Verteidigung der falschen Freiheit.

Der folgenden Text ist der zweite einer Reihe, die versucht Erfahrungen und Debatten wiederaufzubereiten, die von der Redaktion als zentral für die Entwicklung einer eigenständigen antideutschen Kritik gesehen werden. Dabei können wir nicht beanspruchen, eine fertige Definition dieser Form der Kritik vorzulegen, stattdessen wollen wir in erster Linie zur (erneuten) Auseinandersetzung mit ihr und ihrer Entstehungsgeschichte anregen.1 Deren zweiter Teil soll von den historischen Erfahrungen und Reflexionen berichten, die im Zweiten Weltkrieg Materialisten veranlassten, für die USA oder Großbritannien ins Kriegsgeschehen einzugreifen und diese in eine historische Konstellation setzen, die als notwendiger Reflexionspunkt antideutscher Kritik gesehen werden muss:

„Vom Anfang des amerikanischen Titanenkampfs an fühlten die Arbeiter Europas instinktmäßig, daß an dem Sternenbanner das Geschick ihrer Klasse hing.“

– Karl Marx2

„Der Hitlerismus ist kein Naturprodukt, der entsteht kraft der angeborenen Schlechtigkeit der Deutschen. Er ist auch kein Zufallsprodukt, das nur aus der übermenschlichen Genialität eines Einzelnen hervorgegangen ist.“

–– Carl Herz3

I – The revolution comes, but it‘s pretty damn German.

Der Pragmatismus gegenüber den Vereinigten Staaten von Amerika, welchen Dahlmann als Merkmal der kommunistischen Kritik antideutscher Prägung sah,4 hat eine Tradition innerhalb der materialistischen Kritik. Der Beginn dieser Tradition lässt sich bei Karl Marx und Friedrich Engels finden, in deren Kritik ein Bewusstsein für die Unterschiede zwischen deutscher und anglo-amerikanischer Gesellschaft präsent war. So schrieb Marx in der Einleitung Zur Kritik der deutschen Ideologie: „Das vollendeste Beispiel des modernen Staates ist Nordamerika. Die neueren französischen, englischen und amerikanischen Schriftsteller sprechen sich alle dahin aus, daß der Staat nur um des Privateigentums willen existiere, so daß dies auch in das gewöhnliche Bewußtsein übergegangen ist.“5 Die daraus logische Konsequenz ist für Marx und Engels, die neben Kritikern des Kapitals auch Theoretiker der proletarischen Revolution waren,6 eine (partielle) Parteinahme für die fortschrittlichsten bürgerlichen Kräfte gegen Feudalismus und Reaktion: In den USA sahen sie diese in Abraham Lincoln und seinen Gefolgsleuten.7

Das Behaupten einer linearen Bewegung von Marx bis zur gegenwärtigen antideutschen Kritik wäre alles andere als unproblematisch. Nicht nur ignoriert sie implizit denjenigen Bruch, den Auschwitz für jede kommunistische Kritik bedeuten muss, von dem Marx und Engels – trotz all ihrer Kritik an deutschen Verhältnissen – nichts wissen konnten. Diese Erzählung ignoriert auch, dass zwar rückblickend zu erkennen ist, welche von Marx und Engels analysierten historischen Grundbedingungen die deutsche Staatswerdung 1871 oder deutsche Krisenlösung 1914 vorbereiteten und ermöglichten, es jedoch zu keinem Zeitpunkt unmöglich war, dass sich die Geschichte nicht in anderer Form hätte ereignen können: nämlich als tatsächliche vom Menschen als Gattung gemachte Geschichte, welche mit dem revolutionären Ausbruch aus der Vorgeschichte ihren Anfang nehmen würde. Deutlich wird trotzdem bereits an dieser Stelle eine diesbezügliche Erkenntnis, die für die Ausprägung antideutscher Kritik maßgeblich ist: die Zugehörigkeit zu einer materialistischen Denktradition ist nicht als dogmatische Kontinuität, sondern als Kritik, das heißt als Reflexion auf historische Prozesse, zu betrachten. Das gesamte Werk von Marx und Engels zeugt von dieser stetig erneuerten Reflexion auf die Welt, auch wenn Marxisten genau das meistens überlesen. Insofern soll dieser erste Abschnitt des Textes vor allem daran erinnern, dass die (teilweise aktive) Parteinahme für die bürgerlichen Staaten von Kommunisten und anderen Materialisten aus dem deutschen Herrschaftsgebiet nicht aus heiterem Himmel (aus einer bloßen Laune der Protagonisten oder Verrat der Klasseninteressen heraus) geschah, sondern sich aus der kritischen Reflexion im Sinne des historischen Materialismus selbst ergab.

Bereits 1931 erkannte das Institut für Sozialforschung in Frankfurt unter der Leitung von Max Horkheimer die Notwendigkeit, sich vom Marxismus entfernen zu müssen, um das kritische Denken mit Marx weiterführen zu können. Die Erfahrungen der in Deutschland gescheiterten Revolutionen der Jahre 1918/19 ließen die Mitarbeiter des Instituts am ökonomistischen Modell des Marxismus zweifeln. Während Marxisten seit dem Tode Marx damit begannen, am marx‘schen kategorischen Imperativ zu schleifen und mit der Sowjet Union sich ein Herrschaftsapparat auf den Marxismus berufen konnte, hielten sie umso mehr am kategorischen Imperativ Marx‘ und der Notwendigkeit des Umwerfens aller Verhältnisse fest.8 Die neue inhaltliche Ausrichtung des Instituts nahm die Kultur, die Psychologie des Individuums und den politischen Parlamentarismus als Sphären, innerhalb deren sich die kapitalistischen Verhältnisse fetischisieren, in den Blick. Da die Mitglieder des Instituts die marx‘sche Kritik des Kapitals nicht in Frage stellten, waren sie überzeugt, dass die Gründe für das Ausbleiben der Weltrevolution in dieser Fetischisierung liegen müssen. Als – nicht nur im theoretischen Wortsinne – diesbezüglich wegweisend können die von Fromm geleiteten Studien über Autorität und Familie gelten. In einem Gespräch erinnert sich Leo Löwenthal:

„Und als wir die Resultate bekamen, das war wohl Anfang 1931, da ist uns das Herz in die Hose gefallen. Denn auf der ideologischen Oberfläche waren diese guten Sozialdemokraten und linke Zentrumswähler alle sehr liberal und republikanisch, aber auf einer tieferen, psychologischen Stufe war der größte Teil ganz autoritär, mit Bewunderung für Bismarck und strenge Erziehung […]. Anstatt diese Studie damals weiter zu betreiben, haben wir uns gesagt: Um Gottes willen, was wir hier in Deutschland geschehen? Denn, wenn das schon das psychologische Make-Up der fortgeschrittensten Kreise der deutschen Bevölkerung ist, wo doch dort der Widerstand verankert sein müsste gegen das offenbar unaufhaltbare Anrollen des Nationalsozialismus, dann gibt es hier kein Halten mehr. […] Wir haben also ganz bewusst eine Politik der Emigration getrieben, einige Jahre bevor irgendein Mensch daran gedacht hat.“9

Hinter der frühen Entscheidung für die Emigration steckt die Ahnung, dass in Deutschland eine Entwicklung in Gang gesetzt wurde, die sich von der anderer (kapitalistischer) Staaten entscheidend unterscheiden könnte, nämlich, dass die Fetischisierung und Ideologie hier zu anderen Konsequenzen innerhalb der Krisen des Kapitals – zu anderen Krisenlösungen – führen würden. Dieser damals überlebensnotwendige Pragmatismus10 erkennt in der „bürgerlich-liberalen Gesellschaft und ihren ideologischen Formationen ist durch das Aufblitzen des Anspruchs auf Verfolgung des individuellen Glücks, wie rudimentär auch immer, ein Restbestand an Vernunft, immanent.“11 In der Zeit des Exils verschärfte sich diese, dem Pragmatismus zu Grunde liegende, Erkenntnis immer weiter. Dabei lauerte natürlich auch die Gefahr der Affirmation dieser Verhältnisse. Doch, so erklärt Stuart Jeffries in seiner Biographie der Frankfurter Schule, „they couldn‘t help comparing the Third Reich to that other oppressive empire on their doorsteps, Hollywood. […] It was Hollywood‘s values, as much as Hitler‘s, that the Frankfurt School challanged in their Californian Exile. But isn‘t it ludicrous to compare the Third Reich to Hollywood?“12

Die Unterscheidung zwischen Vergleich und Gleichsetzung ist hier entscheidend. Nur der Vergleich von Nationalsozialismus und amerikanischer Kulturindustrie ermöglicht die Erkenntnis, dass auf der einen Seite „wie entstellt und instrumentalisiert auch immer, das aufklärerische Versprechen auf Individualität, Freiheit und Glück immer noch vorhanden“13 ist – wenn auch die Tendenz hin zu deren Auslöschung existiert. Während auf der anderen Seite eine „zur lückenlosen Totalität zusammenschließende gesellschaftliche Formation, deren Brechung nur noch von außen möglich ist“ existiert.14 Es sind diese Unterschiede „der nationalen Geschichte“15, von denen Langerhans in seiner Analyse des Staatssubjekt Kapitals spricht, die in der Krisenbewältigung einen Unterschied ums Ganze bedeuten.16 Er unterscheidet zwischen einer bürgerlichen Gesellschaft und einer Vergesellschaftung, in der es möglich ist, ihre notwendigen Widersprüche in der Massenvernichtung der europäischen Juden und Jüdinnen zu synthetisieren, so dass auf sie die klassischen Begriffe der Ideologiekritik nicht mehr greifen: „An die Stelle der klassisch bürgerlichen Ideologie tritt eine gesinnungsethische Weltanschauung, die zunehmend unfähig ist, Erfahrung zu Theorie zu sublimieren, ja überhaupt Erfahrung zu machen. Diese Weltanschauung ist dadurch charakterisiert, dass die Realität der gesellschaftlichen Verhältnisse immer nur in das Raster bereits vorher bestehender gesinnungsethischer Kategorien gepresst wird, um so permanent das eigene Weltbild zu bekräftigen.“17

Als kommunistisch kann Kritik nur gelten, wenn sie vom marx‘schen kategorischen Imperativ ausgehend, sich zum Ziel setzt: „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.“18 Sie darf dabei jedoch nie die Bedingungen ihrer eigenen Möglichkeit aus den Augen verlieren. Das ist zunächst einmal das Überleben desjenigen, der Imstande wäre sie auszusprechen und damit die Existenz einer Gesellschaft, welche ihn als Nichtidentisches nicht wortwörtlich liquidiert (wie es im NS geschehen ist): „Ohne die Ideen von Freiheit und Individualität ist der Begriff der Humanität, der über die Immanenz der Gesellschaft sich erhebt, überhaupt nicht zu denken.“19

II: Die soziale und die nationale Sache.

Die Errichtung eines marxistischen Herrschaftsapparates ist nicht ohne ein Degeneration der marx‘schen Kritik zur sozialdemokratischen Theorie des Marxismus-Leninismus zu haben. In dieser wird – regressiv hegelianisch – statt einer befreiten Gesellschaft ein sozialer Staat der Zukunft als Ende der Geschichte gesetzt; statt des befreiten einzelnen Individuums (die Bedingung der befreiten Gattung) wird vom befreiten Volk geträumt. Die kapitalistischen Verhältnisse des Staates und dessen Staatsvolk bleiben so fetischisiert. Wie fortgeschritten diese Fetischisierung 1933 bereits war, zeigt das historische Versagen der Arbeiterklasse angesichts des nationalsozialistischen Massenmordes. Gemeint war dabei KPD und SPD: „der Glaube an den progressiven Charakter der Massen, der sozialdemokratischen Zukunftsoptimismus, der den sozialdemokratischen Marxismus der zweiten Internationale mit dem Marxismus-Leninismus der dritten, Kommunistischen Internationale verband, und das Bekenntnis zur Nation.“20 Es verwundert angesichts dessen nicht, dass die zerstrittene Sozialdemokratie vor allem in der Aufgabe der Abwehr eines, beim alliierten Sieg drohenden, „zweiten Versailles“ zusammenrückte. So wenig es verwundert, so erschreckend bleibt es doch. Der traurige Höhepunkt ist hier sicherlich Brauer, der ehemalige sozialdemokratische Bürgermeister von Altona, der angesichts der Pläne zur alliierten Militärherrschaft sagte: „If this system is to be imposed on the German people I would say: fight to the death, Germans; it is better than to accept this straitjacket.“21

Auch die größte Sorge von Curt Geyer, bis 1941 Chefredakteur des sozialdemokratischen Neuen Vorwärts und Teil des SPD-Parteivorstandes, galt einmal dem Schicksal des Vaterlandes und dem „Kampf gegen die Formel: ceterum censeo, Germaniam esse delendam.“22 Im Zweiten Weltkrieg sah der Chefredakteur in erster Linie noch den Kampf zwischen Nationen und forderte, dass die deutsche politische Emigration „keine Fremdenlegion, die fremden Nationalismen gegen den wahnsinnig gewordenen deutschen Nationalismus“23 diene, sein solle. Zumindest vertrat er dies zu seiner aktiven publizistischen Zeit beim Neuen Vorwärts. Am zweiten März 1942 wurde jedoch das Manifest der „Fight for Freedom“-Gruppe veröffentlicht, das erklärte:

„Unser Mitunterzeichner Curt Geyer ist aus dem sozialdemokratischen Parteivorstand ausgeschieden, um Handlungsfreiheit als Sozialdemokrat im Wirken gegen jene Richtung der deutsche politischen Emigration zu haben, die offen oder versteckt gegen die einseitige Abrüstung Deutschlands agitiert, und weil er im sozialdemokratischen Parteivorstand nicht mehr eine Basis für diesen Kampf erblickt.“24

Die Gruppe arbeitete von nun an mit Lord Robert Vansittart zusammen, einem der aktivsten Gegner der Apeasement-Politik und Namensgeber der als Vansittarismus bezeichneten Position, die den Nationalsozialismus als Verschmelzung von Staat, Regierung und Bevölkerung begriff. Die Sozialdemokraten versuchte über den „Fight-for-Freedom“-Verlag die britische Bevölkerung über die Besonderheit deutscher Zustände aufzuklären. Sie gingen der Frage nach, warum der Nationalsozialismus ausgerechnet in Deutschland an die Macht kam. Mit groß angelegten Fallstudien sollte die politische Entwicklung in Deutschland analysiert werden und die Verwurzelung des Nationalsozialisten in der deutschen Bevölkerung deutlich gemacht werden. Es ging ihnen, wie sie in ihrem Manifest schrieben, um „die Wahrheit über Deutschland“.25 Und zu dieser gehörte für sie:

„daß der deutsche aggressive Nationalismus die mächtigste politische Kraft im deutschen Volke darstellt, daß er schon vor 1914 und heute erst recht alle gesellschaftlichen Klassen und politischen Parteien erfaßt hat;

daß die Sozialdemokratische Partei Deutschlands und die Führung der Gewerkschaften von 1914 bis 1918 eine wesentliche Stütze des Kriegswillens des deutschen Volkes waren;

daß die Sozialdemokratische Partei im November 1918 keine Revolution gegen den deutschen Nationalismus, nach dem Zeugnis ihrer Führer überhaupt keine Revolution wollte;

daß die Geschichte der Weimarer Republik beweist, daß die nationalistische Tendenz in der Sozialdemokratischen Partei und in den Gewerkschaften fortdauerte;

daß sozialdemokratische Führer eine Politik der deutschen Machtausweitung betrieben haben;

daß die Sozialdemokratische Partei und die Leitung des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes eine nationalistische Propaganda gegen den Versailler Vertrag geführt haben, und zwar um so lauter, je energischer die Rechtsparteien den Versailler Vertrag zur psychologischen Vorbereitung des Revanchekrieges benutzt haben;

daß Hitler nicht ein Zufall ist, sondern daß er von der größten Massenbewegung der deutschen Geschichte in die Macht getragen worden ist, und daß seine Regierung eine Mehrheit in Volk und Parlament hatte;

daß der politische Wille des deutschen Volkes sichtbar wird im deutschen Volksheer, das den Sieg will;

daß der Krieg in Deutschland unterstützt wird von einer überragenden Mehrheit des deutschen Volkes.“26

Die Gruppe weigerte sich damit vehement, das deutsche Volk und auch die deutsche Sozialdemokratie frei von Schuld zu sprechen. Sie bestanden wider den Glaubenssätzen der Sozialdemokratie auf die Erkenntnis, dass der Nationalsozialismus als negative Aufhebung der Klassen als mörderische Volksgemeinschaft den Sozialpakt real praktizierte und ihm gerade nicht mit einer sozialdemokratischen „wirklichen Volksgemeinschaft“ beizukommen sei. Gerade in der Kombination aus politischem Burgfrieden und ökonomischer Generalmobilmachung des Ersten Weltkrieges begriffen sie – wie auch Langerhans – den Beginn des Durchbruchs einer neuen Gesellschaftsordnung:

„Die Weltkrisen haben Kapital und Staat, jene beiden Seiten des gesellschaftlichen Grundverhältnisses Lohnarbeiter-Kapitalisten zu einem einzigen Schutzpanzer eingeschmolzen, um deren Fortbestand zu sichern. Aus dem automatischen Subjekt Kapital mit dem Garanten Staat als besonderem Organ ist das einheitliche Staatssubjekt Kapital geworden. Der Staat ist heute mehr als der bloß »ideelle« Gesamtkapitalist, was in seinen vermehrten Funktionen zum Ausdruck kommt.“27

Zu dieser Gesellschaftsordnung streben als Tendenz zwar alle kapitalistischen Staaten, aber nur im antisemitischen Massenmord der deutschen Volksgemeinschaft konnte sie verwirklicht werden.28 Dies war die materialistische Erweiterung der Positionen des Vansittarismus zum sogenannten „German Problem“, die in einer siebenteiligen Radioserie auf BBC und dem Buch Black Record dargelegt wurden. Als Materialisten konnte die „Fight-for-Freedom“-Gruppe Aussagen wie „He has always been the barbarian, the war-lover, the enemy-furtive or avowed-of humanitarianism, liberalism and Christian civilisation;“29 nicht zustimmen, gingen diese doch von einer zweitausendjährigen Kontinuität aus. Sie erkannten, trotz der unzureichenden Begründung Vansittarts: „Das Ergebnis aber ist richtig.“30

Nach und nach konnte Vansittart und die „Fight-for-Freedom“-Gruppe die britische Öffentlichkeit und auch die Politik überzeugen, sodass nicht nur Churchills Regierungskabinett, sondern selbst die oppositionelle Labour-Party umschwenkte und einen sozialistischen Vansittarismus befürwortete. Nicht zuletzt die militärische Strategie von Sir Airchief Marschall Arthur Harris war in besonderem Maße durch die Überlegungen Vansittarts und der „Fight-for-Freedom“-Gruppe geprägt. Ehe es von Goebbels im Sportpalast offen ausgesprochen wurde, hatten Vansittart und die Gruppe erkannt, dass es in diesem Krieg keine Zivilisten mehr gibt. Nach dieser Erkenntnis handelte Bomber Harris:

„In dem Dresden, das Harris bombardierte, gab es keine Klassen mehr, sondern die Volksgemeinschaft, damit eine grandiose Lüge, die die Nazis praktisch wahr gemacht hatten. Der Nazifaschismus war die Transformation einer wie immer konfliktuellen, tendenziell antagonistischen Klassengesellschaft in das geschlossene Mordkollektiv. […] Diese überaus negative Aufhebung der Klassengesellschaft war ein Projekt des deutschen Kapitals gewesen, seit dem Centralverein zur Hebung des Wohls der arbeitenden Klassen, seit Max Webers Gesellschaft für soziale Reform, seit Eduard Bernsteins Sozialdemokratie, seit Walther Rathenaus Idee einer “Entproletarisierung mit kapitalistischen Mitteln”. Als eine bürgerliche Politik war dies Projekt ideologisch, zum Scheitern verurteilt; erst Hitlers Programm der “Nationalisierung der Massen” verwirklichte es als die blanke Barbarei der “Deutschen Arbeitsfront”, als Barbarei nicht allein im moralischen oder metaphorischen Sinne, sondern als Begriff einer qualitativ neuen, im Aufstiegsplan der Menschheit von der Urgesellschaft zum Kommunismus absolut nicht vorhergesehene und absolut nicht vorhersehbaren Gesellschaftsform.“31

III: Das Erkennen des Minimums an Freiheit

Nicht alle der im Exil dem ehemaligen Frankfurter Institut angehörenden waren so hellsichtig wie Löwenthal. Die Erkenntnis der für Juden und Kommunisten lebensbedrohlichen Spezifika deutscher Ideologie war ein Resultat der Erfahrung im Exil. Die deutschen Besonderheiten wurden zunächst weit mehr erahnt, als erkannt oder durchdrungen. Teilweise hegten vor dem 30. Januar 1933 zum Beispiel Franz Neumann und Otto Kirchheimer durchaus Sympathien für die theoretischen Erwägungen des späteren Nazikronjuristen Carl Schmitt – vermutlich resultierend aus derselben sozialdemokratischen Position, wie die Curt Geyers. Die bedeutenden Erkenntnisse, dass das Recht in seiner formalen negativen Allgemeinheit auch ein „Minimum an Freiheit [garantiert], da die formale Freiheit zweiseitig ist und auch so den Schwachen wenigstens rechtliche Chancen einräumt“32, kam Neumann erst im Exil.

Die von Carl Schmitt vorgebrachte vermeintliche Kritik des abstrakten Rechts, als „funktionalistische Wertneutralität mit der Fiktion gleicher Chancen für unterschiedslos alle Inhalte, Ziele und Strömungen“33, enthält durchaus einiges an Wahrheit über den Charakter des Rechts, wie sie auch von Eugen Paschukanis erkannt wurden. Während letzterer jedoch die kommunistische Notwendigkeit vom Absterben des Staates sah, als Folge des immanenten antinomischen Charakters der Rechtsform, proklamierte der an staatlicher Souveränität festhaltende Schmitt einen „Liberalismus mit umgekehrten Vorzeichen.“34 Denn der sowjetische Jurist Paschukanis, der seine Kritik der Rechtsform aus der marx‘schen Analyse der Warenform entwickelte, hatte einen Begriff der Wertform, der es ihm ermöglichte, sich nicht auf einer Seite der Antinomie zu schlagen, sondern ihre Ursache zu kritisieren. Rechtskritik, die ohne diese Erkenntnisse auskommt, ist notwendigerweise eine konformistische Rebellion, die an ökonomischen Realitäten festhält und gegen deren Symptome in den Kampf zieht. Wie Paschukanis begreift auch Neumann die Rechtsperson als „die ökonomische Charaktermaske des Eigentumsverhältnisses“35, die nichts davon ahnen lässt, dass wegen und nicht trotz der rechtlichen Gleichstellung der Unternehmer über den Arbeiter verfügt.

Im Exil emanzipierte sich Neumann in gewisser Weise von seinen Sympathien für Carl Schmitt und erkannte die Antinomie des Rechts als Bedingung der Unterwerfung und Emanzipation von unmittelbarer Unterdrückung zugleich: „Sie genau in dieser Zwieschlächtigkeit und in diesem Widerspruch nicht zu sehen, mag als radikalere Kritik erschienen und ist in Wahrheit das Gegenteil: Übergang zur Barbarei, die das Individuum mit dem Kapitalverhältnis beseitigen, direkten Zugriff auf seinen Leib wiedergewinnen möchte.“36 In seiner groß angelegten Analyse des Nationalsozialismus Behemoth arbeitet Neumann dieses Bewusstsein der Zwieschlächtigkeit und ihre negative Aufhebung im Nationalsozialismus ebenso sehr heraus, wie in seinen späteren Arbeiten für das Office of Strategic Service. Mit denen er Einfluss auf die amerikanische Kriegspolitik nahm.

IV: Theorie und Kritik

„While Adorno and Horkheimer remained in California during the Second World War, several other members of the Frankfurt School went to work for the US government in Washington to help with its anti-war effort. The Institute for Social Research could as a result cut its wage bill. Viewed from the other side of the Cold War, it may seem surprising that a group of apparently neo-Marxist revolutionaries was invited to the heart of the American government. But Leo Löwenthal, Franz Neumann, Herbert Marcuse, Otto Kirchheimer and Friedrich Pollock were all hired, because as recent Jewish exiles from Germany, they knew the enemy intimately and so could help in the fight against fascism.“37

Die Notwendigkeit diesen Pragmatismus hier überhaupt zu behandeln, obwohl er als Antifaschismus eigentlich selbstverständlich für jedwede Form kommunistischer Kritik sein sollte, zeigt sich insbesondere, wenn man einen Blick auf Protagonisten der Proteste 1968 wirft. Denn als dieser war sich Daniel Cohn-Bendit nicht zu blöd, immer wieder einen Vortrag Herbert Marcuses in Rom zu unterbrechen, um zu fordern, dass sich dieser zu seiner Tätigkeit als CIA-Agent während des Zweiten Weltkriegs äußern solle. Davon abgesehen, dass die CIA während des Zweiten Weltkriegs nicht existierte, zeugt diese Intervention von einer ganz besonderen Ignoranz gegenüber den Spezifika historischen Konstellationen. Aus dem Vietnamkrieg folgt für ihn und viele andere auf die 68er-Tradition Verpflichtete, dass gegenüber der USA – unabhängig der spezifischen Situation – nur oppositionelle Haltung einzunehmen ist und jedes Mittel richtig zu sein scheint.38

Marcuse und die anderen Mitglieder des Instituts hingegen erkannten, dass in Zeiten der Unmöglichkeit von Kritik als revolutionäre Praxis, Theorie in ihrer akademischsten (vulgo bürgerlichsten) Form einen Beitrag dazu leisten konnte, die Bedingung der Möglichkeit von Kritik zu erhalten. Die militärische Zerschlagung des Nationalsozialismus war eben diese Bedingung der Möglichkeit. Der Unterschied zwischen Theorie und Kritik ist entscheidend für das Verständnis dieser besonderen historischen Konstellation, auf die sich antideutsche Kritik bis heute beruft und auch berufen muss.

„Die Frage was Theorie sei, scheint nach dem heutigen Stand der Wissenschaft keine großen Schwierigkeiten zu bieten. Theorie gilt in der gebräuchlichen Forschung als ein Inbegriff von Sätzen über ein Sachgebiet, die so miteinander verbunden sind, dass aus einigen von ihnen die übrigen abgeleitet werden können. Je geringer die Zahl der höchsten Prinzipien im Verhältnis zu den Konsequenzen, desto vollkommener die Theorie. Ihre reale Gültigkeit besteht darin, dass die abgeleiteten Sätze mit tatsächlichen Ereignissen zusammenstimmen.“39

Theorie erklärt, benennt, vereinfacht, stellt dar und beleuchtet den gegenwärtigen Zustand der Welt. Sie ist „das Kommandieren der Wirklichkeit in Gedanken“40 und der Versuch sich die Wirklichkeit gedanklich untertan zu machen. Materialistische Kritik dagegen „bemängelt, dass das, was nach Maßgabe der Logik vom Menschen nicht begriffen werden kann, sie gefälligst auch nicht zu beherrschen hat.“41 Kritik hat, als „unbeweisbare Intention darauf, dass dieser historische Moment eintreten möge“42, das Ende seines Gegenstandes zu antizipieren. Der Unmöglichkeit den Wert und seine Erscheinungsformen theoretisch zu fassen und auf einen Begriff zu bringen begegnet sie mit rein destruktiver Absicht.43 Der Unmöglichkeit die Spaltung der Gattung in Herrscher und Beherrschte logisch zu rechtfertigen, begegnet sie mit der Denunziation all dessen, was „die Selbstbestimmung des Einzelnen oder der Gattung torpediert“.44 Dabei ist sie „kein Organ und kein Agent, sie hat keine historische Mission und sprichst erst Recht nicht im Namen des Volkes oder der Massen.“45 Sie ist und bleibt gänzlich destruktiv. Kritik verwendet jeden ihrer Begriffe in der Absicht ihn abzuschaffen. Das macht Kritik aber auch ohnmächtig gegen Wehrmacht und Luftwaffe, Auschwitz und Birkenau, SA und SS. Das heißt, in Momenten, in denen sich die logische Unmöglichkeit des Kapitals historisch im Zusammenbruch offenbart und der Staat als Nothelfer auf den Plan tritt, um das Kapitalverhältnis in der Vernichtung zu retten, musste die Kritik als zweckrationale Theorie den Staats- und Militärapparat der Vereinigten Staaten und Groß Britanniens dazu bewegen, ihr Möglichstes zu tun, um dies zu beenden.

Aus der Durchdringung dieser Momente und Konstellationen erwächst der Pragmatismus der (antideutschen) Kritik. Der Reflexionspunkt Auschwitz betrachtet dabei nicht nur die Konstitution des Nationalsozialismus als negative Aufhebung der Klassen, sondern auch das historische Versagen der Arbeiterklasse und der kommunistischen Parteien. Während Stalinisten zunächst der Doktrin des Hitler-Stalin-Pakts folgten und Trotzkisten gegen die imperialistischen Streitmächte der West-Alliierten agitierten, war Georg Elser das einzige proletarische Subjekt in Deutschland, dass versuchte mit Waffengewalt die Juden vor dem Nationalsozialismus zu schützen. Die antideutsche Kritik ist die kommunistische Kritik, die das reflektiert, die kommunistische Kritik, die das nicht reflektiert, scheitert an ihrem eigenen Anspruch. Es kann keinen Materialismus geben, der nicht antideutsch ist.

Post scriptum:

Anders als Cohn-Bendit oder die Anhänger eines marxistischen Dogmatismus meinen erkannt zu haben, determinieren die Situation in den Vereinigten Staaten und die Blockkonfrontation mit der Sowjetunion nicht die Rolle der USA im Zweiten Weltkrieg. Ursächlich dieser fatalen Analyse ist ein aus seinem Zeitkontext gerissener Leninsche Imperialismusbegriff – inwieweit dieser Gültigkeit während und nach dem Ersten Weltkrieg hatte, ist hierfür irrelevant – der zum Dogma das Antiamerikanismus degenerierte. Vor lauter Imperialismus verschwimmen die Unterschiede zwischen Nationalsozialismus und USA. Im Wahn dieser antiimperialistischen Gleichsetzungen fallen – nicht nur für Ulrike Meinhof – dann auch Auschwitz und die Bombardierung Dresdens in eins und mit Willy Brandt wird Vansittart zum Rassentheoretiker erklärt.

(An anderer Stelle wird mehr darauf einzugehen sein, inwieweit diese Reflexionen von denen wir hier sprachen zum Jargon verkommen sind und die falsche Freiheit als solche im Namen der antideutschen Kritik affirmiert wird. An dieser Stelle nur so viel: die Aufklärung hat eine Dialektik, wer diese zu einer Seite hin auflöst verweigert sich der radikalen Kritik und betreibt Spiegelfechterei. Egal ob unter dem Label „links“ oder „rechts“, jede Abkehr von der Einsicht in die Dialektik der Aufklärung ist ein Verrat an der antideutschen Kritik.)

  • Fußnoten:

1Unter dem Namen: Kritik der Traditionen und Traditionen der Kritik werden in den nächsten Wochen insgesamt vier Aufsätze erscheinen, die versuchen eine Art Einführung in die antideutsche Kritik zu liefern. Einführung möchten wir dabei jedoch nicht im akademischen Sinne verstanden wissen, wo die grundsätzlichen Begriffe erarbeitet werden sollen, um sie in den eigenen Theoriebaukasten aufnehmen zu können, mittels dessen Hilfe man sich und seinen Dozierenden die Welt begreifbar macht. Im Unterschied zur Theorie existiert Kritik nur als permanent zu erneuernde Verneinung, die von jedem selbst aktiv vollzogen werden muss. Dementsprechend können diese Einführung nur die Denkrichtung einer Kritik andeuten.

2Marx, Karl: An Abraham Lincoln: http://www.mlwerke.de/me/me16/me16_018.htm

3Seite 61, Herz, Carl: Der Patriotismus verdirbt die Geschichte. In: Geyer, Curt & Loeb, Walter: Fight for Freedom.

4Siehe dazu den ersten Text dieser Reihe: https://antideutschorg.wordpress.com/2018/11/05/wertarbeit/ oder Dahlmann, Manfred: Antideutsch: https://www.ca-ira.net/verein/positionen-und-texte/dahlmann-antideutsch/

5Seite 52, Marx und Engels Gesamtausgabe (MEGA) Band 5.

6Hinter dieser gedanklichen Trennung steckt der Gedanke, dass Kritik des Kapitals nur in voller Negativität zu haben ist und „alle Verhältnisse“ verneint, während eine Theorie der proletarische Revolution auch ungleichzeitig und in temporären Bündnissen denken muss. Wir hoffen das diese Überlegungen im Laufe des Textes noch deutlicher werden.

7Marx, Karl: der nordamerikanische Bürgerkrieg: http://www.mlwerke.de/me/me15/me15_329.htm und: an Abraham Lincoln: http://www.mlwerke.de/me/me16/me16_018.htm

8„Die Kritische Theorie, diktierte Max Horkheimer 1937, ist „ein einziges entfaltetes Existentialurteil“. Das Marxsche Denken wurde so bestimmt als die materialistische Kritik der Gesellschaft und – im genauen Gegensatz zu Theorie, Wissenschaft oder Philosophie – gesetzt als das geistige Organ des „kategorischen Imperativs“, keine Ausbeutung und keine Herrschaft zu dulden. Denn die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen wie die Herrschaft des Menschen über den Menschen bezeichnen den Skandal des Selbstwiderspruchs der Gattung, ihrer Verkehrung in antagonistische Nicht-Identität; ein Tatbestand, für den es nur historische Legitimation, keinesfalls vernünftige Argumentation geben kann. Vernunft als Kritik setzt sich im Gegensatz zu Verstand als Theorie, die, als Rationalisierung, die Ideologie zum System der positiven Wissenschaften erhebt.“ Aus Bruhn, Joachim: Adornos Messer: http://www.kritiknetz.de/images/stories/texte/Adornos_Messer.pdf

9Seite 312, Löwenthal, Leo: Schriften Band 4.

10Das sich der Pragmatismus gegenüber den USA auch und vor allem aus dem Streben nach Selbsterhaltung erklären lässt, sagt dabei einiges über den Stellenwert des Individuums innerhalb der Kritischen Theorie aus.

11Seite 229, Gruber, Alex: Deutschland – Amerika. Die kritische Theorie im Kampf gegen Nazideutschland und die Bedeutung der USA für die Kritik, in: Grigat, Spehan (Hg.): Feindaufklärung und Reeducation – Kritische Theorie gegen Postnazismus und Islamismus.

12Seite 221ff, Jeffries, Stuart: Grand Hotel Abyss.

13Seite 229, Gruber, Alex: Deutschland – Amerika.

14Seite 230, ebenda.

15Seite 19, Langerhans, Heinz: Die nächste Weltkrise, der Zweite Weltkrieg und die Weltrevolution: http://theoriepraxislokal.org/imp/pdf/Langerhans.pdf

16Siehe zu Langerhans neben unserem letzten Text dieser Reihe (https://antideutschorg.wordpress.com/2018/11/05/wertarbeit/) auch Gerhard Scheit: Totalitärer Staat und Krise des Kapitals: http://www.gerhardscheit.net/pdf/TotalitaererStaat.pdf oder Jan Georg Gerber: Das Staatssubjekt Kapital – Heinz Langerhans und seine Gefängnisthesen: https://www.conne-island.de/nf/117/23.html .

17Seite 233f, ebenda.

18Marx, Karl: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung: http://www.mlwerke.de/me/me01/me01_378.htm

19Seite 227, Gruber, Alex: Deutschland – Amerika.

20Seite 12, Gerber, Jan & Worm, Anja: Die Legende vom „anderen Deutschland“ (Vorwort). In: Geyer, Curt & Loeb, Walter: Fight for Freedom.

21Zitiert nach: Seite 67, Erklärung der „Fight-for-Freedom“-Gruppe vom 2. März 1942. In: Geyer, Curt & Loeb, Walter: Fight for Freedom. Auch Online: https://www.ca-ira.net/verlag/leseproben/geyer.loeb.et.al-fight.freedom_lp-1/

22Zitiert nach: Seite 22, Gerber, Jan & Worm, Anja: Die Legende vom „anderen Deutschland“ (Vorwort). In: Geyer, Curt & Loeb, Walter: Fight for Freedom.

23Zitiert nach: Seite 22, Gerber, Jan & Worm, Anja: Die Legende vom „anderen Deutschland“ (Vorwort). In: Geyer, Curt & Loeb, Walter: Fight for Freedom.

24Seite 69, Erklärung der „Fight-for-Freedom“-Gruppe vom 2. März 1942. In: Geyer, Curt & Loeb, Walter: Fight for Freedom. Auch Online: https://www.ca-ira.net/verlag/leseproben/geyer.loeb.et.al-fight.freedom_lp-1/

25Seite 65, Erklärung der „Fight-for-Freedom“-Gruppe vom 2. März 1942. In: Geyer, Curt & Loeb, Walter: Fight for Freedom. Auch Online: https://www.ca-ira.net/verlag/leseproben/geyer.loeb.et.al-fight.freedom_lp-1/

26Seite 65, Erklärung der „Fight-for-Freedom“-Gruppe vom 2. März 1942. In: Geyer, Curt & Loeb, Walter: Fight for Freedom. Auch Online: https://www.ca-ira.net/verlag/leseproben/geyer.loeb.et.al-fight.freedom_lp-1/

27Seite 19, Langerhans, Heinz: Die nächste Weltkrise, der Zweite Weltkrieg und die Weltrevolution: http://theoriepraxislokal.org/imp/pdf/Langerhans.pdf

28Siehe dazu auch den ersten Abschnitt des ersten Textes dieser Reihe: https://antideutschorg.wordpress.com/2018/11/05/wertarbeit/

29Aus dem Klappentext der englischen Ausgabe.

30Seite 61, Herz, Carl: Der Patriotismus verdirbt die Geschichte. In: Geyer, Curt & Loeb, Walter: Fight for Freedom.

31Bruhn, Joachim: Bomber-Harris und das Minimalprogramm der sozialen Revolution in Deutschland. Online: https://www.ca-ira.net/verein/positionen-und-texte/bruhn-bomber-harris/

32Seite 594, Neumann, Franz: der Funktionswandel des Gesetzes im Recht der bürgerlichen Gesellschaft. In: Zeitschrift für Sozialforschung 6/1937. [Zitiert nach Scheit, Gerhard: Dialektik der Feindaufklärung. Siehe Fußnote 36.]

33Seite 90f, Schmitt, Carl: Legalität und Legitimität. [Zitiert nach Scheit, Gerhard: Dialektik der Feindaufklärung. Siehe Fußnote 36.]

34S. 235ff, Strauss, Leo: Anmerkungen zu Carl Schmitt. [Zitiert nach Scheit, Gerhard: Dialektik der Feindaufklärung. Siehe Fußnote 36.]

35Seite 587, Neumann, Franz: der Funktionswandel des Gesetzes im Recht der bürgerlichen Gesellschaft. In: Zeitschrift für Sozialforschung 6/1937. [Zitiert nach Scheit, Gerhard: Dialektik der Feindaufklärung. Siehe Fußnote 36.]

36Scheit, Gerhard: Dialektik der Feindaufklärung. In: Bahamas 54. Online: http://www.gerhardscheit.net/pdf/dialektikDerFeindaufklaerung.pdf

37Seite 247, Jeffries, Stuart: Grand Hotel Abyss.

38Siehe dazu auch die Diskussion zwischen Dahlmann und Enderwitz über die USA, die wir im letzten Text behandelten: https://antideutschorg.wordpress.com/2018/11/05/wertarbeit/ .

39Seite 205, Horkheimer, Max: Traditionelle und kritische Theorie – Fünf Aufsätze.

40Seite 31, Initiative Sozialistisches Forum: der Theoretiker ist der Wert.

41Seite 113, Initiative Sozialistisches Forum: der Theoretiker ist der Wert.

42Seite 112, Initiative Sozialistisches Forum: der Theoretiker ist der Wert.

43Zur Ausführung dessen empfehlenswert: der Vortrag Warum Marxisten nicht lesen können von Joachim Bruhn (https://www.youtube.com/watch?v=VEMx6JI6U2w&t=904s) oder das Podium zwischen Michael Heinrich und Manfred Dahlmann auf dem antideutsche Wertarbeit Kongress zu den Implikationen der marxschen Kritik der politischen Ökonomie (http://audioarchiv.blogsport.de/2012/12/30/antideutsche-wertarbeit/).

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Kann es einen Materialismus geben, der nicht antideutsch ist?

Der folgenden Text ist der erste einer Reihe, die versucht Erfahrungen und Debatten wieder aufzubereiten, die von der Redaktion als zentral für die Entwicklung einer eigenständigen antideutschen Kritik gesehen werden. Dabei können wir nicht beanspruchen eine fertige Definition dieser Form der Kritik vorzulegen, stattdessen wollen wir in erster Linie zur (erneuten) Auseinandersetzung mit ihr und ihrer Entstehungsgeschichte anregen.1 Den Anfang bildet die Aufbereitung und Kontextualisierung einer Debatte, die 2002 auf und um den Kongress antideutsche Wertarbeit2 zwische Ulrich Enderwitz und Gerhard Scheit geführt wurde und sich mit der Frage befasst:

Kann es einen Materialismus geben, der nicht antideutsch ist?“ 

Der Antideutsche ist sich seiner selbst als Kommunist so sicher, daß es ihm egal ist, ob ihm Linke ein Paktieren mit dem Klassenfeind vorwerfen, wenn er den Krieg der USA gegen den Irak im besonderen und gegen den islamfaschistischen Terror im allgemeinen aus sehr triftigen, weil antideutschen Gründen begrüßt und würdigt (und kritisiert, wenn dieser nicht entschieden genug geführt wird). Er tut dies schließlich auch aus ureigenstem Interesse, denn er weiß, wie übrigens jeder Linke auch – nur gibt der das nie offen zu –, daß sein Überleben als Kritiker und Kommunist davon abhängt, daß die Deutsche Ideologie und deren Praxis nicht doch noch über die liberale den Sieg davon trägt.

Manfred Dahlmann3

Die intellektuelle Frechheit dieser jüngsten Zivilisationskrieger und Kreuzritter des Abendlands geht so weit, daß sie ihre bedingungslose Kapitulation vor der herrschenden Ordnung als besondere dialektische Raffinesse verkaufen wollen. Indem sie die dümmsten Hühner des restlichen autonomen und Antifa-Spektrums zu ideologischen Kindersoldaten der NATO umschulen, machen sie sich verdient um das weltdemokratische Imperium, möchten aber gerade diese Arbeit an der Affirmation als „antideutsche Wertarbeit“ zur einzig wahren Wertkritik adeln, deren Begriff sie damit besudeln. In ihrer Orwellschen Sprache ist es geradezu der Gipfel der Radikalität, US-Kampfbomber aufklärungs-frömmlerisch zu segnen. Mit dieser Rabulistik können sie allerdings nur eine Handvoll hinterwäldlerische, theoretisch ungebildete Desorientierte blenden, die mangels eigenständiger Denkfähigkeit auf der Suche nach Identität und Distinktion um jeden Preis sind.

Robert Kurz4

I – das Streitgespräch:

Eingangs eine Klarstellung: wir sehen es als die Aufgabe positivistischer Historiker, offen zu legen, was wirklich geschah. Wann wer sich mit welcher Anmerkung zu Wort gemeldet hat und wer daraufhin was erwidert haben soll. Der folgende Beitrag möchte stattdessen einen Teil des historischen Materials in einer Weise darlegen, die es den Lesenden ermöglicht, verschiedenen Aspekte der Fragestellung nachzuvollziehen und so einen Beitrag zur Kritik ohne Jargon, Szenecodes und politischen Abwägungen leisten.

Direkt zu Beginn des Streitgespräches möchte Ulrich Enderwitz klarstellen, dass sein Buch Volksstaat und Antisemitismus5 für ihn persönlich nicht seine wichtigste Veröffentlichung darstellt. Für den Rahmen des Streitgespräches muss es allerdings als zentral erachtet werden. Dort demonstriert er, Joachim Bruhn zu Folge „daß der blinde Fleck der marxistischen Theorie in Sachen Antisemitismus unmittelbar ihren Halluzinationen vom »sozialistischen« oder gar »proletarischen Staat« geschuldet ist: Keine revolutionäre Praxis wird dem Antisemitismus gerecht werden können, die nicht Kapital- und Staatskritik in einem wäre und so der Intention der Kritik der politischen Ökonomie entspräche.“6

Hier spitzt Enderwitz die Analysen von Heinz Langerhans zu, indem er den Antisemitismus als Bedingung der Möglichkeit, für die von Langerhans beobachtete soziale Pazifizierung, erachtet. Letzterer beschrieb, 1934 in nationalsozialistischer Haft auf Zigarettenpapier, wie aus dem „automatischen Subjekt Kapital mit dem Garanten Staat als besonderem Organ“7 nun das „einheitliche Staatssubjekt Kapital geworden“8 sei. Dies gehe mit einer „rücksichtslose[n] soziale[n] Pazifierungsaktion mit dem Zweck der »organischen« Einfügung des Kapitalteils Lohnarbeit in den neuen Staat“9 einher. Durch den Antisemitismus trete, laut Enderwitz, „an die Stelle der Wirklichkeit, auf die er mit seinen Urteilen primär reagiert, eine Ersatz- und Alibirealität“,10 durch welche das vermeintlich revolutionäre Subjekt das Objekt seiner Frustration wechselt: Antisemitismus anstatt Kritik am Kapitalverhältnis.

Im Programm des Kongress beharrt er darauf, dass diese von ihm untersuchte nationalsozialistische Vergesellschaftung „eine logische oder jedenfalls krisen- beziehungsweise notstandslogische Konsequenz des repräsentativ-demokratischen Kapitalismus ist“11 und nur „als eine durch die besonderen Umstände Deutschlands begünstigte frühe Ausbildung oder Vorform einer der kapitalistischen Entwicklung insgesamt eingeschriebenen Rezeptur gelten kann“.12 Er sieht somit keine qualitativen Unterschiede „zwischen liberalistisch operierendem und nationalsozialistisch organisiertem Kapital, zwischen oligarchischer Demokratie und Faschismus, zwischen Angelsachsen und Teutonen“.13

Im Gegensatz zu seinem Diskussionspartner, Gerhard Scheit. In seinem bereits 2001 veröffentlichten Buch die Meister der Krise14 zieht dieser aus den enderwitzschen Analysen eine Konsequenz, zu der letzrere nicht bereit ist. Er hebt das explizit deutsche am deutschen Volksstaat hervor. Er erarbeitet dabei einen Begriff vom deutschen Volk als ein Staatsvolk, das in einer speziellen historischen Konstellation zu einer besonderen Nation fetischisiert wurde und dabei eine bestimmte Form des notwendigen falschen Bewusstseins hervorbrachte: die deutsche Ideologie.

An der Grenze zwischen dem Westen, wo die sogenannte ursprüngliche Akkumulation – von absolutistischem Staat und Kolonialsystem flankiert – in eine ausgeprägte bürgerliche Gesellschaft münden konnte, und dem Osten, wo der militärisch von außen wirksame Druck dieser Akkumulation den Aufbau von Staatsmaschinen ohne entsprechende ökonomische und koloniale Grundlage erzwang, hier in der Mitte entstand so etwas wie ein Konzentrat des Ganzen, ein Mikrokosmos der kapitalisierten Welt, in dem sich die moderne Barbarei des Westens mit der vormodernen des Ostens verbunden hat.“15

Die Nähe zu den Erkenntnissen in Volksstaat und Antisemitismus werden dabei während der Diskussion mehrmals betont. Deren Stärke liegt in der Verknüpfung von staatskritischen Untersuchungen im Geiste eines Langerhans mit der Kritik des Antisemitismus der kritischen Theorie.16 Was Adorno, Horkheimer und auch Enderwitz jedoch, trotz aller richtiger Einsicht über die Harmonisierung der Gesellschaft durch Antisemitismus, nicht zu sehen bereit waren:

Nirgendwo aber – und vor dieser Erkenntnis schreckten Horkheimer und Adorno wirklich zurück – stellte sich diese Harmonie so automatisch her wie im Dritten Reich. Hier identifizierte sich die Bevölkerung nahtlos mit dem Staatssubjekt Kapital, hier praktizierte man bis zum Äußersten die Versöhnung von Kapital und Arbeit. Diese Identifikation aber war nur möglich, weil das Real-Abstrakte, das die Individuen stets auf den Warencharakter ihrer Arbeitskraft zurückwarf, der Wert, der bei aller Verstaatlichung von Kaufkraft und individueller Reproduktion, bei aller ‚Kraft durch Freude‘ und Arbeitsdienst-Laune nach wie vor seinen Tribut verlangte, – weil dieses Real-Abstrakte des Werts in Gestalt des Judentums personifiziert und das wirkliche Judentum als Personifizierung des Abstrakten von Staats wegen nicht nur verbannt, sondern vernichtet wurde. So ‚konkretisierte’ sich die deutsche Volksgemeinschaft des Dritten Reichs. Ohne das totale Feindbild der ‚Weltverschwörung des Judentums‘, das – in den Vernichtungslagern in die Tat umgesetzt – die Volksgemeinschaft bis zuletzt zusammenschweißen konnte, wäre dieser Krieg nicht zum ‚totalen Krieg‘ geworden, nicht bis zur letzten Konsequenz vom Dritten Reich führbar gewesen. Die Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung der Juden war es, die jener Identität der Deutschen mit ihrem Staat zugrunde lag und sie bis zuletzt – und darüber hinaus – garantierte.17

Gegen diese Kritik an den deutschen Besonderheiten, die sich auf Erkenntnisse von Enderwitz beruft, wehrt dieser sich, denn die Kritik nationalstaatlicher Spezifika lasse sich nicht mit einer Kritik an Wert und Kapitalverhältnis vereinen. Er möchte bereits im Programm die möglichen Positionen vorweg nehmen, wenn er schreibt:

Entweder dieser deutsche Faschismus bleibt ein Sonderphänomen, seine ‚Implementation‘, wie man neudeutsch zu sagen pflegt, ein Sonderweg der Deutschen; dann muß man sich, um ihn zu verhindern, auf die Seite des ‚normalen‘, liberalistischen Kapitalismus als des herrschenden und den deutschen Sonderweg allein zu verbauen fähigen Allgemeinen schlagen. Oder dieser deutsche Faschismus ist – wie ja durch die These von der tendenziellen, wo nicht gar notwendigen Faschisierung des Kapitalismus nahgelegt wird – der maßgebende Wechsel auf das Schicksal des Kapitalismus ganz allgemein, der Vorgriff auf die Zukunft aller Gesellschaften, in denen kapitalistische Produktionsweise herrscht; dann hat man in vexierbildlicher Wiederaufnahme der Rede vom deutschen Wesen, an dem die Welt genesen wird, und des darin kodifizierten Größenwahns Deutschland zur schlechthin schicksalsträchtigen Nation, zum ‚Meister der Krise‘ oder besser gesagt zum ‚Tier der Apokalypse‘ erklären.“18

Dieser falschen Polarisierung zwischen Kritik am allgemeinen Kapitalverhältnis und besonderer deutscher Vergesellschaftung geht Scheit, ebenfalls in der Programmankündigung, bewusst aus dem Weg:

Der Wert ist immer und überall derselbe – mit sich selbst absolut identisch (Differenz ist allein quantitativ möglich); und er kann überhaupt nur als diese absolute Identität auf den Begriff gebracht werden. Der Staat entspricht zwar seinerseits solcher realen Abstraktion und ist insofern immer und überall der gleiche; untrennbar davon aber – also gerade in seiner Allgemeinheit – läßt er sich nur als ganz bestimmter begreifen, das heißt: im Zusammenhang, in dem er mit seinesgleichen steht und worin er sich unterscheidet. So ist es ein- und dasselbe Kapitalverhältnis, das überall in die Krise gerät, doch gerät es überall auf je verschiedene Weise in die Krise – und darüber entscheidet nicht zuletzt, welches Bewußtsein von Krise und Krisenbewältigung das Verhältnis zum Staat bestimmt und die Menschen zur Nation formiert.19

Wie in der Diskussion, aber auch im Laufe der weiteren Entwicklung des ISF und des ça ira-Verlages deutlich wird, verweigern sich Scheit und der ISF einer Dichotomie aus traditioneller linker Kapitalismuskritik und vermeintlich neokonservativer Kritik am deutschen Wesen und beantworten die Frage, ob es einen Materialismus geben könne der nicht antideutsch sei, mit einem klaren Nein. Diesen Widerspruch gegenüber Kommunisten, die von antideutscher Kritik nichts wissen und Antideutschen, die von kommunistischer Kritik nichts wissen wollen, wurde im Antideutscher Katechismus benannt:

Die Emanzipation des Deutschen ist die des Menschen, lehrte einst ein Kommunist und wir pflegen sehr buchstabengläubig zu sein, was unsere Klassiker angeht. Der Kraftaufwand, der nötig ist, um die Konterrevolution auf dem Boden der sie hervorbringenden Verkehrsformen zu stoppen, ist ähnlich dem zur Aneignung der großen Industrie. Deshalb muß Beides in Eins fallen. Wenn die USA solange das Schlimmste verhindern, gewährt uns das die dringend benötigte Zeit, unseren historische Auftrag wieder aufzunehmen und die klassen- und staatenlose Gesellschaft zu erkämpfen, bzw. das zuwege zu bringen, was Sie schüchtern und Hegelsch die Aufhebung der Warenform nennen.20

II – Ein Begriff, der schmerzt:

Eines der herausragendsten Mitglieder des ISF, der langjährige politische Wegbegleiter und im letzten Jahre verstorbener Freund Scheits, Manfred Dahlmann, bestimmte antideutsche Kritik im Bewusstsein oben dargelegter Debatten, als er schrieb:

Antideutsch denken und handeln heißt die politischen Vermittlungs- und Repräsentationsformen in Gesellschaft und Staat, die auf der Trennung von freien und gleichen Warenbesitzern einerseits und am Allgemeinwohl orientierten Staatsbürgern andererseits beruht, gegen die zu verteidigen, die diese Teilung zugunsten eines autoritären Volksstaates überwinden wollen, dessen Subjekte von nichts anderem als von seinen Wohlfahrtsleistungen abhängig sind. Wer in diesem Sinne das Etikett ‚antideutsch‘ nicht auch auf sich bezieht, mißachtet zumindest die Gefährlichkeit der – selbstredend nicht auf Deutschland und deutsche Staatsbürger beschränkte, sondern immer schon weltweit grassierende – Deutschen Ideologie, deren historischer Kern darin besteht, daß auf ihr Konto nicht nur ‚normale‘ kapitalbedingte Ausbeutung und Herrschaft, nicht nur die dem Kapital aus Prinzip immanenten Kriege und nicht nur der ihm in seinen Grund eingeschriebene Antisemitismus gehen, sondern fördert das Überleben einer Ideologie, der zudem noch die historisch und empirisch nicht zu leugnende Tatsache eingeschrieben ist, daß die deutsche Fassung der Beziehung von Staat und Gesellschaft die Auslöschung der Menschheit in zwei Weltkriegen im allgemeinen und den eliminatorischen Antisemitismus im besonderen beinahe total verwirklicht hätte.21

Die Konsequenz aus dieser Kritik der deutschen Ideologie ist nach dem 11. September 2001 (sofern deutsche Ideologie nicht geographisch essentialisiert werden soll), neben der selbstverständlichen Solidarität mit dem jüdischen Staat22 auch eine partielle Zustimmung der US-amerikanischen Politik. Als Antwort auf ein diesbezüglichen Komunique der ISF formulierte Enderwitz einen offenen Brief, aus dem einige Passagen sich in seiner Programmankündigung wiederfinden lassen. Der offene Brief ist Teil der Vorgeschichte des Streitgespräches.23 Dort kritisiert er die von der ISF formulierten Positionen zu Israel und den Vereinigten Staaten (und damit auch zum bürgerlichen Staat), deren Grundlage, die im Streitgespräch behandelte Frage nach den deutschen Besonderheiten ist. Allen voran an eine „Eloge auf den amerikanischen Kapitalismus, zu dem Ihr ansatzweise anhebt, auch wenn Ihr es schamhaft bei Andeutungen belasst“24 und die für ihn damit zusammenhängende Weigerung, den Islamismus als „ein ,Geschöpf’ der westlichen Zivilisation”25 zu sehen, das „die Gewalt und den Terror in anarchistisch entstellter Gestalt dorthin zurück“26 trägt, wo sie ihren Ursprung nahm.

Damit nimmt er eine Konkretisierung der abstrakten kapitalistischen Gewalt auf den geographischen und politischen Westen vor, anstatt (was Anspruch von Wert- und Staatskritik sein sollte) in jedem Staat eine Konkretisierung dieser Gewalt zu sehen und ihre jeweiligen Spezifika aufzuzeigen. Ihm ist es daher nicht möglich, die Erkenntnis der Unterschiede in den Spezifika der einzelnen Konkretisierungen zu betrachten. Jeder daraus folgende positive Bezug auf die (Kommunisten wenigstens ein Leben ermöglichende) bürgerliche Freiheit muss für ihn als „Eloge auf den amerikanischen Kapitalismus“ verstanden werden. Das eigentliche Anliegen antideutscher Kritik kann, dieser durch 68 aktualisierten Rezeption der Imperialismus-These folgend, nicht begriffen werden. Die ausführliche Antwort von Dahlmann auf Enderwitzens Brief versucht deshalb nicht nur, die aus dieser Rezeption folgende Kritik zurückzuweisen. Dahlmann muss „etwas tiefer in dieses deutsch-linke Denken eindringen“,27 um darzulegen, dass „die Absage an diese Tradition in meinen Augen sehr viel radikaler erfolgen muß, als das mir bei dir [Enderwitz] der Fall zu sein scheint.“28

In Reaktion auf diese greift Dahlmann nicht zur bloßen Gegen-Affirmation. Dies würde bedeuten, alles zu gutieren, was von den 68ern abgelehnt wurde:

Nicht einmal ein Antideutscher […] reinsten Wassers wird bestreiten, daß der Kampf der Studentenbewegungen in der westlichen Welt in den 60er- und 70er-Jahren gegen den Krieg der USA in Vietnam vollkommen berechtigt war und jede Unterstützung verdient hatte. Von heute aus zeigt sich jedoch, daß die damaligen Begründungen des Protestes alles andere als unschuldig zu nennen sind, sondern zum Großteil dermaßen völkisch, und damit hirnverbrannt deutsch daher kamen […] und in der Folge auch nie umfassend revidiert worden sind, daß man sich nicht zu wundern braucht, wenn diese Begründungen – etwa was die Reaktion der USA auf den Anschlag auf das WTC betrifft –, umstandslos weiterhin in der Linken vorgebracht werden und sie das unausgesprochene Paradigma der Linken in Deutschland abgeben, sobald diese sich anschickt, das zu kritisieren, was sie für Kapitalismus, Imperialismus, Unterdrückung überhaupt, hält.29

Das Festhalten an der Abstraktheit und Allgemeinheit des Kapitalverhältnisses ist auch ein Festhalten daran, dass es sich in verschiedenen historischen Konstellation auf je spezifische Art und Weise konkretisiert. Dieses Festhalten heißt zu erkennen, dass es während des Vietnamkrieges innerhalb der USA möglich war, „auf den Widerspruch, den es macht, als Führungsmacht der freien Welt und Hort der Zivilisation aufzutreten, in der Praxis aber eben diese Grundsätze mit Füßen zu treten“30 zu verweisen. Denn, anders als in Deutschland, repräsentierte die USA „nie eine in einer Massenbewegung verankerte, insbesondere die Arbeiterklasse in die Volksgemeinschaft einbindende Gesellschaft, die vom Prinzip her antikapitalistisch nicht nur agitiert, sondern auch insoweit agiert, als sie die Ausschaltung/Kontrolle der innerstaatlichen Konkurrenz als Allheilmittel der Krisenüberwindung ansieht.“31

In den Erklärungen von Enderwitz hingegen spiegelt sich das linke Unverständnis über die Dialektik von Zivilisation und Barbarei und der zwischen dem allgemeinem Kapitalverhältnis und seiner besonderen Erscheinungsformen wieder. Es war, an diese anknüpfend, das Weitertreiben der materialistischen Kritik an den deutschen Zuständen, die Einsichten über die Nähe von islamistischem Fundamentalismus zur deutschen Ideologie und die von Dahlmann erklärte Erkenntnis, „der exstierenden Unvernunft mit einem gehörigen Schuß Pragmatismus, der sich historisch begründet und an den tatsächlich gegebenen Machtverhältnissen orientiert, zu begegnen“32, die dazu beitrugen, eine genuin antideutsche und kommunistische Kritik zu entwickeln. Gerade die Selbsterhaltung als Bedingung der Möglichkeit der Abschaffung des Kapitalverhältnisses betrachtend, wird deutlich, dass „unter den gegebenen Bedingungen eine öffentliche Parteinahme für die aktuelle Politik der USA und Israels gegen Deutschland notwendig wird”33 Notwendig für eine Kritik, die dennoch hofft,

daß eine Verständigung noch möglich ist, die aus meiner Sicht im Kern auf das Einverständnis hinaus laufen sollte, daß ein Gemeinmachen mit der real existierenden deutschen, sich mit dem Kampf des palästinensischen Volkes identifizierenden Linken, […] schlicht als konterrevolutionär zu bezeichnen ist. Diese Linke in Deutschland, die dem völkischen Sezzessionswahn immer näher stand als den auf der Basis kapitalistischer Vergesellschaftung nicht einzulösenden Versprechen der bürgerlichen Revolution, steht auf der Seite der Reaktion, genauer: Regression, und dürfte für die Kritik sogar als Gegenstand verloren sein.34

– – –

1 Unter dem Namen: Kritik der Traditionen und Traditionen der Kritik werden in den nächsten Wochen insgesamt vier Aufsätze erscheinen, die versuchen eine Art Einführung in die antideutsche Kritik zu liefern. Einführung möchten wir dabei jedoch nicht im akademischen Sinne verstanden wissen, wo die grundsätzlichen Begriffe erarbeitet werden sollen, um sie in den eigenen Theoriebaukasten aufnehmen zu können, mittels dessen Hilfe man sich und seinen Dozierenden die Welt begreifbar macht. Im Unterschied zur Theorie existiert Kritik nur als permanent zu erneuernde Verneinung, die von jedem selbst aktiv vollzogen werden muss. Dementsprechend können diese Einführung nur die Denkrichtung einer Kritik andeuten.

2 Der Kongress wurde von der Initiative Sozialistisches Forum über Ostern im Jahr 2002 veranstaltet und ist vollständig als Audiomittschnitt erhalten. Das Audioarchiv stellt dankenswerter Weise die Aufzeichnung des gesamten Kongress zur Verfügung: http://audioarchiv.blogsport.de/2012/12/30/antideutsche-wertarbeit/ // Ein Bericht mit O-Tönen von der Veranstaltung findet sich hier: https://www.freie-radios.net/973 // Das gesamte Programm ist hier einsehbar: https://www.ca-ira.net/verein/positionen-und-texte/isf-wertarbeit_kongress-cd/

3 Dahlmann, Manfred: Antideutsch. Online einsehbar: https://www.ca-ira.net/verein/positionen-und-texte/dahlmann-antideutsch/

4 Kurz, Robert: die Jubelperser der Weltpolizei. Online einsehbar: https://www.exit-online.org/textanz1.php?tabelle=schwerpunkte&index=7&posnr=79&backtext1=text1.php

5 Erhältlich im, dem ISF angehörenden, ça iraVerlag: https://www.ca-ira.net/verlag/buecher/enderwitz-antisemitismus/

6 Siehe: https://www.ca-ira.net/verlag/rezensionen/enderwitz-antisemitismus_rez-bruhn/

7 bis 9 Langerhans, Heinz: die nächste Weltkrise, der zweite Weltkrieg und die Weltrevolution. Online einsehbar: http://theoriepraxislokal.org/imp/pdf/Langerhans.pdf

10 Im Vorwort zu: Enderwitz, Ulrich: Volksstaat und Antisemitismus, Freiburg, 1998. Online einsehbar: https://www.ca-ira.net/verlag/leseproben/enderwitz-antisemitismus_lp/

11 bis 13 Aus dem Programm zum Kongress. Siehe Fußnote 2.

14 Erhältlich im ça iraVerlag: https://www.ca-ira.net/verlag/buecher/scheit-meister/

15 Seite 12. Scheit, Gerhard: Die Meister der Krise, Freiburg, 2001.

16 „Und noch die fortgeschrittensten Theorien aus dem Umkreis der Kritischen Theorie teilen mit dem proletarischen Dogma die, wenn auch ökonomiekritische, Fixierung auf Gesellschaft: weder bei Theodor W. Adorno noch bei Detlev Claussen gerät der »geschäftsführende Ausschuß« der kapitalistischen Klasse, der Staat, ins Blickfeld. Hier setzt Ulrich Enderwitz’ Essay Antisemitismus und Volksstaat. Zur Pathologie kapitalistischer Krisenbewältigung an.“ zitiert nach: siehe Fußnote 6.

17 Scheit, Gerhard: Totalitärer Staat und Krise des Kapitals. Online einsehbar: http://www.gerhardscheit.net/pdf/TotalitaererStaat.pdf

18 & 19 Aus dem Programm zum Kongress. Siehe Fußnote 2.

20 Assoziation antideutscher Kommunisten ça ira: antideutscher Katechismus. Online einsehbar: https://antideutschorg.wordpress.com/2018/05/16/antideutscher-katechismus/

21 Dahlmann, Manfred: Antideutsch. Siehe Fußnote 3.

22 Bereits 1991 legte Bruhn diesbezüglich die Position des ISF in der Diskussion mit Thomas Ebermann dar. Online einsehbar: https://www.ca-ira.net/wp-content/uploads/2018/06/bruhn-golfkrieg.linke_.tod_-1.pdf

23 bis 26 Enderwitz, Ulrich: Quo Vadis ça ira. Online einsehbar: https://www.ca-ira.net/verein/positionen-und-texte/enderwitz-quo-vadis/

27 bis 34 Dahlmann, Manfred: Antwort auf Enderwitzens Quo Vadis ça ira. Online einsehbar: https://www.ca-ira.net/verein/positionen-und-texte/dahlmann-antikritik-enderwitz/