagen, weil ich mit Pohrt über diese Dinge nie habe sprechen können. Zu seiner Perspektive auf Utopie und Revolution würde ich auf eines seiner letzten Bücher verweisen, wo er ungefähr schreibt, dass von Sozialismus erst wieder zu sprechen sein wird, wenn sich die Lebensbedingungen im Westen denen Ugandas angeglichen haben werden. Man könnte das resignativ nennen; meiner Meinung nach findet sich aber selbst hier – trotz einiger problematischer Aspekte von Pohrts späteren Schriften – noch jene revolutionäre Geste, von der ich sprach – wenn auch eben wieder in „aktualisierter“ Form: Die objektiven Fluchtlinien des Kapitalismus am Ende der neoliberalen Epoche werden gesehen und die potentiellen Leser mit ihrem Verhältnis dazu konfrontiert. Dass „wir“ es nicht darauf hinauslaufen lassen werden, dass sich der Kapitalismus bloß „gesetzmäßig“ realisieren wird, ermöglicht uns noch einmal davor zu erschrecken, wohin wir auf Reisen gehen werden – nicht zuletzt aufgrund unserer eigenen Barbarisierung. Das moralisch-Selbstherrliche unseres Weltverhältnisses, das wir uns in der neoliberalen Epoche antrainiert haben, schlägt uns Pohrt nunmehr aus der Hand, gerade indem er uns auf die Verhärtung stößt, die sich in dem sicheren Gefühl ausspricht, dass „der Westen“ und also wir jene Angleichung auf gar keinen Fall zulassen werden. Die Universalität der Moral, die 1976 noch offener Bezugspunkt der Polemik war, wird indirekt angespielt, wenn Pohrt uns noch die eigene Bereitschaft zum nächsten Schritt der Barbarisierung vorfühlen lässt.

Ein ähnlicher Punkt ist es auch, den ich an der Publikation der Einleitung von 1976 heute für bedeutsam halte: Durch ihre Lektüre kann man sich vors Denken führen, welche Schritte der Barbarisierung wir seither schon gegangen sind. Im Kontrast zwischen der Einleitung von 1976 und 1995 und deren Verhältnis zum Text selbst, lässt sich einerseits nachvollziehen, was die geo-polit-ökonomischen Grundlagen für die Entwicklungen nach 1975 gewesen sind und andererseits, wie sich die Affirmation der siegenden Ohnmacht im Westen in der Wunschlosigkeit der Leute hier niedergeschlagen hat. Utopisch – also ortlos – ist die Revolution ja geworden, weil die Wohlhabenden sie zu der Zeit, in der sie sie sich hätten leisten können, nicht gemacht haben. Was nun noch kommen kann, ist schwierig zu sagen: Die kapitalimmanente Standortkonkurrenz, in der der Westen zu verlieren beginnt, sowie die sukzessive Zerstörung von Überlebensgrundlagen scheinen da kaum Perspektiven zu lassen. Ich sagte vorhin, dass der Neoliberalismus nach 2007/08 endete; für die Gegenwart hätte ich keinen Namen anzubieten. Begrifflich – an Hegels Terminologie anschließend – würde ich sagen, dass die Barbarisierung, die sich in der neoliberalen Epoche an-sich durchgesetzt hat, nun zum für-sich wird; dass also die ganze implizite Barbarei, die Grundlage unseres Lebens gewesen ist, von nun an eben mit Bewusstsein durchgezogen wird – aus Barbarisierung entspringt eine Faschisierung und die Verschrottung Griechenlands nach 2010/11; die neuen „sicheren“ Drittstaaten; Trump; Orban usw. sind Phänomene dieser Entwicklung.

Mh, solch rosige Ausblicke – über deren korrekte Begriffe man wahrscheinlich an anderer Stelle noch einmal ausgiebiger diskutieren müsste1 – bringen uns zu einer letzten Frage: Du hattest damals kurz angemerkt, dass Pohrts Arbeit für dich selbst zu einer Flaschenpost wurde. Kannst du das weiter ausführen?

Ebenso: „Mh!“ – einiges davon habe ich ja bereits angedeutet. Neben dem Gesagten und dem Punkt, dass es tatsächlich befreiend ist, unbefangene und sprachlich gelingende Kritik am Bestehenden zu lesen, würde ich sagen, dass er mir durch seine Schriften gezeigt hat, dass man nicht nur – wie Adorno schreibt – „weder von der Macht der anderen, noch von der eigenen Ohnmacht sich dumm machen“ lassen, sondern auch trotz der eigenen Idiotie und der Dummdreistigkeit der Herrschaft nicht sich kalt machen lassen darf. Und das gilt auch wortwörtlich: Ein – sozusagen empirischer – Hinweis darauf, dass die neoliberale Epoche 2008 vorbei gegangen ist, findet sich in den Selbstmordstatistiken der USA: Während der neoliberalen Epoche hatte sich die Selbstmordrate auf einem Niveau eingepegelt, das unter dem Höhepunkt um 1970 lag; seit 2006/07 steigt die Rate wieder drastisch an. Bedenkt man dann noch die Menschen, deren Tod unter „death of despair“ rubriziert wird – also die am verzweifelten Drogenkonsum Verreckten –, dann wird deutlich, wie die eigene Ohnmacht gegenüber den Herrschaftsverhältnissen sich ins Subjekt verlagert hat: Die hier einst relativ stillgestellten Widersprüche brechen sich nun neue Bahnen. Um das zu begreifen ist es aber auch sinnvoll, die Idiotie beim Wort zu nehmen: Im antiken Griechenland hatte das Wort idiōtēs eine bloß deskriptive Bedeutung: Idioten waren die, welche vom politischen Leben der Polis ausgeschlossen waren, also vornehmlich Kinder, Frauen und Sklaven. Die Dummheit, von der Adorno sprach, hat sich im Neoliberalismus zum gesellschafts-politischen a priori verallgemeinert: Der Nationalstaatsbürger ab den 70er Jahren war ja gerade der, der sein politisches Leben maximal noch im politischen Rahmen des Nationalstaats geführt hat – und das genau zu dem Zeitpunkt, in dem der Stoffwechsel mit der Natur sich real globalisierte. Im Widerspruch zu dieser objektiven Bornierung hatte Pohrt ’76 gegen die Speerspitze solcher Idiotisierung – eben jene Arbeit der Kreativen – polemisiert. 1995 war solche strukturelle Entpolitisierung scheinbar unhinterfragbar geworden – so haben es etwa die Gewerkschaften selbst im EU-Raum nicht geschafft, sich auf der übernationalen Ebene kapitalistischer Ausbeutung neu zu formieren. Keine Frage, dass sich die Gewerkschaften nach dem Zweiten Weltkrieg schon zu einer staatserhaltenden Institution gemausert hatten; aber dass selbst noch dieser partikularen Interessenvertretung der Lohnabhängigen der Boden wegbrach, machte die Abwendung von einer materiellen Welt, über die man ohnehin nichts Relevantes vermochte, noch verführerischer.2

In einem seiner letzten Bücher schreibt Pohrt dann nüchtern, dass das Schreckwort Globalisierung erstmal bedeute, dass aus Dritte-Welt-Ländern Konkurrenten geworden sind. Bis 2007/08 hatten es die Nationalstaatsbürger im Westen geschafft, aufgrund ihrer Herrschafts- und Ausbeutungsgeschichte, den daraus erwachsenen Produktivkraftvorteilen sowie durch bloße Gewaltdrohung und -anwendung ihre Pfründe zu sichern. Dass „wir“ langsam den Zugriff auf die Überlebensmittel verlieren, treibt die Leute nun in den Wahnsinn: Abgeschnitten von den geo-polit-ökonomischen Grundlagen dieser Dynamik, halten sich die angehenden Faschisten wahnhaft an die politische Form des Nationalstaats, der ihnen einst real ökonomische Sicherheit gewährte, und reden dabei von „unseren Werten“. Die nicht schon vollkommen Einverstandenen hingegen tendieren gerade aufgrund ihrer objektiven Idiotie zur Aggression gegen das Einzige, worüber sie noch etwas vermögen: sich selbst. Die übermächtige Vereisung emanzipatorischer Impulse drängt zu einer kalten Brutalität nach Außen und nach Innen; dank der – wie Du zu Recht betont hast – wütend-sublimierenden Kritik Pohrts an der damaligen Modernisierung der Herrschaft, ließe sich hingegen der mit der objektiven Idiotisierung einsickernden Kälte die Frage nach heutiger Befreiung entgegen halten.

- - -
1Ein Text zu diesem Thema erscheint wahrscheinlich in der nächsten Ausgabe des Distanz Magazins.
2Arne Kellermann bat uns im Nachhinein an dieser Stelle auf einen Artikel von Theodora Becker und ihm zum Thema der Gewerkschaftspolitik hinzuweisen, weil ihm die Ausführungen zur Dynamik der Gewerkschaften zu kurz geraten schienen. – Diesem Wunsch geben wir gerne nach: https://jungle.world/artikel/2018/01/reichtum-angst

Was bedeutet: Nie wieder Deutschland?

Anlässlich des 03. Oktobers veröffentlichen wir an dieser Stelle eine ungehaltene Rede von Joachim Bruhn.1

Liebe Linksradikale,
der Zusammenbruch des Staatskapitalismus im Osten und der klägliche Abgang des „neuen Deutschland“ jenseits der Elbe ist, alles in allem genommen, ein abermaliger und glänzender Beweis für die Richtigkeit der alten antiimperialistischen, von Mao-tse-tung stammenden Parole, wonach Staaten Unabhängigkeit wollen und Völker ihre Befreiung. Nun ist es zwar mit der „sozialistischen Nation“ in der DDR nichts geworden und auch der „Staat des ganzen Volkes“, von dem die Marxisten-Leninisten so schwärmten, hat vor seinem Volk kapitulieren müssen – aber die Prognose, die Walter Ulbricht 1954 auf dem IV. Parteitag der SED verkündet hat, hat sich immerhin bestätigt: „Wir sind für die Einheit Deutschlands, weil die Deutschen im Westen unsere Brüder sind! Weil wir unser Vaterland lieben! Weil wir wissen, daß die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands eine unumstößliche, eine historische Gesetzmäßigkeit ist und daß jeder zugrunde gehen wird, der sich diesem Gesetz entgegenzustellen wagt!“ So ist es eben mit der Dialektik – sie geht ihren Verwaltern, den Parteikommunisten, erst über den Verstand und bricht ihnen dann das Kreuz. Und so wollen wir doch, bei aller Polemik gegen den „Anschluß“ und bei aller nur zu gut begründeten Abneigung gegen das im Anmarsch befindliche allerneueste Deutschland, nicht vergessen, daß Deutschlands Linke mitsamt ihrem „sozialistischen Staat“ nicht zuletzt deshalb schlagartig überflüssig geworden ist, weil sie zu den „Siegern der Geschichte“ gehört. Denn was waren die Ereignisse des Oktober 1989 anderes als ein leibhaftiger Volksaufstand, eine spontane Erhebung und veritable Revolution für ganz genau das „Recht auf nationale Selbstbestimmung“, das Deutschlands Linke jahrzehntelang, wenn auch für die Basken und die Palästinenser, eingeklagt hatte? Und was bewiesen die Leipziger Montagsdemonstrationen anderes als die Existenz jenes geheimnisvollen Zusammenhanges von „nationaler und sozialer Befreiung“, den Deutschlands Linke immer nur für Irland und die Westsahara gelten lassen wollte? Und was beweist es schon gegen die Richtigkeit dieser Diagnose, daß Deutschlands Linke, weil sie den irgendwie verdächtigen Völkern, den Tirolern, Schlesiern und so weiter, dies „Recht auf nationale Selbstbestimmung“ kurzerhand absprach, vom drohenden Untergang der Sowjetunion und ihrer bevorstehenden Auflösung in die souveränen Staaten der Georgier und Aserbaidschaner, der Litauer und
bald auch der Ukrainer, gänzlich überrascht wurde und noch immer wie bewußtlos ist?

So drückt die Feststellung, daß die Linke zu den Siegern gehört und darum abdanken kann, ein reales Paradox aus, den Widerspruch nämlich, daß ihr eigenes Dogma und Prinzip derVolkssouveränität, in dessen Namen sie dem bürgerlichen Staat wg. Flick und Konsorten das Recht bestreitet, „uns alle“ zu repräsentieren, auf der ganzen Linie gewonnen hat, während sie jedoch zugleich die reale Betätigung dieser Souveränität und die wirklichen Konsequenzen dieses Rechts auf „nationale Selbstbestimmung“ einigermaßen und ganz zu Recht abscheulich findet. Der Form halber hat die Linke gewonnen und im gleichen Moment wirklich verloren. So muß sie die Konsequenzen einer Entwicklung kritisieren und bekämpfen, deren Prämisse und Prinzip sie doch gleichwohl anzuerkennen gezwungen ist. Das bringt sie natürlich in eine einigermaßen haltlose Lage und in eine ziemlich hoffnungslose Situation, in das Dilemma nämlich, die SchönhuberPartei bekämpfen zu müssen, obwohl sich die Republikaner, wenn auch für Tirol, auf das ganz genau gleiche und identische Recht berufen.

Die schöne Parole „Nie wieder Deutschland“ erweist sich als ziemlich geschmäcklerisch im Munde von Leuten, die kaum eine Gelegenheit verpaßt haben, den „Sieg im Volkskrieg“ zu predigen oder vom „gerechten Kampf“ des kurdischen, persischen oder sonst eines Volkes zu schwärmen. Nichts anderes rächt sich hierin als der völlige Ausfall und die radikale Abwesenheit jener materialistischen Staatskritik, die aus der marxschen Kritik der – immerhin! – politischen Ökonomie zu entwickeln seit „’68“ allemal Zeit genug gewesen wäre. Und nicht zuletzt darin zeigt sich die geistige Subalternität der deutschen Linken im Verhältnis zum Staatskapitalismus und seiner objektiven Ideologie, dem Marxismus-Leninismus, daß sie dessen Machinationen von der „sozialistischen Anwendung des Wertgesetzes und der Ware-Geld-Beziehung“ und gar vom „sozialistischen Staat“ insgeheim anbetete. Sie agiert derart resolut antikapitalistisch, daß sie schon pro-etatistisch denkt, daß sie eine „Diktatur des Proletariats“ als die äußerste und geballte Form des politischen Willens gegen die Anarchie des Marktes setzen möchte, aber damit doch nur die Despotie der Fabrik auf die Gesellschaft ausdehnt. Der Staatskapitalismus im Osten war die bloß halbierte bürgerliche Gesellschaft, die Emanzipation von Fabrik und Kaserne zum gesamtgesellschaftlichen Herrschaftszusammenhang. Darin war er zugleich Staat, der seinem Begriff gerecht wurde, Herrschaft, deren Befehle galten. Und der Begriff des „Staates des ganzen Volkes“ besagt darin nur, daß der sozialistische Staat wie noch jeder Staat bestrebt und gezwungen ist, seine Untertanen zu homogenisieren, sie zum einheitlichen und nur so bearbeitbaren Material seiner Zwecke zu formen.

Der Staat ist ein Produktionsverhältnis, und das Volk ist sein Produkt. Volk ist das Resultat und das Gesamt all jener Praktiken der Zusammenfassung, Verdichtung und Organisation der Einzelnen zum quasi-organischen Zusammenhang, zur zweiten Natur, die der Staat verwaltet. Wer Volk sagt, meint Staat. Wer für die Volkssouveränität eintritt, redet der Zentralisierung des Willens in der Form der Politik das Wort und arbeitet, und sei es im formalen Widerspruch und Widerstand gegen die jeweilige Regierung, an der Transformation der Leute in Volksgenossen.

Man muß es zugeben: Der Zusammenbruch des Staatskapitalismus ist eine Befreiung, eine Befreiung von genau jener Staatsaktion der „sozialistischen Homogenisierung des Volkes zum klassenlosen Arbeitskörper“, von der Nicolae Ceaucescu, der proletarische Kaiser der Rumänen, immer so begeistert war. Aber die bevorstehende Wiedervereinigung vereinigt zugleich die westlichen mit den östlichen Praktiken der Homogenisierung, der Produktion nationaler Identität. Volk kann positiv gar nicht bestimmt werden, niemand, nicht einmal Weizsäcker, kann mit Anspruch auf allgemeine Geltung sagen, was das denn ist: deutsch. Das „Wesen“ der Menschen im Aggregatzustand des Volkes ist nur negativ bestimmbar, in Aggression und Kampf gegen die, die es garantiert nicht sind. Identität, zumal nationale, ist der Tod. Der Staatskapitalismus hat versucht, das Volk im Kampf gegen „den titoistischen Virus, das bürgerliche Gift, den trotzkistischen Krebs“ (Arthur Koestler), nicht zuletzt im Kampf gegen den „wurzellosen Kosmopolitismus“ zu einen und zu erschaffen. So wurde die realsozialistische Variante des Antisemitismus erfunden, der Antizionismus. Wie sagte doch der Ministerpräsident der DDR, Otto Grothewohl: „Der Kosmopolitismus, der gegen die nationale Souveränität der Völker polemisiert und das Nationalbewußtsein als eine überholte und unmoderne Gefühlsduselei abtut, redet einem wurzellosen Weltbürgertum das Wort.“ So hatte sich der sog. „marxistisch-leninistische Begriff der Nation“ glänzend darin bewährt, das Vokabular und die Intentionen des Antisemitismus für das allerneueste Deutschland aufzubewahren. Schon vor der Wiedervereinigung hatte derlei revolutionär sich gebärdender Antizionismus in der westdeutschen Linken sein treues Publikum und seine Zeitungen wie etwa Al Karamah aus Marburg, die sich dem Kampf der „arabischen Völker“ verschrieben hat, druckten die Proklamationen eines „Antizionistischen Komitees der sowjetischen Öffentlichkeit“, das sich mittlerweile als Vorläufer des großrussischen Nationalstalinismus der Gruppe „Pamjat“ enttarnt hat. Nun sind die deutschen Antizionisten nachgezogen: Während ihre Kollegen in Rußland unter der Parole „Zionismus = Rassismus = Faschismus“ am nächsten Pogrom arbeiten, widmet sich die deutsche Fraktion der Polemik gegen „die zionistische Auswanderung aus der Sowjetunion“ als Projekt der „Vertreibung und Vernichtung des palästinensischen Volkes“. Die einen vertreiben – die anderen wollen die Fluchtwege sperren.

Das geistige Erbe des Staatskapitalismus durch eine neue Aufklärung der Linken zu brechen – das scheint mir die wesentliche Intention der schönen Parole „Nie wieder Deutschland“ zu sein. Liest man sie materialistisch, dann besagt sie nichts anderes als die Absage nicht allein an Nationalismus, sondern an Nation nur überhaupt. Um zur Kritik des neuen Deutschland tauglich zu sein, muß sich die Linke von ihrem eigenen Nationalbewußtsein befreien, muß die fixe Idee abtun, am Gedanken der Nation ließe sich zu irgendwie progressiv gemeinten und humanistisch gedachten Zwecken anknüpfen.

Die Linke hat die Nation lange genug bloß interpretiert; es kommt aber darauf an, den Nationalstaat zu revolutionieren und zu liquidieren.

Wir danken der Initiative Sozialistisches Forum aus Freiburg für die Genehmigung zur Wiederveröffentlichung, verweisen Interessierte gerne auf deren üppiges Archiv und legen an dieser Stelle allen noch einmal das Buch von Joachim Bruhn ans Herz.

  • Anmerkungen (im Orginal):

1 Diese Rede sollte namens der ISF im Oktober 1991 auf der „Nie wieder Deutschland“-Demonstration in Frankfurt a.M. gehalten werden. Ein Studentenfunktionär der Linken Liste, der später postmodern mit der Zeitschrift „Die Beute. Politik und Verbrechen“ Aufsehen erregte, untersagte dies jedoch mit Argument, die Rede sei „spalterisch“ – was eben ihr Sinn war, denn von den 20.000 Demonstranten war mindest die Hälfte mit den Nationalwimpeln des „besseren Deutschland“ unterwegs.

Clash of… what?

Einige Überlegungen zur Europa-Wahl der Redaktion.

„Wo es politische Parteien gibt, findet jede den Grund eines jeden Übels darin, daß statt ihrer ihr Widerpart sich am Staatsruder befindet. Selbst die radikalen und revolutionären Politiker suchen den Grund des Übels nicht im Wesen des Staats, sondern in einer bestimmten Staatsform, an deren Stelle sie eine andere Staatsform setzen wollen.“ – Karl Marx1

„In the 1980es the labour party believed that the poor, who did not deserved to be poor, should be helped by the rich, who did not deserve to be rich. Meanwhile the conservatives thought that the poor, who deserved to be poor, should not be helped by the rich, who deserved to be rich.“ – Steward Lee2

I – das Spiegelspiel der Nachkriegsgesellschaft

Bei der kommenden Europa-Wahl könnte noch deutlicher werden, dass nach dem Ende des Kalten Krieges die politischen Koordinaten gründlich über den Haufen geworfen wurden. Das hat sich in Angela Merkels Pragmatismus – mal liberal, mal konservativ und mal christlich-sozial – deutlich abgezeichnet und erlebte mit Macron in Frankreich und dem Brexit im Vereinigten Königreich eine deutliche Manifestation. Auch wenn CDU/CSU und SPD aktuell noch die beiden stärksten Fraktionen im Bundestag stellen: der große politische Konflikt des postfaschistischen Europas – Sozialismus/Sozialdemokratie versus Konservativismus – hat endgültig ausgedient.

Dieser politische Widerspruch, der von linker Seite gerne als Klassenkampf missverstanden wurde, war das politisches Spiegelspiel der Nachkriegszeit, wie es insbesondere von Joachim Bruhn immer wieder kritisiert wurde.3 Die Nachkriegszeit zeichnete sich wirtschaftlich durch eine relative Stabilität aus – Eric Hobsbawm spricht gar vom „Goldenen Zeitalter des Kapitals“.4 Dennoch sahen beide politische Lager ständig die Existenz der Nachkriegsgesellschaft durch die jeweils andere Seite bedroht. Und so dachte die sozialdemokratische Linke in den Kategorien der ökonomischer Krise vulgo Zusammenbruch, während die konservative Rechte die Gesellschaft in der Perspektive der politischen Krisen vulgo Staatsstreich dachte. Die Rechte träumte vom Markt, bei dem der Staat nur dessen Möglichkeit garantiert. Die Linke träumte vom Staat, der den Markt gerecht organisiert. Daraus folgt, dass „die linke Vorstellung von Politik – Addition der staatsbürgerlichen Einzelwillen zum Inhalt der Souveränität im Akt demokratischer Wahl – exakt negativ und daher komplementär zur rechten Vorstellung vom ökonomischen Prozess sich verhält: Addition der individuellen Nachfrage auf dem Markt zum Bestimmungsgrund der Produktion.“5

Die zwei Meinungen, die sich dabei gegenüberstanden, waren zwei Seiten derselben Münze. In ihrer Wechselwirkung erzeugen Citoyen und Bourgeois die staatliche Souveränität. Indem beide beständig ihr Gegenteil produzierten und ineinander überschlugen, blieben sie doch stets zwei Pole derselben Ideologie. Eine Ideologie, die – anders als es der Alltagsverstand will – keine Meinung, keine Wahlentscheidung oder politische Positionierung ist, sondern eben das Oszillieren zwischen zwei Polen: Ökonomie versus Politik, Markt versus Staat, Ausbeutung versus Autorität, Sozialdemokratie versus Konservatismus.

Ihre Oszillation wurde spätestens immer dann deutlich, wenn mal wieder rechte Regierungen staatliche Eingriffe vornahmen, linke Regierungen die Märkte öffneten oder große Koalitionen die Regierungsgeschäfte übernahmen. Es gab keine linke Partei, die tatsächlich konstant linke Politik machte, ebenso wie es keine rechte Partei gab, die tatsächlich konstant rechte Politik machte: Alle Parteien machten Politik für den Staat des Kapitals. Als Verwalter des Garanten der Akkumulation war diese Primat ihrer Politik – je nach ökonomischer Situation konnten dabei die Methoden variieren. Konservatismus oder Sozialdemokratie waren die politischen Idealtypen der Nachkriegszeit in Westeuropa, die nicht nur zufällig auch einige Analogien zum Zweiparteiensystem ihrer politischen und ökonomischen Schutzmacht den USA enthielten. Diese Polarisierung der inneren Politik folgte auf die Polarisierung der Außenpolitik nach der militärischen Zerschlagung des Nationalsozialismus: die Einbettung der Individuen in einen demokratischen Rahmen im Sinne der Totalitarismustheorie,6 im Sinne eines westeuropäischen Bündnisses gegen die Sowjetunion. In der Bundesrepublik Deutschland war dies immer auch gleichbedeutend mit einer demokratischen Einspannung des faschistischen Potenzials.

Von der Perspektive seines Endes her, wurde der Inhalt dieses Spiegelspiels, durch die Hauptfigur aus Michelle Houellebecqs Unterwerfung in äußerst pointierter Weise dargestellt: „Es stimmt, dass die Wahlen in meiner Jugend so uninteressant waren, wie man es sich nur denken konnte. Die Dürftigkeit des „politischen Angebots“ war sogar wirklich frappierend. Man wählte einen Mitte-Links-Kandidaten abhängig von seinem Charisma für die Dauer von einem oder zwei Mandaten. Ein drittes wurde ihm aus undurchsichtigen Gründen verwehrt. Dann wurde das Volk dieses Kandidaten beziehungsweise der Mitte-Links-Regierung überdrüssig – hier ließ sich gut das Phänomen des demokratischen Wechselspiels beobachten –, woraufhin die Wähler einen Mitte-Rechts-Kandidaten an die Macht brachten, ebenfalls für die Dauer von ein oder zwei Mandaten, je nach Typ. Seltsamerweise war der Westen überaus stolz auf dieses Wahlsystem, das doch nicht mehr war als die Aufteilung der Macht zwischen zwei rivalisierenden Gangs. Seit dem Vormarsch der Rechtsextremen war die ganze Sache ein wenig spannender geworden, die Debatten waren vom vergessenen Beben des Faschismus untermalt.“7

II – Nach Nachkriegszeit

Es wird zukünftigen HistorikerInnen überlassen sein, zu bestimmen, welches Ereignis die Nachkriegszeit als Zeit der Blockkonfrontation beendete: die deutsche Wiedervereinigung oder der 11. September 2001? Die neue politische Zeitordnung lässt sich nicht mehr leugnen. Zum einen zeichnet sich die gegenwärtige politische Realität dadurch aus, dass außenpolitische Konflikte fernab der gewohnten Polarität stattfinden. So kennt der syrische Bürgerkrieg beispielsweise unzählige Mitspielern, deren Verhältnisse zueinander – nicht trotz sondern wegen zahlreicher Verflechtungen miteinander – sich tagtäglich ändern. Zum anderen lässt sich das Ende der Polarität auch innenpolitisch in der Zerstückelung der Parteienlandschaft beobachten. Ließen sich zu Anfangs auch die Grünen und schließlich auch PDS/Linkspartei noch einigermaßen in das politische Schema der Nachkriegszeit einordnen – so wussten schon die Piraten bei ihrem Einzug in das Berliner Abgeordnetenhaus nicht mehr, wohin sie sich den setzen sollten.

Auch wirtschaftlich ist die Phase der Nachkriegszeit vorbei. Von den hochsubventionierten Landschaften des Postnazismus, die noch 1990 den sogenannten Neuen Bundesländer als blühend versprochen wurden, ist auch im Westen kaum noch etwas zu sehen. Die Selbstverständlichkeit, mit der in der Bundesrepublik davon ausgegangen wurde, dass die Kinder ihre Eltern ökonomisch und sozial überholen würden, ist größtenteils einer Angst vor der eigenen Überflüssigkeit als Arbeitskraftbehälter und dem Hass auf der dem zu Grunde liegenden Freiheit gewichen.

Durch den Wegfall der Subventionen und die technische Revolution wurde die Formen der Wertproduktion im ehemaligen Westen zusehends verändert. Die Industrie wandert entweder in Niedriglohnländer ab – die zum Teil erst durch den Fall des Eisernen Vorhangs an den kapitalistischen Weltmarkt angeschlossen wurden – oder wird mittels technischer Entwicklungen immer weiter entmenschlicht. Die Leidtragenden sind die TrägerInnen der Ware Arbeitskraft, die die einzige Ware, die sie besitzen, nicht mehr oder nur noch zu stark verschlechterten Konditionen verkaufen können.

III – Krise der Sozialdemokratie

Dies betrifft gerade die Stammwählerschaft der sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien. Diese waren in ihrer Politik des aktiven Sozialstaats auf wirtschaftliche Stabilität angewiesen und sahen sich nun gezwungen ihre Politik an die veränderte wirtschaftliche Situation anzupassen. Besonders anschaulich geschah dies in Großbritannien, wo New Labour ökonomisch gezwungen war, das staatliche Eingreifen – also die Politik des aktiven Sozialstaates – rapide weiter zu reduzieren. Das dadurch entstehende Vakuum wurde versucht zu füllen: mittels Identitätspolitik. Damit verbunden versuchte der Staat die eigene Souveränität mit Hilfe eines – meist islamischen – Gegensouveräns zu erhalten.8 New Labour fokussierte „ein Netzwerk lokaler partnerships, in der sich der Wohlfahrtsstaat vorhandener (oder auch nur eingebildeter) kommunitärer Strukturen bediente, um die notorische Finanzierungskrise der Sozialpolitik mittels „Kultur“ zu beheben“.9 Der von der Regierung Blair verabschiedete new deal for communities „strebte sein Ziel konsequent an, nämlich die möglichst kostengünstige Delegation vormals zentralstaatlicher Sozialaufgaben“.10

Die Hinwendung der britischen Sozialdemokratie, die west-europäischen Modellcharakter hat, hin zu den migrantischen Communities war dabei auch eine wahltaktische Entscheidung, um neue Wählerschaften zu erschließen. Dabei verlor Labour jedoch immer mehr den Bezug zu ihrer Stammwählerschaft, die dann mehrheitlich für den Brexit stimmte. Besonders die immigration policy wird immer wieder – beispielsweise vom ex-trotzkistischen pro-Brexit Magazin Spiked! – als Grund für den Niedergang der Sozialdemokratie begriffen.11 Anstelle von Versuchen, dies materialistisch zu begreifen, verfällt man anlässlich dessen in alte trotzkistische Muster zurück und geht davon aus, dass der Arbeiterklasse das revolutionäre Bewusstseins per se innewohnt – lediglich kompromittiert von BürokratInnen. Die Feindschaft richtet sich nicht gegen die staatliche Souveränität – die zur Aufrechterhaltung immer Elemente einer Gegensouveränität beinhaltet – sondern gegen die vermeintlichen Subjekte der Gegensouveränität, die in Wahrheit nur deren Objekte sind.

Die Einwanderer aus Osteuropa sind für das abgehängten Proletariat der deindustrialisierten Midlands in der Krise ihrer eigenen Verwertbarkeit besonders eine Konkurrenz im Niedriglohnsektor, der sich schon immer fast ausschließlich aus den „neuhinzugekommenen Habenichtsen“ rekurrierte.12 An ihnen werden die Widersprüche des Nationalstaats, als Garanten der Kapitalakkumulation, exekutiert: „Es ist der ideologische Überbau der etatistisch garantierten, kapitalisierten Gesellschaft und damit die praktische Gedankenform, in der die profitable Verwertung des Menschen als gesellschaftlich inszenierte Spaltung der Menschheit in wertes und unwertes Leben sich ausspricht.“13

Was bei Spiked! hingegen deutlich erkannt wird: die britische Sozialdemokratie demonstriert die Krise der westeuropäischen Sozialdemokratien am deutlichsten durch ihre Unfähigkeit, von der Selbstzerstörung der Konservativen zu profitieren. Trotz der andauernden Brexit-Blamage der Tory-Regierung um Theresa May, trotz der totalen Zerstrittenheit ihrer Partei über das britische Verhältnis zu Europa, gelang es der Labour Party bei den kürzlich abgehaltenen Kommunalwahlen 84 Sitze zu verlieren. Dazuhält man bei Spiked! schadenfroh fest: „Yes, the Conservative Party lost 1,330 seats, an undeniable disaster. But under such favourable conditions, Labour should have been gaining hundreds of new councillors, not ending the night with a deficit.“14 Wer schlussendlich vom Versagen der Tories und der Unfähigkeit der Sozialdemokraten profitieren kann und soll, dass kann ebenfalls dortnachgelesen werden: „The Brexit Party is the earthquake british politics needs“.15

IV – die politische Formation des Souveränismus

Der Souveränismus ist nicht nur die Leitidee des Brexits, sondern aller europäischen Rechten. Sie greifen das etatistische Versprechen der Sozialdemokratie auf und stellen seinen implizit nationalistischen Kern offensiv ins Schaufenster. Im Vordergrund des Wahlkampfs stehen darüber hinaus vor allem kulturelle Symbole der jeweiligen Nachkriegs-Nostalgie:16 wie die bürgerliche Kleinfamilie, die „christliche Wertegemeinschaft“ oder teilweise sogar die Vorgängerwährungen des Euros. Dabei sprechen souveränistische Parteien sowohl breite Teile der konservativen als auch der sozialdemokratischen Wählerschaft an. Sie sprengen sprichwörtlich den politischen Rahmen der Nachkriegszeit. Bereits nach der letzten Europawahl stellte Kenan Malik ernüchtert fest:

„Nehmen wir die Ukip. Weil sie im Wahlkampf sowohl für die Labour-Partei als auch für die Tories gefährlich geworden war, wurde sie von Politikern jeder Couleur sowie von den Medien stark angefeindet. Etwa mit der Enthüllung, dass der Parteivorsitzende Nigel Farage sich aus einem illegalen EU-Fonds bedient hat. Die rassistischen, sexistischen und schlichtweg schwachsinnigen Ansichten zahlreicher Ukip-Mitglieder, Stadträte und Abgeordneter sind öffentlich skandalisiert worden. Gemäß den alten Regeln der Politik hätten solche heftigen Angriffe die Wahlaussichten der Partei negativ beeinflusst. Das war aber nicht so. Die Kritik der Medien, die politische Häme und die öffentlichen Bloßstellungen haben Farages Popularität wenig geschadet. Eher das Gegenteil ist geschehen.“17

Auf welchem Stier reitet Europa in die Zukunft?
photo by Dinesh Weerapurage

Die Politik der Souveränisten und der AfD ist die des gallischen Dorfes in der Globalisierung. Sie betreiben eine Entgrenzung des bornierten Individuums – vom triebregulativen Stammtisch hinaus auf die Straße, ins Internet oder die Politik – die von einer entweder sozialpädagogischen oder marktorientierten Medienlandschaft gerne aufgenommen wird. Die infantile Entgrenzung geht einher mit einer Regression und der Sehnsucht nach der väterlichen Autorität: dem nationalstaatlichen Souverän, der einen schützen und auch züchtigen möge. Es ist beinahe dieselbe infantile Regression, die sich auch auf ihrer Gegenseite finden lässt und über die in ideologiekritischen Kreisen schon ausführlich geschrieben wurde.

Was in der Tendenz als „neue politische Trennlinien in Europa“18 – wie Kenan Malik zeigt – schon nach der letzten Europawahl erkennbar wurde, hat sich in den letzten Jahren immer weiter inhaltlich konkretisiert. Auf der einen Seite stehen die vom Souveränismus Vertretenen, „die sich aussortiert, enteignet und ohne Stimme fühlen“19 und ihre Hoffnungen auf sozialen Nationalstaat der Nachkriegszeit setzen. Sie richten sich gegen „ jene, die sich im postideologischen, postpolitischen Zeitalter zu Hause fühlen – oder zumindest sich daran anpassen können“.20 Einige Umfragen nach dem Brexit-Votum machen dies deutlich: „Für den EU-Austritt stimmten 81 Prozent der Britinnen und Briten, die den Multikulturalismus für eine »negative Kraft« halten. Die meisten, die für den Austritt stimmten, sind gegen Immigration (80 Prozent), Globalisierung (69 Prozent) und Feminismus (74 Prozent). Hingegen gab es keine relevante Korrelation mit der Ablehnung von Kapitalismus.“21

V – multicultarism22 und die europäische Zivilgesellschaft

Wie das community management in Großbritannien ist auch die europäische Zivilgesellschaft eine der gegenwärtigen Formen der Gegensouveränität und ein Produkt der Grenzen der staatlichen Steuerungsfähigkeiten.23 Die Milieus dieser Zivilgesellschaft umfassen zum Beispiel die sogenannte Generation Erasmus, jene jungen, mehrsprachig und studierten WarenhüterInnen, die den Anforderungen der New Economy entsprechen – auch und gerade in ihrer Bereitschaft niedrige Löhne im Ausgleich für ein kulturelles Kapitel zu akzeptieren. Das multiculturalist Prekariat profitiert von der Freizügigkeit des Binnenmarktes der Europäischen Union, der ihnen dank ihrer Flexibilität und Sprachkenntnissen diverse Möglichkeiten des Arbeitsmarktes offenhält. Auch hier ist das Brexit-Votum ein sehr genauer Gradmesser, wer den Versprechen der Europäischen Union etwas abgewinnen kann und wer nicht. In Deutschland gestaltet sich die Suche nach dem einen Gradmesser deutlich schwieriger. Demonstrationen wie Pulse of Europe oder auch Unteilbar geben bisher nur eine Ahnung von einer genauen demographischen Zusammensetzung.

Die jungen EU-Profiteure sind vor allen in den Metropolen anzutreffen – auch wenn sie oftmals ursprünglich aus der Peripherie stammen. Der Erfolg von Didier Eribons Rückkehr nach Reims hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass sich ein bestimmtes Milieu mit dem Protagonisten identifizieren kann. Hier wird deutlich, wie sich die sozialen Klassen – eine maßgebliche Strukturierung der politischen Landschaft der Nachkriegszeit – in den subkulturen Milieus des Prekariats auflösen. Das relativ flache Gefälle und die Hierarchien der New Economy werden kulturell egalisiert. Deutlich wird das, wenn Didier Eribon beim Schreiben über seinen beruflichen Start als Journalist gar nicht über ökonomisches, aber viel über vermeintlich soziales und kulturelles Kapital spricht: „Auf völlig unerwartete und ungeplante Weise verschaffte mir der Journalismus Zugang zum und Teilhabe am intellektuellen Leben. […] Ich traf Verleger zum Mittagessen, lernte Autoren kennen[…]. Mit einigen war ich bald befreundet, mit Michel Foucault und Pierre Bourdieu sogar sehr eng.“24

Neben den beruflichen Hoffnungen lockt das Emanzipationsversprechen der Metropole gerade Frauen, sexuelle Minderheiten und gesellschaftliche Außenseiter. So auch Eribon: „Ich war mit der doppelten Hoffnung nach Paris gekommen, ein freies schwules Leben zu führen und ein ‚Intellektueller‘ zu werden.“25 Dies schlägt sich ebenso nieder in der politischen Ausrichtung der Zivilgesellschaft und ihrer politischen Parteien, durch die Forderung nach rechtlicher Gleichstellung, LGBTIQ-Politiken oder antirassistischer Praxis. Ihre entsprechende Ideologie finden sie im Intersektionalismus, der sowohl die Gleichheit in der prekären Existenz behauptet als auch eine Möglichkeit bietet, die eigene Arbeitskraft bestmöglich zu Markte zu tragen: die Identität.

Die transnationalen Politikformen dieser Zivilgesellschaften sind dabei nicht – wie es der Souveränistmus behauptet – ein Angriff auf die Staatlichkeit. „Die Zivilgesellschaft tritt dort auf, wo die Steuerungsfunktion des Staates an seine Grenzen stößt, er politische Widersprüche nicht mehr autoritär aufheben kann. Sie verbleibt aber in einem Verweisungsverhältnis auf den Staat, ergänzt ihn, ist selbst verstaatlicht.“26 Die Zivilgesellschaft ist die Vermenschlichung des Staates, nicht seine negative oder gar positive Aufhebung. Die Autorität verschwindet nicht, sie wird fluid oder transnational. Die Antinomien Staat und Zivilgesellschaft, Souverän und Gegensouverän bedingen einander und konstituieren sich in der Krise immer wieder gegenseitig neu. Dabei bleibt der schlussendliche Zweck immer derselbe: Garantie der Selbstverwertung des Wertes.

VI – und die Linke?

Zwar wird dieser politische Widerspruch in Deutschland parteipolitisch von der AfD und den Grünen als die beiden Gegenpole ausgetragen, jedoch zwingt er sämtliche Parteien zur Positionierung. Innerhalb der Linken – als Partei und Szene – reproduziert sich die gleiche politische Trennlinie und so auch die gegenwärtige Form des Spiegelspiels der Politik, wie sich im Konflikt Anarchismus und Marxismus das alte Spiegelspiel reproduzierte.27 Beide Seiten brauchen und bedingen sich gegenseitig. Der ideologische Kampf zwischen souveränen Nationalstaat und multiculturalist Transnationalismus trennt die Linke und ihre Parteien. Exemplarisch hierfür stehen zwei Politikerinnen der Linkspartei: Sarah Wagenknecht und Katja Kipping.28 Und die vermeintlich antinationale Linke und die sogenannte ideologiekritische Szene freuen sich anlässlich der neuen politischen Möglichkeiten den Platz zwischen den Stühlen verlassen zu können.

Weil Staat und Souveränität materialistisch falsch gefasst werden, setzt man beispielsweise bei der TOP B3RLIN alle Hoffnungen auf die europäische Multitude.29 Ihre Kritik des Staates geht nicht über die Nörgelei an der „Gesamtscheiße“ hinaus. Sie ist bloßes Etikett geworden, wie der demokratische Sozialismus einer SPD. Sie richtet sich gegen den Inhalt allein und will von dessen Form nichts mehr wissen. Deutlich wird das, wenn in der Jungle World der Marsch durch die Institutionen der Europäischen Union der Nationalstaaten gefordert wird: „the only way out is through“.30 Als hätte es die materialistische Staatskritik eines Johannes Agnioli nie gegeben, kann der Staat nicht abseits seiner autoritären Konkrektionen gedacht werden. Das eint sie in ihrer akademischen Anschlussfähigkeit mit antideutschen MarxistInnen vom Schlage eines Rainer Tramperts. In dessen Jungle World Artikel steht dann auch nicht viel anderes als in dem der linksradikalen Berliner Eventagentur.31

Doch auch die Überbleibsel der ideologiekritischen Szene machen ihren Frieden mit dem Staat: „Wo die Ideologien und mit ihnen die Aussichten auf eine bessere Zukunft zur Bedeutungslosigkeit herabsinken, heftet sich die Hoffnung an eine nostalgisch verklärte Vergangenheit. Hatten Ideologien noch einen rationalen Gehalt, an den sich anknüpfen ließ – das in ihnen enthaltene Glücksversprechen –, so tritt gegenwärtig ein reines Bekenntnis an deren Stelle. Folglich wird die nostalgische Ideologiekritik immer mehr durch Dezisionismus ersetzt und es ist ganz konsequent, dass sich zahnlos gewordene Ideologiekritiker fast nur noch auf den Souverän beziehen, der die gewünschte Ordnung herstellen beziehungsweise schützen soll. Stattdessen wird die „Restvernunft“ in den Staat projiziert, der angeblich über der Gesellschaft schwebt und, von ihr unberührt, autonom vor sich hin prozessiert.“32Aus notwendiger Kritik am islamischen Gegensouverän und der sie hofierenden post-bürgerlichen und grünen Zivilgesellschaft heraus, sind sie in eine Affirmation des Souveräns verfallen – ohne zu erkennen, dass dieser in der Krise immer schon jene Momente der Gegensouveränität beinhaltete. Sie sind das exakte Spiegelbild der Affirmation der Zivilgesellschaft durch die antinationalen KritikerInnen eines autoritären Nationalstaats.

In der politischen Interpretation nun sowohl pro-europäisch als auch souveränistisch zu haben.

Was Antinationalismus und Ideologiekritik eigentlich einst begriffen hatten, scheint mittlerweile irgendwo ganz hinten im Bücherregal zu verstauben: das Politische ist notwendig antisemitisch. Antisemitismus ist die Denkform der bürgerlichen Gesellschaft und kein Denkfehler in ihr. Sie reproduziert sich immer dort, wo sich Individuen als vermeintlich rechtliche Gleiche bei tatsächlicher ökonomischer Ungleichheit, vermittelt durch die Souveränität – sei sie europäisch oder britisch –, aufeinander beziehen.33 Wenn behauptet wird, dass das Ressentiment gegen George Soros „nichts mit dessen Judentum zu tun“ habe oder mit Zitaten von bekennenden Antizionistinnen zum Frauenkampftag aufgerufen wird, dann wird deutlich was als Erstes diesen politischen Bedürfnissen geopfert werden muss: eine Kritik des Antisemitismus.

VII – Kritik statt Politik.

Die Redaktion antideutsch.org sieht derweil weiter keinen Sinn darin, die Position zwischen den Stühlen zu verlassen und hofft, dass es darüber noch ein Interesse an Kritik abseits der Fallstricke der Politik gibt. Auch wenn es also nicht mehr Teil einer linksradikalen oder ideologiekritischen Mode zu sein scheint, etwas über eine Wahl zu schreiben, ohne dabei eine Wahlempfehlung abzugeben, bleiben wir in diesem Sinne so orthodox wie Meye Schorim. Wer am Sonntag aufstehen und eine Wahlurne aufsuchen möchte soll das nicht unseretwegen tun, das antideutsche Geschäft bleibt das destruktive der Kritik, der politischen Sabotage und der schweigsamen Treue gegenüber der Utopie:

„Kritik ist die Provokation darauf, daß die gesellschaftlichen Individuen die Resultate ihrer Vergesellschaftung sich als Resultate ihres Willens nicht zurechnen können – also die kontrafaktische Unterstellung dessen, daß es außerhalb des Spiegelspiels von Bourgeois und Citoyen ein Anderes noch geben könnte.“34

We know you love us,

XOXO Redaktion antideutsch.org.

  • Fußnoten:
  • 1MEW 1, Seite 401.
  • 2Siehe: https://www.youtube.com/watch?v=at_zUPnnx3Q
  • 3Vgl. Bruhn, Joachim: Abschaffung des Staates – Thesen zum Verhältnis anarchistischer und materialistischer Staatskritik in: Bruhn, Joachim: Was deutsch ist – zur kritischen Theorie der Nation.
  • 4Vgl. Hobsbawm, Eric J: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20ten Jahrhunderts.
  • 5Bruhn, Joachim: Abschaffung des Staates – Thesen zum Verhältnis anarchistischer und materialistischer Staatskritik, Seite 176.
  • 6Die auf Hannah Arendt zurückzuführende Totalitarismustheorie war fester Bestandteil der amerikanischen Europapolitik und der politischen Praxis konservativer und sozialdemokratischer Parteien. Das hieß konkret: linker Flügel der SPD und rechter Flügel der CDU bildeten die Grenzen der gesellschaftlichen Mitte.
  • 7Houllebecq, Michelle: Unterwerfung.
  • 8Vgl. zur Situation in Großbritannien Malik, Kenan: das Unbehagen in den Kulturen. Zum Verhältnis Souverän und Gegensouverän: Keuner, Hans-Herrmann: Einheit und Zerfall in: Prodomo 21, 2019. Online: http://www.prodomo-online.org/ausgabe-21/archiv/artikel/n/einheit-und-zerfall-1.html
  • 9Krug, Uli: Londonistan is burning in: bahamas 63/2012. Online: http://www.redaktion-bahamas.org/auswahl/web63-1.html
  • 10Ebenda.
  • 11Vgl. z.B. Chilton, Brendan: What happened to old labour? Online: https://www.spiked-online.com/2018/09/05/what-happened-to-old-labour/
  • 12Ein Blick in die Geschichte derjenigen, die für die britische Gesellschaft als Einwander galten und die gegen sie gerichteten Ressentiments zeigt deutlich, wie diese „neuhinzugekommenen Habenichtse“ von Anfang an rassifiziert wurden. Das fing mit der britischen Landbevölkerung an die in die Städte kamen, setzte sich fort mit Einwanderungsgruppen aus Irland, Pakistan und Indien, Polen und Bulgarien. Nur so lassen sich auch die heutigen Ressentiments indischer Einwanderern aus den 50er Jahren gegenüber den erst kürzlich eingewanderten „bloody poles“ wirklich begreifen.
  • 13Bruhn, Joachim: Unmensch und Übermensch – über das Verhältnis von Rassismus und Antisemitismus in: Was deutsch ist – zur kritischen Theorie der Nation, S. 98.
  • 14Ehsan, Rakib: How labour lost it heartlands. Online: https://www.spiked-online.com/2019/05/07/how-labour-lost-its-heartlands/
  • 15O‘Neill, Brandon: The Brexit Party is the earthquake british politics needs. Online: https://www.spiked-online.com/2019/04/29/the-brexit-party-is-the-earthquake-british-politics-needs/
  • 16In Osteuropa ist es eine Vokriegs-Nostalgie.
  • 17Malik, Kenan: Die neue europäische Trennlinie in: Jungle World 23/2014. Online: https://jungle.world/artikel/2014/23/die-neue-europaeische-trennlinie
  • 18Ebenda.
  • 19Ebenda.
  • 20ebd..
  • 21Bassi, Camila: Die da oben in: Jungle World 05/2017. Online: https://jungle.world/artikel/2017/05/die-da-oben
  • 22Die Begriffe multiculturalism und Multikulturalismus sind nicht deckungsgleich, weswegen wir uns für den englischen Begriff in der Form entschieden haben, wie Kenan Malik ihn geprägt hat. Alternativ könnte man auch von „neoliberalen Demokraten“ sprechen, um nicht den tief im souveränistischen Jargon verankerten Begriff zu verwenden. An dieser Stelle soll jedoch der Verweis auf die ursprünglich intendierte gesellschaftskritische Dimension des Begriffs bei Malik verwiesen werden, der ihn gerade nicht als Ersatz für eine Kritik gebraucht.
  • 23Vgl. dazu wieder Keuner, Hans-Herrmann: Einheit und Zerfall in: Prodomo 21, 2019.
  • 24 Eribon, Didier: Rückkehr nach Reims, S. 224.
  • 25Ebd., S. 223,.
  • 26Keuner, Hans-Herrmann: Einheit und Zerfall in: Prodomo 21, 2019.
  • 27Joachim Bruhn zeigte, wie Anarchismus und Marxismus das Spiegelspiel zwischen Konservativen und Sozialdemokraten innerhalb der Linken noch einmal reproduzierten und sich dabei als kritisch generierten. Ähnliches kann beim neuen Spiegelspiel beobachtet werden.
  • 28Der wie alle Linken TTIP-kritisch eingestellte Flügel um Katja Kipping fällt der Illusion anheim, dass sich der Warenverkehr regulieren lasse, ohne auch den Verkehr der Warenhüter der Arbeitskraft zu regulieren.
  • 29Wie wenig die selbst ernannten „materialistischen StaatskritikerInnen“ vom Staat begriffen haben, zeigt sich in Momenten, in denen wegen des Mobilisierungsfaktors der popkulturellen Referenz ernsthaft „fundamental rights“ gefordert werden oder man vor lauter Rechtspopulismus vergisst, dass Frontex notwendige Bedingung und nicht bloß zu vernachlässigendes Anhängsel ist.
  • 30Wester, Mark (Mitglied Top B3rlin): Transnationalismus oder Barbarei in Jungle World 19/2019. Online: https://jungle.world/artikel/2019/19/transnationalismus-oder-barbarei. Als hätte es weder 68 noch die Grünen gegeben.
  • 31Trampert, Rainer: Und jetzt das Volk in: Jungle World 20/2019. Online: https://jungle.world/artikel/2019/20/und-jetzt-das-volk
  • 32Redaktion Prodomo Bange machen gilt nicht in:Prodomo 21, 2019. Online: http://www.prodomo-online.org/ausgabe-21/archiv/artikel/n/bange-machen-gilt-nicht-2.html
  • 33Vgl. Bruhn, Joachim: Unmensch und Übermensch – über das Verhältnis von Rassismus und Antisemitismus.
  • 34Seite 194, Bruhn, Joachim: Abschaffung des Staates – Thesen zum Verhältnis anarchistischer und materialistischer Staatskritik.