Kapital, Staat, ihre Fetische und dieses deutsche Scheiszland.

Im folgenden möchten wir die überarbeitete Version eines internen Diskussionspapier mit Skizzenhaften Überlegungen für einen antideutschen Materialismus veröffentlichen, um die analytische Grundlage unserer bisher veröffentlichten Flugblätter offen darlegen zu können. Es geht uns darum um nichts weniger, als um den Versuch die Basis der vom antideutschen Materialismus ausgehende kommunistische Kritik der Welt aufzuzeigen. Dabei geht es uns allerdings nicht um besserwisserische Arroganz – die überlassen wir dem GegenStandPunkt und dem lokalen Ableger Argu.Diss – sondern um den Anstoß einer (nicht nur) in Bremen notwendigen Diskussion über linksradikale Gesellschaftskritik, die sich weder darin begnügt die Farce zu vergangenen linken Tragödien zu sein, noch – bewusst oder unbewusst – Erfüllungsgehilfin politischer Parteien zu werden. Die im folgenden skizzierten Begriffe erachten wir als Basis dieser Kritik.

Weil wir das nun folgende bereits als Flugblatt zugespitzt haben und weil es eigentlich um etwas anderes geht, sind die Verweise auf den Aufruf von NIKA Nordwest für die Demonstration gegen Thilo Sarrazin in Bremen bewusst implizit gehalten. Der bewusste Bezug zum Aufruf soll dennoch nicht verdrängt werden und hier nochmal vorangestellt werden. Die im Flugblatt geäußerte Kritik soll an dieser Stelle viel mehr als pars pro toto für eine kritisierenswerte Lage linker Kritik genommen werden.1 Des Weiteren sei bereits vorab angemerkt, dass das nun folgende keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann und will, sondern lediglich versucht ein wenig Grundsätzliches über einen antideutschen Materialismus zu sagen, der die Basis unserer Kritik an einer viel zu wenig radikalen Linken ist.

Das Kapital:

Anders als die antikommunistischen Marxisten es raunen, ist das Kapital kein Kreis von Personen, der in irgendwelchen Räumen über die Welt herrscht. Der von Marx erkannte Widerspruch von Kapital und Arbeit, der vom Marxismus erst zum Grundwiderspruch aufgeblasen wurde, um dann personifiziert zu werden, ist nicht die wesentliche Bestimmung des Kapitalismus. Jene wäre erst, mit einem Begriff von einer Vergesellschaftung, in der das Kapitalverhältnis zum totalen System geworden ist, also eine alles Denken und Handeln bestimmende Totalität erreicht hat, zu haben. Doch wie drückt sich diese Totalität aus, wie lässt sie sich auf den erforderlichen Begriff bringen?

Wer in Marx einen Theoretiker des Kapitals – und darin unterscheiden sich die meisten seiner Anhänger nicht voneinander, egal ob sie früher Sozialdemokraten, Stalinisten, Trotzkisten oder neuerdings Autonome und Antinationale sind – sehen möchte, der erwartet implizit das Begreifen und vernünftige Darstellen einer absolut unbegreiflichen und unvernünftigen Angelegenheit.2 Polemisch gesagt: Wenn es Marx nur darum gegangen wäre, das Wesen der Totalität theoretisch darzustellen, anstatt es als Unwesen zu denunzieren, dann hätte er lediglich Hegel interpretieren und keine Kritik der politischen Ökonomie schreiben müssen. Wenn er eine Theorie des Kapitals zu schreiben versucht hätte, dann hätte er dadurch in das Kapitalverhältnis eine Vernunft hineingelegt. Er wäre Linkshegelianer geblieben, anstatt den Versuch zu unternehmen, Hegel vom Kopf auf die Füße zu stellen und der idealistischen Theorie eine materialistische Kritik entgegenzustellen.

Wenn Jahrzehnte später nun Adorno unter dem Eindruck der Shoah und im Anschluss an Marx davon sprach, dass das Ganze das Unwahre und das Wesen des Kapitals ein Unwesen sei, dann sind das weit mehr als bloße akademische Spielereien mit hegelscher Dialektik, sondern es ist Ideologiekritik par excellence und damit notwendiger Anknüpfungspunkt für jede linksradikale Gesellschaftskritik. Hegel brachte, als Metaphysiker des Tausches, wie kein zweiter die Art und Weise, in der sich die bürgerliche Gesellschaft konstituiert, zu einem Bewusstsein. Welches, – und das meint der Ideologiebegriff – für den Erhalt dieser Gesellschaft zwar notwendig, auf Grund seiner Affirmation der Spaltung der Gattung in Herrschende und Beherrschte, allerdings grundsätzlich falsch ist.

Es kann aber auch nicht richtig sein, da die einzige Wahrheit über das paradoxe Verhältnis des Werts, welches den Einschluss aller durch alle im Ausschluss aller durch alle erreicht, dessen Abschaffung wäre. Das heißt, dass die gesellschaftliche Synthese, die das Kapitalverhältnis stiftet, alle ausschließt, weil es die Individuen zu Arbeitskraftbehältern und die sinnlichen Dinge zu Waren atomisiert und zugleich alle einschließt, in dem alles auf den Wert bezogen und dadurch miteinander austauschbar (und damit vergleichbar) wird. Der Mensch wird im sozialen Verhältnis des Wertes als bloßer Arbeitskraftbehälter sowohl vom gesellschaftlichen Reichtum ausgeschlossen, als auch als Verkäufer der Ware Arbeitskraft im Marktzusammenhang eingeschlossen.

Jede Theorietisierung dieses real-existierenden völligen Widersinns eines automatischen Subjekts des Kapitals, eines sich selbstverwertenden Wertes, eine ewig voranschreitende Prozession von Geld – Ware – mehr Geld, wäre eine Rationalisierung und damit Legitimierung der Herrschaft des Menschen über den Menschen, deren Abschaffung gerade das Ziel der kommunistischen Kritik ist. Der polemische Gehalt des marxschen Begriffs vom automatischen Subjekt liegt gerade in seiner paradoxen und theologischen Dimension: zum einen ist etwas entweder automatisch oder es ist Subjekt, zum anderen ist die Selbstverwertung des Wertes ein Zirkelschluss und deshalb logisch nicht korrekt und doch ökonomische Realität auf die jede ökonomische Theorie aufbaut.3 In gewisser Weise existiert im Kapitalismus mit dem Wert ein, sich jeder Rationalität entziehendes, göttliches Moment, dass dennoch vom Menschen geschaffen wurde.4

Die allgemeine Gültigkeit erhält dieses abstrakte Wertverhältnis durch seine sinnliche Form: das Geld. Dessen Rätsel – und die Denker der politischen Ökonomie haben bis heute keine Antwort darauf gefunden5 – liegt in seiner zugleich objektiven Gültigkeit als abstraktes Wesen des Werts und in seinem subjektiven Charakter als konkrete Erscheinung in der Geldware. Hier ist zum Einen auf die Unbegreiflichkeit zu verweisen, die in diesem logischen Paradox liegt und zum Anderen auf die weitgehenden Folgen für eine Gesellschaft, in der dieses Paradox zur bestimmenden Synthese – zum Ausschluss aller durch den Einschluss aller – werden konnte.6

Der Staat:

Wenn man wie Marx, über die Bedeutung des Geldes für das Kapitalverhältnis nachdachte und dabei eine britische Pound Sterling Münze in die Hand nimmt – was der gute Karl nach jedem Besuch seines Finanziers Engels tun musste, um seine Familie ernähren zu können – wird deutlich, dass auf der einen Seite der Wert in einer Zahl ausgedrückt wird, während sich auf der anderen Seite der Kopf des Souveräns befindet. Kurzum: es wird deutlich, dass der Staat nicht unbeteiligt an dieser Form der Vergesellschaftung sein kann. Es verwundert demnach nicht weiter, dass Marx nach dem Manifest der kommunistischen Partei und in den Arbeiten zur Kritik der politischen Ökonomie Abstand nahm von der Idee des Staates als Hebel zur Errichtung der befreiten Gesellschaft. Es bezeugt darüber hinaus den konterrevolutionären Charakter aller Erscheinungen des Marxismus-Leninismus und sonstigen sozialdemokratischen Elendsverwaltungsbestrebungen, dass Lenins Buch Staat und Revolution und nicht Staat ODER Revolution hieß. Doch was genau hat der Staat mit dem Kapitalverhältnis zu schaffen?

Wie bereits angedeutet ist das Kapitalverhältnis ein Verhältnis, in dem das Tauschverhältnis eine allgemeine Gültigkeit erlangt. Erst dadurch, dass Waren aufeinander im Tausch bezogen – also: verglichen – werden, entsteht Wert, Ware, Geld und Kapital. Eine Voraussetzung des Tausches ist, dass sich die Tauschenden als Freie und Gleiche gegenübertreten – denn wenn ich etwas einfach so nehmen kann, dann werde ich nicht dafür bezahlen. Diese Freiheit und Gleichheit wird garantiert durch die Vereinigung in Brüderlichkeit im Nationalstaat, der – mit den legitimatorischen Weihen seiner Staatsbürger gesegnet – die Freiheit und Gleichheit (und somit den Tausch) rechtlich garantiert, was auch heißt, dass er Rechtsübertritte ahndet. Dazu darf er nicht nur – als einziger – Gewalt einsetzen (Stichwort Gewaltmonopol), mehr noch: er definiert überhaupt erst was Gewalt ist.

Es ist mittlerweile unter kritischen Historikern nicht unüblich, sich die Entstehung von Staatlichkeit als das Agieren einer Mafiabande vorzustellen und es ist auch für unsere Belange hilfreich, sich den Prozess der ursprünglichen Zentralisation7 – die Entstehung einer Staatlichkeit – unter Berücksichtigung dieses Bildes zu vergegenwärtigen. Betrachten wir also exemplarisch Feudalherren, deren herrschaftliche Sitze nur unweit von einander entfernt liegen und die sich im permanenten Zwist um die zwischen ihnen befindlichen Ländereien befinden. Je länger der Zwist andauert, desto mehr Geld – welches sie von den Bauern, die ihre Ländereien bewirtschaften erhalten – brauchen beide, um ihr Söldnerheer finanzieren zu können. In gewisser Weise besteuern sie die Bauern, damit das funktioniert, müssen sie wiederum alle Gewalt – außer die eigene – von den Bauern fern halten, kurzum: sie verlangen Schutzgeld. Zum Eintreiben dieses Schutzgeldes benötigen sie Bürokraten, zur Aufrechterhaltung des Schutzes benötigen sie ein permanentes und stehendes Heer und so weiter. Langfristig setzt sich einer der beiden durch – oder sie kooperieren, das Gebiet vergrößert sich und damit notwendigerweise der Staatsapparat und das stehende Heer. Am Ende entsteht aus diversen ehemaligen Provinzen ein vereinigtes Königreich.

Das ist die – stark vereinfacht dargestellte – feudale Form von Staatlichkeit, in der die Herrschaft noch unmittelbar durch Gewalt ausgeübt wird und in der die Reichtümer vor allem den Gelüsten der Herrscher dienen. In der Epoche des Merkantilismus gewinnt das kaufmännische Bürgertum immer mehr ökonomische Macht, durch die sie Kompromisse mit der Feudalherrschaft eingehen und Privilegien erlangen können.8 Marx spricht davon, dass die Feudalherrschaft ihre eigenen Totengräber hervorbringt und verweist auf den Moment, in dem sich das Bürgertum gegen die Feudalherrschaft auflehnt und mit der Parole Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit sich die Welt nach ihren – auf Tausch basierenden – Vorstellungen einrichtet. Dabei wird jedoch nicht gänzlich mit der Herrschaft des Feudalismus gebrochen und Gewalt nicht einfach durch Recht ersetzt, wie es Liberale bis heute behaupten. Die Herrschaft wird durch das Recht vermittelt und Gewalt wird zur ersten Bedingung und letzten Garantie des Rechts.

Wie alle Waren durch den Wert aufeinander bezogen sind, so sind es die Menschen – die einzig als Träger der Ware Arbeitskraft relevant sind – im Recht durch den Souverän aufeinander. Denn nur, wer über seine Ware Arbeitskraft verfügt, kann diese zu Markte tragen. Erst als Staatsbürger sind sie rechtliche geschützte Subjekte.9 Dieses Rechtssubjekt ist das Ideal des allgemeinen Menschen, der von allen empirischen Besonderheiten und natürlichen Beschränkungen abstrahiert wird. Das heißt, dass der abstrakte Begriff des Menschen dem konkreten Menschen gegenübersteht. Verkörperung dieses abstrakten Bildes vom Menschen ist der Souverän,10 der mit seinem Gewaltmonopol diesen Zustand des Rechts erst ermöglichen kann.

Zwei Sachen, die an dieser Stelle leider ausfallen müssen, aber von Relevanz sind: Erstens muss erwähnt werden, dass der Staat nicht allein existiert, sondern im permanenten Kriegszustand gegenüber anderen Staaten, die – trotz temporärer Kollaboration – in einem Konkurrenzverhältnis zu einander stehen. Zweitens muss angemerkt werden, dass in der Idee der Nation Staat und Souveränität ideologisiert – gewissermaßen erfahrbar gemacht – werden, in dem der bloßen Abstraktion ein mythisches Leben eingehaucht wird. Der erste Weltkrieg ist – wie nicht zuletzt Rosa Luxemburg analysierte – die ebenso brutale wie logische Konsequenz von Staatlichkeit.

Die Subjekte I:

Dass die Waren sich nicht selbst zu Markte tragen können, wie Marx anmerkte, heißt – wenn man an die weiter oben angeschnittene Zentralität der Warenform für die gesamte Vergesellschaftung denkt –, dass der Mensch für Marx das Subjekt der Geschichte ist und bleibt. Das heißt, dass das automatische Subjekt seine Existenz allein der Handlung von nicht-automatischen, ergo menschlichen, Subjekten verdankt; dass die Realabstraktion Staat nur vermittels Subjekten – seien sie Polizisten, Politiker oder Soldaten – erscheinen kann. Wenn Marx allerdings sagt, dass sich die Geschichte scheinbar hinter dem Rücken der Subjekte vollziehen würde,11 spricht er damit das – schon vorher erwähnte – notwendig falsche Bewusstsein der Subjekte an. Er erklärt, dass sie – ohne es zu merken – zu Charaktermasken12 werden und attestiert ihnen einen fetischisierten Alltagsglauben.

Ihre Fetische:

Der Begriff des Fetischcharakters der bürgerlichen Gesellschaft wird von Marx im ersten Band des Kapitals entwickelt. Als solcher ist der aus der aufgeklärten und bürgerlichen Religionswissenschaft stammende Begriff13 zu tiefst polemisch. Als Fetisch gilt der Glaube von sogenannten primitiven Religionen, die in einem Gegenstand – zum Beispiel in einem bunt angemalten Stück Holz – magische Fähigkeiten behaupten. Im Bewusstsein des Verhältnisses von Mythos und Aufklärung, über das Adorno und Horkheimer später ein ganzes Buch14 schreiben sollten, attestiert Marx der aufgeklärten Gesellschaft des Bürgertums einen Okkultismus, der dem der primitiven Völker in Nichts nachsteht. Ein Wuppertaler Foucaultianer brachte diese aufgeklärte Form des mythischen Glaubens auf ein Bild, dessen Tragweite er mit seiner Ablehnung einer negativen Dialektik15 eventuell selbst nicht verstehen kann: „Und wie der erste Mensch vor Blitz und Donner stand, steht der moderne Mensch vorm Kontostand und bangt um seine Existenz. Ängstlich wie er immer war, murmelt er Beschwörungsformeln. Der Glaube ging, die schnöden Sorgen um das Übermorgen blieben.“16

Ohne allzu genau auf die einzelnen Fetische eingehen zu können, seien die für unsere Beobachtungen Wichtigsten an dieser Stelle noch einmal kurz angerissen. Als Warenfetisch versteht Marx die okkulte Annahme, dass jeder Gegenstand schon qua Natur eine Ware sei und damit ein Wert in ihm – also zum Beispiel in einem Tisch – selbst enthalten und nicht erst Ergebnis des gesellschaftlichen Tauschverhältnisses sei. Diese Fetischisierung ist gleichbedeutend mit einer Enthistorisierung des Kapitalverhältnisses, das nicht mehr als bestimmte aktuelle Form von Vergesellschaftung erscheint, sondern als stets allgegenwärtige: Wenn alle Dinge immer Waren mit Wert sind, dann ist das sie umgebende Verhältnis immer das Tauschverhältnis. Analog dazu der Staatsfetisch und der Rechtsfetisch, die einen Menschen qua Natur als Rechtssubjekt sehen (Stichwort: Menschenrechte oder Naturrechte) und somit die gesellschaftlichen Verhältnisse, die diesen Zustand erst hervorbringen, zu einer zweiten Natur werden lassen.17

Die Subjekte II:

In der von Staat, Kapital und ihren Fetischen bestimmten, bürgerlichen Gesellschaft kann der konkrete empirische Mensch – sofern er das Glück hat, ein Staatsbürger zu sein und nicht ohne Papiere im Mittelmeer ertrinken muss – nur in der Subjektform überleben.18 In dieser ist die Individualität zum Accessoire der Persönlichkeit degradiert.19 Sein Denken ist in die Warenform gebannt, die „erkenntnistheoretisch von der Philosophie und triebökonomisch von der Psychologie verdoppelt und rationalisiert wird.“20 Das Individuum steht also nicht im von Soziologie und Feuileton behaupteten Gegensatz zur Gesellschaft, sondern die Gesellschaft hat sich ins Innerste des Individuums eingebrannt. Zum Subjekt wird das Individuum, wenn es in der Lage ist, sich selbst als Eigentümer der Ware Arbeitskraft zu denken, seine eigenen Triebe so zu beherrschen, um zur gesellschaftlichen Produktion beitragen zu können – letzteres hat allerdings mehr mit Glück als Verstand zu tun.21 Kurzum: Subjektform, das heißt – nach einem Worte von Joachim Bruhn – „Kapital verwertend und Staatsloyal“22 zu sein, sprich: „Subjektform ist die Uniform“.23

Das Subjekt ist, wovon es in seinem fetischisierten Bewusstsein nur eine Ahnung (als Existenzangst) entwickeln kann, vollauf prekär. Permanent droht die eigene Wertlosigkeit und damit der Verlust der Subjektivität: „Derart ist das bürgerliche Subjekt verfasst, dass es Identität nicht aus sich selbst erzeugen kann, sondern nur im Prozess einer ständigen Abgrenzung, eines permanenten Zweifrontenkrieges gegen das ‚unwerte‘ und gegen das ‚überwertige‘ Leben. Bürgerliche Subjektivität existiert nur in der vollkommenen Leere der permanenten Vermittlung, die sie zwischen den Waren, im Tausch, und um den Preis der ihr andernfalls drohenden Annihilation zu stiften hat.“24 Die erste Front ist eine Abspaltung und Projektion, der eigenen – sich der Verwertung und Verrechtlichung entziehenden – triebhaften Naturbeschaffenheit, auf einen rassifizierten Menschen beziehungsweise Gruppe von Menschen, dem beziehungsweise denen man den Subjektstatus verweigern muss, um sich selbst als Subjekt wähnen zu können.25 Die Ambivalenzen zwischen Romantisierung der edlen Wilden und dem Streben nach ihrer totaler Beherrschung folgen der dialektischen Logik des Wertes.

Antisemitismus und Antizionismus:

In der zweiten Front werden pathisch die eigenen Sehnsüchte auf die „Gegenrasse als solche“ projiziert. Er ist das mörderische Streben des Bürgertums sich selbst zu rassifizieren, die eigene Subjektivität durch Aneignung des angeblich geheimen Wissens der Juden zu erlangen. Diese Abspaltung findet allerdings zweifach statt: ökonomisch im Antisemitismus und politisch im Antizionismus – das Eine bedingt das Andere so sehr, wie sich Staat und Kapital gegenseitig bedingen.

Dem Antisemiten erscheint das Kapitalverhältnis als Gegenüberstellung von Produktions- und Zirkulationssphäre, wobei die Produktion als „schaffend“ und die Zirkulation als „raffend“ gedacht werden. Dass die Warenproduktion nicht nur ohne die Zirkulation – also den Kauf- und Verkauf von Waren zum Zweck des Profites – nicht kann, sondern selbst bereits die Zirkulation – den Kauf der Produktionsmittel, ihre Aufwertung durch die gekaufte Ware Arbeitskraft und ihren Weiterverkauf – in sich enthält, kann das fetischisierte Bewusstsein, dass die Wertsteigerung auf magische Weise im Gegenstand selbst vermutet, nicht begreifen. Die Trennung und die Abspaltung stabilisiert das System, ist es doch so möglich, die Produktivität des Kapitalverhältnisses gegen seine ihm innewohnende Destruktivität auszuspielen. In Krisenzeiten der Verwertung erfüllt das Pogrom die Funktion des ritualisierten Opfers an die Gottheit des automatischen Subjekts – von der triebökonomischen Funktion ganz zu schweigen. Der Antizionist wiederum trennt die sich gegenseitig Bedingenden Recht und Gewalt, während er letzteres dem vermeintlich künstlich gesetzten jüdischen Staat zuschlägt, um den eigenen Staat als natürlich gewachsene Entität des Rechts halluzinieren zu können. Die Funktion ist in gewissem Maße analog zum Antisemitismus. Die Fetischisierung des Rechts verdrängt die Gewalt, deren Existenz jedoch unwiderlegbar ist, die einem anderen Subjekt mit finsteren Absichten zugeschoben werden muss.

Bei beiden ist der Neid auf das vermeintlich geheime Wissen der Juden und ihrem Staat nicht von der Hand zu weisen, ist das ihnen Unterstellte doch das eigene Verlangen: Verwertung und Herrschaft. Antisemitismus und Antizionismus sind die negative Ökonomie- und Staatskritik in den Formen des fetischisierten Bewusstseins. Beide sind somit gerade nicht Ausdruck einer Archaik oder Feudalität – im Falle des Irans Beleg seines irgendwie vormodernen Daseins – sondern im Gegenteil Ausdruck der bürgerlichen Moderne. Weder Bildungsarbeit noch Politik können irgendetwas gegen sie ausrichten, sind sie doch keine Unwissenheit, sondern logische Konsequenz der bürgerlichen Subjektivität, auf der jede Vorstellung von Politik notwendigerweise beruht.

Eine Kritik an Staat und Kapital, die ihren negativen und fetischisierten Konterpart nicht wahrnimmt, scheitert am eigenen Anspruch. Die Solidarität mit dem Staat Israel, als einzig möglicher Antwort auf den antisemitischen Vernichtungswahn der verstaatlichten Subjekte, steht somit nicht in Widerspruch zur Kritik an Staatlichkeit, sondern ist deren Bedingung. Wenn an den Juden die Übel der Moderne ausagiert werden sollen, dann ist es schlicht und ergreifend fahrlässig und konterrevolutionär, ihnen die Selbstverteidigung – in der einzig ihnen zu Verfügung stehenden Form des Staates – abzusprechen. Wenn der Kommunismus die Befreiung der Menschheit sein soll, dann kann diese nicht mit dem Preis des stets drohenden antisemitischen Mordes errichtet werden.

Dieses deutsche Scheiszland:

Folgt man dem bisher Dargelegten zustimmend, dann bleibt den lesenden Individuen nichts anderes übrig, als sich als antinational, israelsolidarisch und kommunistisch zu verstehen. Das heißt – um es herunter zu brechen – sich kritisch gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft und all der gescheiterten linken Versuche, diese zu überwinden, zu verhalten und darauf zu pochen, dass die staatenlose nicht ohne die klassenlose und die klassenlose nicht ohne die staatenlose Gesellschaft zu machen ist und dass Staat und Kapital sich nicht auf einzelne Personen herunter brechen lassen, sondern ihre Macht als Realabstraktion aus dem notwendigen und falschen Bewusstsein der gesamten Gesellschaft ziehen.26 So radikal diese Haltung – würde sie in letzter Konsequenz durchgezogen – auch gegenüber der gegenwärtigen Linken wäre, so sehr lässt sie doch außer Acht, dass die Lügen von Staat und Kapital beinahe auf mörderische Weise wahr gemacht worden wären und es, neben diversen von den Opfern des Nationalsozialismus gebildeten bewaffneten Widerstandsgruppen, allen voran den Staaten der Sowjetunion, der Vereinigten Staaten von Amerika und des Vereinigten Königreichs zu verdanken ist, dass dem nicht geschah. Ebenso wird außer Acht gelassen, dass dieses Unterfangen nicht zufällig von einem bestimmten Staat ausging: Deutschland.

Richard Wagners affirmative Emphase, dass es deutsch sei, eine Sache um ihrer selbst Willen zu tun, bekommt ihre historische Wahrheit in der antisemitischen Vernichtung um der Vernichtung Willen. Ihren materialistischen Gehalt erhält sie durch den Verweis auf Adornos Rede, dass ein Deutscher jemand sei, der keine Lüge aussprechen könne, ohne sie selbst zu glauben.27 Das heißt – in aller Kürze –, dass die Unwahrheiten der bürgerlichen Gesellschaft im Nationalsozialismus auf brutalste Art und Weise beinahe wahr gemacht worden wären, wie die bloß über den Wert vermittelte vermeintliche Egalität der Klassengesellschaft zur Auflösung des Klassenwiderspruchs in der Egalität des Mordkollektivs wurde; wie der Traum von der krisenfreien Ökonomie in der kriegerischen Konsumgemeinschaft realisiert werden sollte.28 Das Erbe dieser Gemeinschaft lebt fort im postnazistischen Sozialpakt, in der Unterstützung antisemitischer Mörderbanden, dem Aufschwingen zur moralischen Weltmacht und in der stetigen Möglichkeit, sich im Angesicht der Krise erneut auf die altvertraute – beinahe erfolgreiche – Krisenlösung zu besinnen.

Auf diesen Unterschied zwischen den Staaten – und Deutschland ist in diesem ideologiekritischen Sinne nicht der einzige, aber der erste deutsche Staat – zu bestehen, heißt sich der Bedingung der Möglichkeit der eigenen Kritik bewusst zu sein.29 Gerhard Scheit fasste treffend zusammen, dass Staat und Kapital zwar die Bedingungen der Möglichkeit der Katastrophe seien, aber selbst noch nicht die Katastrophe. Anders als es aktuell häufig versucht wird, lässt sich das Antideutsche nicht gegen das Kommunistische ausspielen, denn das Bejahen der bürgerlichen Gesellschaft ist die Akzeptanz der Bedingung der Möglichkeit ihres eigenen Umschlags in Barbarei; denn das Beharren auf kommunistischen Idealen und Prinzipien im Angesichts der mörderischen Vernichtungsdrohung staatsgewordener deutscher Ideologie ist schlicht und ergreifend zynisch. Um es in eine Parole zu fassen: Nieder mit Deutschland heißt Solidarität mit Israel und für den Kommunismus.

Die Subjekte III:

Alles was bisher über Subjektivität gesagt wurde, gilt natürlich auch für den deutschen Staat, der nur durch seine Staatsbürger überhaupt sein kann und der sich eben nicht bloß durch Wirtschaftsbosse und Politfunktionäre ausdrückt, sondern in dem jeder einzelne Staatsbürger in eine entsprechende Charaktermaske schlüpft. Das Ausspielen der klassenbewussten Antifa gegen die rassistischen Funktionäre von Staat und Kapital verkennt die gerade in Deutschland (gern) praktizierte Verbindung von Mob und Elite. Verkennt, dass der arbeitslose Faschist in Ostdeutschland mit den Sarrazins, Höckes und den Mitgliedern des Wirtschaftsclubs Havanna in Bremen in einem Verhältnis steht; dass sich die Subjektivität der ersten in Abschiebungen und Bevölkerungspolitik äußern kann, während letztere zum verzweifelten Versuch der Festigung ihrer bürgerlichen Subjektform – und das hat Joachim Bruhn im Fall eines Mörders von Solingen bereits auf dem Konkret Kongress 1993 deutlich dargelegt – einzig und allein der rassistische Mord bleibt.30 Die von buchgläubigen Kommunisten erstrebte Emanzipation der Deutschen zu Menschen, betrifft jeden Staatsbürger auf unterschiedliche Weise, aber doch gleichermaßen. Um eine Parole vom 10ten Dezember aufzugreifen: die Grenze verläuft weder zwischen den Kulturen, noch zwischen klassenbewusster Antifa und Wirtschaftsclub, sie verläuft durch die entfremdeten Subjekte hindurch.31

Dies festzustellen ist nicht gleichbedeutend mit einer Verdrängung der berechtigten Wut auf die Charaktermasken der politischen und ökonomischen Macht oder einer Predigt für den Verzicht auf nonverbale Kommunikation mit autoritären Dreckssäcken – notfalls auch vermittelt über deren Eigentum. Vielmehr ist dies festzustellen, um die Gemeinsamkeiten der rassistischen Formierung im Bewusstsein zu behalten, ohne dabei die einen zum bloßen Fußvolk der Anderen zu machen. Deutscher – und das heißt manifester Antisemit und Rassist – zu sein, ist eine Entscheidung, für die jeder im sartre‘schen Sinne zur Verantwortung zu ziehen ist.

Und ebenso sind Linke zur Verantwortung zu ziehen, die sich nicht in allerletzter Radikalität in eine Fundementalopposition zu diesem widerwärtigen Drecksland begeben und sich ausgerechnet an der Fahne Israels stören. Das Gegenteil von gut ist in der Welt von Kapital, Staat und ihren Fetischen leider, leider, leider gut gemeint.

XOXO,
Solarium – kommunistische Gruppe Bremen.

post scriptum: Zum konkreten Inhalt dieses Textes sind Diskussionsveranstaltungen geplant, außerdem werden wir in den nächsten Monaten versuchen Vorträge zu organisieren, die den im Text artikulierten Ansprüchen an eine Gesellschaftskritik Folge leisten möchten. Dazu bei Zeiten mehr.

1Unser entsprechendes Flugblatt: https://antideutschorg.wordpress.com/2019/12/11/der-staat-bist-du-charaktermasken-abschminken/
2Das zeichnet eine Theorie im strengen Sinne aus, dagegen zielte der Begriff der kritischen Theorie von Max Horkheimer.
3Das hat Marx in seiner Auseinandersetzung mit den ökonomischen Theorien von Adam Smith und David Riccardo erkannt, weswegen er ihnen eben keine alternative ökonomische Theorie entgegen stellte, sondern eine Kritik der politischen Ökonomie.
4Oder auch kantisch: als transzendental Subjekt auf den alle Vernunft bezogen ist.
5Die gesamte Geschichte der Ökonomie als Wissenschaft ist der Streit zwischen der objektiven Wertlehre und der subjektiven Wertlehre, die beide ständig gegeneinander Recht haben und sich doch irren.
6Der Ehrendoktor der Universität Bremen, Alfred Sohn-Rethel, geht dabei so weit , dass er die gesamte Philosophie des Abendlandes seit der Antike als eine versuchte Theoretisierung dieses Geldrätsels versteht – aber dazu bei einer von uns bald geschaffenen Gelegenheit mehr.
7Die notwendig in einem Verhältnis zu der von Marx dargelegten ursprünglichen Akkumulation steht.
8Die Geschichte der Bürgerrrechte der Hansestadt Bremen ist ein Beispiel für die historische Manifestation dieser logisch dargestellten Entwicklung. Wobei selbstverständlich die Komplexität keiner Geschichte – weder die Bremens noch die des britischen Königreiches – nahtlos in dieser linearen Logik aufgeht.
9Die Dialektik einer Aufklärung, die sich in ihr Gegenteil umkehrt, zeigt sich auch im Kolonialismus, durch den als rechts- und staatenlos wahrgenommene Individuen auf brutalste und unmittelbarste Weise ausgebeutet wurden. Der Reiz der nationalen Befreiungsbewegungen für diese Individuen, ob sie sich nun liberal oder sozialistisch artikulierten, liegt in der Verrechtlichung der eigenen Existenz und dem Schutz vor gänzlich irrationaler Willkür.
(Exkurs: Was dieses Moment angeht, so ist nicht nur die Geschichte Vietnams und Kubas, sondern auch die Entwicklung des Realsozialismus im sowjetischen Einflussbereich ein Zeugnis davon, dass der Realsozialismus ein bürgerliches Verstaatlichungsprojekt war, dass sich lediglich im Inhalt – Sozialstaat und Arbeitszwang – von westlichen Nationalstaaten unterschied.)
10Man darf Souverän hier nicht mit den demokratischen Gestalten verwechseln, die temporär in dessen Charaktermaske hineinschlüpfen (und somit selbst auf ein Idealbild von Herrscher bezogen werden). Besonders deutlich wird die Funktion des Souveräns als Verkörperung (der hobbesche Leviathan) dort, wo Person und Funktion zusammengewachsen sind, wie im britischen Königshaus. Die gesamte Fernsehserie the Crown gibt Auskunft darüber, wie wenig Individualität den zur bloßen Charaktermasken degradierten Mitgliedern der Königsfamilie eingestanden werden darf, damit sie ihre Funktion als Idealtyp des Menschen an sich ausüben können. Überhaupt kann in einer Auseinandersetzung mit der britischen Geschichte und den Ritualen der gegenwärtigen Politik viel von einer Souveränität als zu erfüllende Rolle gelernt werden, was in Deutschland im Traum vom Führer und der Projektion auf den amerikanischen Präsidenten verdrängt wird.
11Adorno spricht hier von Ohnmacht.
12Bloßen Funktionsträgern des automatischen Subjekts, hinter denen sich ein empirisches Individuum befindet, dass von sich selbst abstrahieren muss, um funktionieren zu können.
13Wie Marx sehr oft auf Begriffe aus der Theologie und Religionswissenschaft zurückgreift, wenn er versucht die Widersinnigkeit des Kapitals zu fassen.
14Die Dialektik der Aufklärung.
15Wie dieser selbst sagt: „Ich zitier‘ Adorno, doch ich denk nicht dran ihn ernst zu nehmen.“
16Prezident – Menschenpyramiden
17Weil es nicht oft genug gesagt werden kann: eine Linke, die sich auf das Völkerrecht oder die Menschenrechte beruft, ist eine Linke, die in den Formen von Staat und Kapital denkt und damit eine Linke, die ihren einzigen Zweck – die Errichtung der befreiten Gesellschaft – verwirkt hat und damit auf den Müllhaufen (oder Ablagestapel) der Geschichte entsorgt werden kann.
18Der soziale Tod der Subjektlosigkeit ist dabei miteingeschlossen.
19Für alle Kapitalesekreisabsolventen: Das Subjekt verhält sich zum Individuum, wie der Tauschwert zum Gebrauchswert.
20Bruhn, Joachim: „Typisch deutsch“ – Christian R. und der linke Antirassismus, in: Was deutsch ist,Seite 162.
21Der arbeitslose Alkoholiker kann als Deutschrapper über Nacht zum Subjekt werden.
22Bruhn, Joachim: Videomitschnitt vom Konkret Kongress 1993.
23Bruhn, Joachim: Subjektform ist Uniform, auf: https://www.ca-ira.net/verein/positionen-und-texte/bruhn-subjektform-uniform/
24Bruhn, Joachim: Unmesch und Übermensch, in: Was deutsch ist, Seite 96.
25Die vorkoloniale Rassifizierung der britischen Landbevölkerung, die als doppelt freie (frei von besitzt werden und frei von eigenem Besitz) Proletarier zu den Fabriken in die Städte strömte (siehe Malik, Keenan: Multiculturalism and its Discontents) sind ein Beispiel, das diesen materialistischen Begriff von Rassismus gegenüber postmodernen Identitätstheorien deutlich unterscheidet. Aber auch der koloniale Rassismus kann nur im begrifflich hergestellten Bezug der Subjektivität auf Staat und Kapital überhaupt als etwas anderes als bloße Willkür erscheinen.
26Kurzum: sich dem angeblichen Widerspruch zwischen Anarchismus und Marxismus gänzlich zu entziehen.
27Erwähnt sei hier noch Friedrich Engels, der dem deutschen Bürgertum vorwarf, die Mittel – wie den Staat oder den Antisemitismus – der Kapitalakkumulation zum heiligsten Zweck zu verklären.
28Dazu siehe bitte: Scheit, Gerhard: die Meister der Krise.
29Siehe dazu: Redaktion antideutsch.org: Verteidigung der falschen Freiheit, auf: https://antideutschorg.wordpress.com/2019/01/06/verteidigung-der-falschen-freiheit-/ & derselbe: Kann es einen Materialismus geben, der nicht antideutsch ist?, auf: https://antideutschorg.wordpress.com/2018/11/05/wertarbeit/
30Bruhn, Joachim: „Typisch deutsch“ – Christian R. und der linke Antirassismus, in: Was deutsch ist.
31Die Subjekte, die zugleich Individuum wie Charaktermaske sind, sind in sich selbst gespalten.

Kann es einen Materialismus geben, der nicht antideutsch ist?

Der folgenden Text ist der erste einer Reihe, die versucht Erfahrungen und Debatten wieder aufzubereiten, die von der Redaktion als zentral für die Entwicklung einer eigenständigen antideutschen Kritik gesehen werden. Dabei können wir nicht beanspruchen eine fertige Definition dieser Form der Kritik vorzulegen, stattdessen wollen wir in erster Linie zur (erneuten) Auseinandersetzung mit ihr und ihrer Entstehungsgeschichte anregen.1 Den Anfang bildet die Aufbereitung und Kontextualisierung einer Debatte, die 2002 auf und um den Kongress antideutsche Wertarbeit2 zwische Ulrich Enderwitz und Gerhard Scheit geführt wurde und sich mit der Frage befasst:

Kann es einen Materialismus geben, der nicht antideutsch ist?“ 

Der Antideutsche ist sich seiner selbst als Kommunist so sicher, daß es ihm egal ist, ob ihm Linke ein Paktieren mit dem Klassenfeind vorwerfen, wenn er den Krieg der USA gegen den Irak im besonderen und gegen den islamfaschistischen Terror im allgemeinen aus sehr triftigen, weil antideutschen Gründen begrüßt und würdigt (und kritisiert, wenn dieser nicht entschieden genug geführt wird). Er tut dies schließlich auch aus ureigenstem Interesse, denn er weiß, wie übrigens jeder Linke auch – nur gibt der das nie offen zu –, daß sein Überleben als Kritiker und Kommunist davon abhängt, daß die Deutsche Ideologie und deren Praxis nicht doch noch über die liberale den Sieg davon trägt.

Manfred Dahlmann3

Die intellektuelle Frechheit dieser jüngsten Zivilisationskrieger und Kreuzritter des Abendlands geht so weit, daß sie ihre bedingungslose Kapitulation vor der herrschenden Ordnung als besondere dialektische Raffinesse verkaufen wollen. Indem sie die dümmsten Hühner des restlichen autonomen und Antifa-Spektrums zu ideologischen Kindersoldaten der NATO umschulen, machen sie sich verdient um das weltdemokratische Imperium, möchten aber gerade diese Arbeit an der Affirmation als „antideutsche Wertarbeit“ zur einzig wahren Wertkritik adeln, deren Begriff sie damit besudeln. In ihrer Orwellschen Sprache ist es geradezu der Gipfel der Radikalität, US-Kampfbomber aufklärungs-frömmlerisch zu segnen. Mit dieser Rabulistik können sie allerdings nur eine Handvoll hinterwäldlerische, theoretisch ungebildete Desorientierte blenden, die mangels eigenständiger Denkfähigkeit auf der Suche nach Identität und Distinktion um jeden Preis sind.

Robert Kurz4

I – das Streitgespräch:

Eingangs eine Klarstellung: wir sehen es als die Aufgabe positivistischer Historiker, offen zu legen, was wirklich geschah. Wann wer sich mit welcher Anmerkung zu Wort gemeldet hat und wer daraufhin was erwidert haben soll. Der folgende Beitrag möchte stattdessen einen Teil des historischen Materials in einer Weise darlegen, die es den Lesenden ermöglicht, verschiedenen Aspekte der Fragestellung nachzuvollziehen und so einen Beitrag zur Kritik ohne Jargon, Szenecodes und politischen Abwägungen leisten.

Direkt zu Beginn des Streitgespräches möchte Ulrich Enderwitz klarstellen, dass sein Buch Volksstaat und Antisemitismus5 für ihn persönlich nicht seine wichtigste Veröffentlichung darstellt. Für den Rahmen des Streitgespräches muss es allerdings als zentral erachtet werden. Dort demonstriert er, Joachim Bruhn zu Folge „daß der blinde Fleck der marxistischen Theorie in Sachen Antisemitismus unmittelbar ihren Halluzinationen vom »sozialistischen« oder gar »proletarischen Staat« geschuldet ist: Keine revolutionäre Praxis wird dem Antisemitismus gerecht werden können, die nicht Kapital- und Staatskritik in einem wäre und so der Intention der Kritik der politischen Ökonomie entspräche.“6

Hier spitzt Enderwitz die Analysen von Heinz Langerhans zu, indem er den Antisemitismus als Bedingung der Möglichkeit, für die von Langerhans beobachtete soziale Pazifizierung, erachtet. Letzterer beschrieb, 1934 in nationalsozialistischer Haft auf Zigarettenpapier, wie aus dem „automatischen Subjekt Kapital mit dem Garanten Staat als besonderem Organ“7 nun das „einheitliche Staatssubjekt Kapital geworden“8 sei. Dies gehe mit einer „rücksichtslose[n] soziale[n] Pazifierungsaktion mit dem Zweck der »organischen« Einfügung des Kapitalteils Lohnarbeit in den neuen Staat“9 einher. Durch den Antisemitismus trete, laut Enderwitz, „an die Stelle der Wirklichkeit, auf die er mit seinen Urteilen primär reagiert, eine Ersatz- und Alibirealität“,10 durch welche das vermeintlich revolutionäre Subjekt das Objekt seiner Frustration wechselt: Antisemitismus anstatt Kritik am Kapitalverhältnis.

Im Programm des Kongress beharrt er darauf, dass diese von ihm untersuchte nationalsozialistische Vergesellschaftung „eine logische oder jedenfalls krisen- beziehungsweise notstandslogische Konsequenz des repräsentativ-demokratischen Kapitalismus ist“11 und nur „als eine durch die besonderen Umstände Deutschlands begünstigte frühe Ausbildung oder Vorform einer der kapitalistischen Entwicklung insgesamt eingeschriebenen Rezeptur gelten kann“.12 Er sieht somit keine qualitativen Unterschiede „zwischen liberalistisch operierendem und nationalsozialistisch organisiertem Kapital, zwischen oligarchischer Demokratie und Faschismus, zwischen Angelsachsen und Teutonen“.13

Im Gegensatz zu seinem Diskussionspartner, Gerhard Scheit. In seinem bereits 2001 veröffentlichten Buch die Meister der Krise14 zieht dieser aus den enderwitzschen Analysen eine Konsequenz, zu der letzrere nicht bereit ist. Er hebt das explizit deutsche am deutschen Volksstaat hervor. Er erarbeitet dabei einen Begriff vom deutschen Volk als ein Staatsvolk, das in einer speziellen historischen Konstellation zu einer besonderen Nation fetischisiert wurde und dabei eine bestimmte Form des notwendigen falschen Bewusstseins hervorbrachte: die deutsche Ideologie.

An der Grenze zwischen dem Westen, wo die sogenannte ursprüngliche Akkumulation – von absolutistischem Staat und Kolonialsystem flankiert – in eine ausgeprägte bürgerliche Gesellschaft münden konnte, und dem Osten, wo der militärisch von außen wirksame Druck dieser Akkumulation den Aufbau von Staatsmaschinen ohne entsprechende ökonomische und koloniale Grundlage erzwang, hier in der Mitte entstand so etwas wie ein Konzentrat des Ganzen, ein Mikrokosmos der kapitalisierten Welt, in dem sich die moderne Barbarei des Westens mit der vormodernen des Ostens verbunden hat.“15

Die Nähe zu den Erkenntnissen in Volksstaat und Antisemitismus werden dabei während der Diskussion mehrmals betont. Deren Stärke liegt in der Verknüpfung von staatskritischen Untersuchungen im Geiste eines Langerhans mit der Kritik des Antisemitismus der kritischen Theorie.16 Was Adorno, Horkheimer und auch Enderwitz jedoch, trotz aller richtiger Einsicht über die Harmonisierung der Gesellschaft durch Antisemitismus, nicht zu sehen bereit waren:

Nirgendwo aber – und vor dieser Erkenntnis schreckten Horkheimer und Adorno wirklich zurück – stellte sich diese Harmonie so automatisch her wie im Dritten Reich. Hier identifizierte sich die Bevölkerung nahtlos mit dem Staatssubjekt Kapital, hier praktizierte man bis zum Äußersten die Versöhnung von Kapital und Arbeit. Diese Identifikation aber war nur möglich, weil das Real-Abstrakte, das die Individuen stets auf den Warencharakter ihrer Arbeitskraft zurückwarf, der Wert, der bei aller Verstaatlichung von Kaufkraft und individueller Reproduktion, bei aller ‚Kraft durch Freude‘ und Arbeitsdienst-Laune nach wie vor seinen Tribut verlangte, – weil dieses Real-Abstrakte des Werts in Gestalt des Judentums personifiziert und das wirkliche Judentum als Personifizierung des Abstrakten von Staats wegen nicht nur verbannt, sondern vernichtet wurde. So ‚konkretisierte’ sich die deutsche Volksgemeinschaft des Dritten Reichs. Ohne das totale Feindbild der ‚Weltverschwörung des Judentums‘, das – in den Vernichtungslagern in die Tat umgesetzt – die Volksgemeinschaft bis zuletzt zusammenschweißen konnte, wäre dieser Krieg nicht zum ‚totalen Krieg‘ geworden, nicht bis zur letzten Konsequenz vom Dritten Reich führbar gewesen. Die Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung der Juden war es, die jener Identität der Deutschen mit ihrem Staat zugrunde lag und sie bis zuletzt – und darüber hinaus – garantierte.17

Gegen diese Kritik an den deutschen Besonderheiten, die sich auf Erkenntnisse von Enderwitz beruft, wehrt dieser sich, denn die Kritik nationalstaatlicher Spezifika lasse sich nicht mit einer Kritik an Wert und Kapitalverhältnis vereinen. Er möchte bereits im Programm die möglichen Positionen vorweg nehmen, wenn er schreibt:

Entweder dieser deutsche Faschismus bleibt ein Sonderphänomen, seine ‚Implementation‘, wie man neudeutsch zu sagen pflegt, ein Sonderweg der Deutschen; dann muß man sich, um ihn zu verhindern, auf die Seite des ‚normalen‘, liberalistischen Kapitalismus als des herrschenden und den deutschen Sonderweg allein zu verbauen fähigen Allgemeinen schlagen. Oder dieser deutsche Faschismus ist – wie ja durch die These von der tendenziellen, wo nicht gar notwendigen Faschisierung des Kapitalismus nahgelegt wird – der maßgebende Wechsel auf das Schicksal des Kapitalismus ganz allgemein, der Vorgriff auf die Zukunft aller Gesellschaften, in denen kapitalistische Produktionsweise herrscht; dann hat man in vexierbildlicher Wiederaufnahme der Rede vom deutschen Wesen, an dem die Welt genesen wird, und des darin kodifizierten Größenwahns Deutschland zur schlechthin schicksalsträchtigen Nation, zum ‚Meister der Krise‘ oder besser gesagt zum ‚Tier der Apokalypse‘ erklären.“18

Dieser falschen Polarisierung zwischen Kritik am allgemeinen Kapitalverhältnis und besonderer deutscher Vergesellschaftung geht Scheit, ebenfalls in der Programmankündigung, bewusst aus dem Weg:

Der Wert ist immer und überall derselbe – mit sich selbst absolut identisch (Differenz ist allein quantitativ möglich); und er kann überhaupt nur als diese absolute Identität auf den Begriff gebracht werden. Der Staat entspricht zwar seinerseits solcher realen Abstraktion und ist insofern immer und überall der gleiche; untrennbar davon aber – also gerade in seiner Allgemeinheit – läßt er sich nur als ganz bestimmter begreifen, das heißt: im Zusammenhang, in dem er mit seinesgleichen steht und worin er sich unterscheidet. So ist es ein- und dasselbe Kapitalverhältnis, das überall in die Krise gerät, doch gerät es überall auf je verschiedene Weise in die Krise – und darüber entscheidet nicht zuletzt, welches Bewußtsein von Krise und Krisenbewältigung das Verhältnis zum Staat bestimmt und die Menschen zur Nation formiert.19

Wie in der Diskussion, aber auch im Laufe der weiteren Entwicklung des ISF und des ça ira-Verlages deutlich wird, verweigern sich Scheit und der ISF einer Dichotomie aus traditioneller linker Kapitalismuskritik und vermeintlich neokonservativer Kritik am deutschen Wesen und beantworten die Frage, ob es einen Materialismus geben könne der nicht antideutsch sei, mit einem klaren Nein. Diesen Widerspruch gegenüber Kommunisten, die von antideutscher Kritik nichts wissen und Antideutschen, die von kommunistischer Kritik nichts wissen wollen, wurde im Antideutscher Katechismus benannt:

Die Emanzipation des Deutschen ist die des Menschen, lehrte einst ein Kommunist und wir pflegen sehr buchstabengläubig zu sein, was unsere Klassiker angeht. Der Kraftaufwand, der nötig ist, um die Konterrevolution auf dem Boden der sie hervorbringenden Verkehrsformen zu stoppen, ist ähnlich dem zur Aneignung der großen Industrie. Deshalb muß Beides in Eins fallen. Wenn die USA solange das Schlimmste verhindern, gewährt uns das die dringend benötigte Zeit, unseren historische Auftrag wieder aufzunehmen und die klassen- und staatenlose Gesellschaft zu erkämpfen, bzw. das zuwege zu bringen, was Sie schüchtern und Hegelsch die Aufhebung der Warenform nennen.20

II – Ein Begriff, der schmerzt:

Eines der herausragendsten Mitglieder des ISF, der langjährige politische Wegbegleiter und im letzten Jahre verstorbener Freund Scheits, Manfred Dahlmann, bestimmte antideutsche Kritik im Bewusstsein oben dargelegter Debatten, als er schrieb:

Antideutsch denken und handeln heißt die politischen Vermittlungs- und Repräsentationsformen in Gesellschaft und Staat, die auf der Trennung von freien und gleichen Warenbesitzern einerseits und am Allgemeinwohl orientierten Staatsbürgern andererseits beruht, gegen die zu verteidigen, die diese Teilung zugunsten eines autoritären Volksstaates überwinden wollen, dessen Subjekte von nichts anderem als von seinen Wohlfahrtsleistungen abhängig sind. Wer in diesem Sinne das Etikett ‚antideutsch‘ nicht auch auf sich bezieht, mißachtet zumindest die Gefährlichkeit der – selbstredend nicht auf Deutschland und deutsche Staatsbürger beschränkte, sondern immer schon weltweit grassierende – Deutschen Ideologie, deren historischer Kern darin besteht, daß auf ihr Konto nicht nur ‚normale‘ kapitalbedingte Ausbeutung und Herrschaft, nicht nur die dem Kapital aus Prinzip immanenten Kriege und nicht nur der ihm in seinen Grund eingeschriebene Antisemitismus gehen, sondern fördert das Überleben einer Ideologie, der zudem noch die historisch und empirisch nicht zu leugnende Tatsache eingeschrieben ist, daß die deutsche Fassung der Beziehung von Staat und Gesellschaft die Auslöschung der Menschheit in zwei Weltkriegen im allgemeinen und den eliminatorischen Antisemitismus im besonderen beinahe total verwirklicht hätte.21

Die Konsequenz aus dieser Kritik der deutschen Ideologie ist nach dem 11. September 2001 (sofern deutsche Ideologie nicht geographisch essentialisiert werden soll), neben der selbstverständlichen Solidarität mit dem jüdischen Staat22 auch eine partielle Zustimmung der US-amerikanischen Politik. Als Antwort auf ein diesbezüglichen Komunique der ISF formulierte Enderwitz einen offenen Brief, aus dem einige Passagen sich in seiner Programmankündigung wiederfinden lassen. Der offene Brief ist Teil der Vorgeschichte des Streitgespräches.23 Dort kritisiert er die von der ISF formulierten Positionen zu Israel und den Vereinigten Staaten (und damit auch zum bürgerlichen Staat), deren Grundlage, die im Streitgespräch behandelte Frage nach den deutschen Besonderheiten ist. Allen voran an eine „Eloge auf den amerikanischen Kapitalismus, zu dem Ihr ansatzweise anhebt, auch wenn Ihr es schamhaft bei Andeutungen belasst“24 und die für ihn damit zusammenhängende Weigerung, den Islamismus als „ein ,Geschöpf’ der westlichen Zivilisation”25 zu sehen, das „die Gewalt und den Terror in anarchistisch entstellter Gestalt dorthin zurück“26 trägt, wo sie ihren Ursprung nahm.

Damit nimmt er eine Konkretisierung der abstrakten kapitalistischen Gewalt auf den geographischen und politischen Westen vor, anstatt (was Anspruch von Wert- und Staatskritik sein sollte) in jedem Staat eine Konkretisierung dieser Gewalt zu sehen und ihre jeweiligen Spezifika aufzuzeigen. Ihm ist es daher nicht möglich, die Erkenntnis der Unterschiede in den Spezifika der einzelnen Konkretisierungen zu betrachten. Jeder daraus folgende positive Bezug auf die (Kommunisten wenigstens ein Leben ermöglichende) bürgerliche Freiheit muss für ihn als „Eloge auf den amerikanischen Kapitalismus“ verstanden werden. Das eigentliche Anliegen antideutscher Kritik kann, dieser durch 68 aktualisierten Rezeption der Imperialismus-These folgend, nicht begriffen werden. Die ausführliche Antwort von Dahlmann auf Enderwitzens Brief versucht deshalb nicht nur, die aus dieser Rezeption folgende Kritik zurückzuweisen. Dahlmann muss „etwas tiefer in dieses deutsch-linke Denken eindringen“,27 um darzulegen, dass „die Absage an diese Tradition in meinen Augen sehr viel radikaler erfolgen muß, als das mir bei dir [Enderwitz] der Fall zu sein scheint.“28

In Reaktion auf diese greift Dahlmann nicht zur bloßen Gegen-Affirmation. Dies würde bedeuten, alles zu gutieren, was von den 68ern abgelehnt wurde:

Nicht einmal ein Antideutscher […] reinsten Wassers wird bestreiten, daß der Kampf der Studentenbewegungen in der westlichen Welt in den 60er- und 70er-Jahren gegen den Krieg der USA in Vietnam vollkommen berechtigt war und jede Unterstützung verdient hatte. Von heute aus zeigt sich jedoch, daß die damaligen Begründungen des Protestes alles andere als unschuldig zu nennen sind, sondern zum Großteil dermaßen völkisch, und damit hirnverbrannt deutsch daher kamen […] und in der Folge auch nie umfassend revidiert worden sind, daß man sich nicht zu wundern braucht, wenn diese Begründungen – etwa was die Reaktion der USA auf den Anschlag auf das WTC betrifft –, umstandslos weiterhin in der Linken vorgebracht werden und sie das unausgesprochene Paradigma der Linken in Deutschland abgeben, sobald diese sich anschickt, das zu kritisieren, was sie für Kapitalismus, Imperialismus, Unterdrückung überhaupt, hält.29

Das Festhalten an der Abstraktheit und Allgemeinheit des Kapitalverhältnisses ist auch ein Festhalten daran, dass es sich in verschiedenen historischen Konstellation auf je spezifische Art und Weise konkretisiert. Dieses Festhalten heißt zu erkennen, dass es während des Vietnamkrieges innerhalb der USA möglich war, „auf den Widerspruch, den es macht, als Führungsmacht der freien Welt und Hort der Zivilisation aufzutreten, in der Praxis aber eben diese Grundsätze mit Füßen zu treten“30 zu verweisen. Denn, anders als in Deutschland, repräsentierte die USA „nie eine in einer Massenbewegung verankerte, insbesondere die Arbeiterklasse in die Volksgemeinschaft einbindende Gesellschaft, die vom Prinzip her antikapitalistisch nicht nur agitiert, sondern auch insoweit agiert, als sie die Ausschaltung/Kontrolle der innerstaatlichen Konkurrenz als Allheilmittel der Krisenüberwindung ansieht.“31

In den Erklärungen von Enderwitz hingegen spiegelt sich das linke Unverständnis über die Dialektik von Zivilisation und Barbarei und der zwischen dem allgemeinem Kapitalverhältnis und seiner besonderen Erscheinungsformen wieder. Es war, an diese anknüpfend, das Weitertreiben der materialistischen Kritik an den deutschen Zuständen, die Einsichten über die Nähe von islamistischem Fundamentalismus zur deutschen Ideologie und die von Dahlmann erklärte Erkenntnis, „der exstierenden Unvernunft mit einem gehörigen Schuß Pragmatismus, der sich historisch begründet und an den tatsächlich gegebenen Machtverhältnissen orientiert, zu begegnen“32, die dazu beitrugen, eine genuin antideutsche und kommunistische Kritik zu entwickeln. Gerade die Selbsterhaltung als Bedingung der Möglichkeit der Abschaffung des Kapitalverhältnisses betrachtend, wird deutlich, dass „unter den gegebenen Bedingungen eine öffentliche Parteinahme für die aktuelle Politik der USA und Israels gegen Deutschland notwendig wird”33 Notwendig für eine Kritik, die dennoch hofft,

daß eine Verständigung noch möglich ist, die aus meiner Sicht im Kern auf das Einverständnis hinaus laufen sollte, daß ein Gemeinmachen mit der real existierenden deutschen, sich mit dem Kampf des palästinensischen Volkes identifizierenden Linken, […] schlicht als konterrevolutionär zu bezeichnen ist. Diese Linke in Deutschland, die dem völkischen Sezzessionswahn immer näher stand als den auf der Basis kapitalistischer Vergesellschaftung nicht einzulösenden Versprechen der bürgerlichen Revolution, steht auf der Seite der Reaktion, genauer: Regression, und dürfte für die Kritik sogar als Gegenstand verloren sein.34

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1 Unter dem Namen: Kritik der Traditionen und Traditionen der Kritik werden in den nächsten Wochen insgesamt vier Aufsätze erscheinen, die versuchen eine Art Einführung in die antideutsche Kritik zu liefern. Einführung möchten wir dabei jedoch nicht im akademischen Sinne verstanden wissen, wo die grundsätzlichen Begriffe erarbeitet werden sollen, um sie in den eigenen Theoriebaukasten aufnehmen zu können, mittels dessen Hilfe man sich und seinen Dozierenden die Welt begreifbar macht. Im Unterschied zur Theorie existiert Kritik nur als permanent zu erneuernde Verneinung, die von jedem selbst aktiv vollzogen werden muss. Dementsprechend können diese Einführung nur die Denkrichtung einer Kritik andeuten.

2 Der Kongress wurde von der Initiative Sozialistisches Forum über Ostern im Jahr 2002 veranstaltet und ist vollständig als Audiomittschnitt erhalten. Das Audioarchiv stellt dankenswerter Weise die Aufzeichnung des gesamten Kongress zur Verfügung: http://audioarchiv.blogsport.de/2012/12/30/antideutsche-wertarbeit/ // Ein Bericht mit O-Tönen von der Veranstaltung findet sich hier: https://www.freie-radios.net/973 // Das gesamte Programm ist hier einsehbar: https://www.ca-ira.net/verein/positionen-und-texte/isf-wertarbeit_kongress-cd/

3 Dahlmann, Manfred: Antideutsch. Online einsehbar: https://www.ca-ira.net/verein/positionen-und-texte/dahlmann-antideutsch/

4 Kurz, Robert: die Jubelperser der Weltpolizei. Online einsehbar: https://www.exit-online.org/textanz1.php?tabelle=schwerpunkte&index=7&posnr=79&backtext1=text1.php

5 Erhältlich im, dem ISF angehörenden, ça iraVerlag: https://www.ca-ira.net/verlag/buecher/enderwitz-antisemitismus/

6 Siehe: https://www.ca-ira.net/verlag/rezensionen/enderwitz-antisemitismus_rez-bruhn/

7 bis 9 Langerhans, Heinz: die nächste Weltkrise, der zweite Weltkrieg und die Weltrevolution. Online einsehbar: http://theoriepraxislokal.org/imp/pdf/Langerhans.pdf

10 Im Vorwort zu: Enderwitz, Ulrich: Volksstaat und Antisemitismus, Freiburg, 1998. Online einsehbar: https://www.ca-ira.net/verlag/leseproben/enderwitz-antisemitismus_lp/

11 bis 13 Aus dem Programm zum Kongress. Siehe Fußnote 2.

14 Erhältlich im ça iraVerlag: https://www.ca-ira.net/verlag/buecher/scheit-meister/

15 Seite 12. Scheit, Gerhard: Die Meister der Krise, Freiburg, 2001.

16 „Und noch die fortgeschrittensten Theorien aus dem Umkreis der Kritischen Theorie teilen mit dem proletarischen Dogma die, wenn auch ökonomiekritische, Fixierung auf Gesellschaft: weder bei Theodor W. Adorno noch bei Detlev Claussen gerät der »geschäftsführende Ausschuß« der kapitalistischen Klasse, der Staat, ins Blickfeld. Hier setzt Ulrich Enderwitz’ Essay Antisemitismus und Volksstaat. Zur Pathologie kapitalistischer Krisenbewältigung an.“ zitiert nach: siehe Fußnote 6.

17 Scheit, Gerhard: Totalitärer Staat und Krise des Kapitals. Online einsehbar: http://www.gerhardscheit.net/pdf/TotalitaererStaat.pdf

18 & 19 Aus dem Programm zum Kongress. Siehe Fußnote 2.

20 Assoziation antideutscher Kommunisten ça ira: antideutscher Katechismus. Online einsehbar: https://antideutschorg.wordpress.com/2018/05/16/antideutscher-katechismus/

21 Dahlmann, Manfred: Antideutsch. Siehe Fußnote 3.

22 Bereits 1991 legte Bruhn diesbezüglich die Position des ISF in der Diskussion mit Thomas Ebermann dar. Online einsehbar: https://www.ca-ira.net/wp-content/uploads/2018/06/bruhn-golfkrieg.linke_.tod_-1.pdf

23 bis 26 Enderwitz, Ulrich: Quo Vadis ça ira. Online einsehbar: https://www.ca-ira.net/verein/positionen-und-texte/enderwitz-quo-vadis/

27 bis 34 Dahlmann, Manfred: Antwort auf Enderwitzens Quo Vadis ça ira. Online einsehbar: https://www.ca-ira.net/verein/positionen-und-texte/dahlmann-antikritik-enderwitz/

Critical Theory and the Frankfurt School

The following article serves as an introduction to Critical Theory. It is not meant to be comprehensive but focuses on core issues and tries to dispel some common misconceptions.

What is Critical Theory?

Critical Theory is a sociological theory founded on teachings from the philosophers Hegel, Marx and the founder of psychoanalysis, Freud. Its main objective is a society of reasonable and emancipated people. To achieve this, its founders developed the technique of Critique of Ideology from Marx and Engels which can be used to uncover and debunk the influence of ideologies. For Marx, ideology refers to mismatches between the self-image of a society and its reality. Thus, Critical Theory is not merely a theory, but a practice to disclose society’s real drivers, understand them in their totality and cause real change.

The name Critical Theory itself was developed to set itself apart from the scientific traditional theory. It stems from the insight that because our modern society is a result of the process of thousands of years of reason and enlightenment, that started with mastering and subduing nature, this aspect of subduing is baked into our ideological DNA, resulting in perpetual conflicts and separating us from just being human. This process was described in the fundamental piece Dialectic of Enlightenment.
Traditional theory will therefore only be able to perpetuate the mechanism of power and oppression that started with subduing nature, which over the course of history transformed into people oppressing people, instead. Each perpetuation step is called affirmation, resulting in a Positivistic ideology. To stop this cycle of perpetuation called Dialectic, modern science must impose self-reflection upon itself to break this cycle. The process of self-reflection to break this reproduction cycle is called Negative Dialectics and described in the book of the same name, making it one of the fundamental works of Critical Theory.
The incorporation of the dialectical method implies that Critical Theory is not an idealistic, but a strictly materialistic theory, which also means that human needs are put at the center of interest, not abstract ideas. However, Critical Theory rejects the deterministic notion of Dialectical Materialism which states that because of an assumed dialectical nature of history, human advance is always implied and inevitable.

Later works of Critical Theory also involve critical assessments of the role of modern media and popular culture. These works built upon critique of ideology and the dialectal view on the development of history, yet don’t don’t add anything fundamental to Critical Theory itself.

Critical Theory is Critical Practice

Critical Practice is the detection, uncovering and debunking of ideologies – hidden motives that drive the actions of an ideology’s proponent. To detect and dispel ideology at work, we must

  1. before even starting, reflect upon our own actions and motives;
  2. compare whether the motives stated by observed individual or group match reality;
  3. if not, question or probe to find out what the unconscious motives are;
  4. identify and debunk the real driver, thus outlining the ideology;
  5. if desirable, show how adjust motives with actions.

Critique of Ideology in Practice: Islam and the Regressive Left

A typical observation in contemporary debates is the unconditional defense of Muslims through liberals, especially orthodox Muslims and their religious practices including the wearing of hijabs or niqabs, often attacking critics of such practices with accusations of „Islamophobia“ or racism. Instead, the creation of safe-spaces for Muslims is demanded where Muslims shall have a right to practice their Muslim identity without being questioned or criticized for it.
When probed for the apologist’s motives, they commonly refer to universal values such as the ones from the Enlightenment, more specifically the emancipation of man, or the First Amendment to the United States Constitution, which guarantees freedom exercise of religion and freedom of speech, among other things. However, there is a mismatch between this noble motive and reality as real world Islam itself is most often oppressive towards women, curbs free speech and advocates the inferiority of adherents of other religions, and especially atheists. These practices are in direct contradiction with the values ostensibly defended. We can therefore conclude an ideology at work. To find out the real driver and dispel the ideology, we must probe and question its adherents. A common pattern is to collect as many arguments as possible and use inductive and deductive reasoning to draw probable or definitive conclusions. Collecting more arguments is possible through debate and finding the arguments which are fallacies. Common fallacies in Islamophobia debates include Texas sharpshooter („one billion Muslims are peaceful“) / no true Scotsman („Islamists and Jihadists are not the real Muslims“ / „liberal and secular Muslims are not the real Muslims“), and, very commonly, a special form of Whataboutism called cultural relativism, for instance stating that in the West, women are also subject to misogyny, therefore it’s not our right to criticize pristine cultures such as Islam as we aren’t doing better.
The latter arguments reveal the ideological driver: If Islamic practices are not being judged and criticized through probing against objective, universal values that also apply universally and independently from its adherents, the underlying ideology of the Islam apologist must really be anti-universal and particularist. In case of the safe-space demand for a Muslim identity1, the ideology takes its full form. If „Muslim“ is an identity that deserves complete shielding from criticism, it puts people into a forced Muslim collective. The safe-space demand also interrelates with a permanent state of victim mentality in direction contradiction with the dictum of the Enlightenment:

Enlightenment is the emancipation of man from a state of self-imposed tutelage… of incapacity to use his own intelligence without external guidance. Such a state of tutelage I call ’self-imposed‘ if it is due, not to lack of intelligence, but to lack of courage or determination to use one’s own intelligence without the help of a leader. Sapere aude! Dare to use your own intelligence! This is the battle-cry of the Enlightenment. — Immanuel Kant, 1785

As universal values are what makes up modernity and the Western world, this ideology can be called anti-Western or anti-modern, therefore hinting at a deep rejection of civilization and globalization in favor of postmodernist cultural collectivism.
Adjusting motives with action would be to actually apply universal values and criticize the mismatch of Islamic practices and teachings, showing how they are deeply incompatible and starting to support secular Muslims who want to reform the religion to make it compatible with universal values, something which evidently puts them at danger with conservative and Islamist Muslims.

Sam Harris attacking Ben Affleck’s Islam apologist ideology

Meaning Lost in History and Translation

Critical Theory was developed when Max Horkheimer took over the Frankfurt Institute for Social Research in 1931. This circumstance led to the late alternative name Frankfurt School for Critical Theory, but was never endorsed by any of its proponents.

Outside German-speaking circles, the term critical theory got picked up and ripped out of context by proponents of incompatible or even antagonistic schools of thought, especially Post-structuralism. Post-structuralism is a late postmodernist philosophy from 1968 that rejects all notions of objective truth, the totality of society and negativity, therefore also the concept of critique of ideology. This doesn’t stop its proponents to occasionally use Critical Theory quotes out of context, especially those related to modern culture. This helped to create a right-wing conspiracy theory called Cultural Marxism that creates the false impression that Critical Theory was responsible for phenomena linked to the excessive political correctness of the postmodernist left.


  1. There is room to argue for safe-spaces to be special forms of the appeal to nature fallacy: Muslims just are that way, therefore it is true 

What does Anti-German mean?

The following text is translated from German. The original from Stephan Grigat can be found at Café Critique and was originally published as an op-ed in Die Presse on February 19, 2007.

Those Anti-Germans! For more than 15 years, they’ve been haunting political debates in Germany, and lately they started to appear in Austrian discussions. They are said to be racists. And warmongers. Friends of Bush (Translator’s Note: George W.) and admirers of Sharon. Some people think they are academic careerists, others nasty polemicists. The left hate them as they see them as liberal-conservative converts. The right don’t like them as Marxist. Where do these unpopular critics come from? What do they want?
The history of modern Anti-Germans begins at the end of the 80s, when fractions of the radical left recollected Jean Amèry who kept stressing that the left had to redefine itself in opposition to antisemitism and anti-Zionism since the Six-Day War in 1967. Over time, an independent current of sociocritical thinking emerged under permanent scrutiny of the German Homeland Security (TN: Verfassungsschutz), Austrian columnists or Japanese bloggers.

Politico-economical Constellation

The meaning of „German“ is seen through the lens of ideological critique in the context of Anti-German critique. It’s not dealing with a hereditary national character, but with a politico-economical constellation. It’s not about a specific mentality, but a particular form of capitalist socialization which however spawns „typically German“ social characters in turn.

There used to be a peculiar interrelationship between state and society in Germany and Austria which ultimately resulted in the Holocaust. This constellation can be dubbed „German“ as it emerged in Germany for the first time. But it is not a phenomenon which is historically or geographically confinable, hence it is neither limited to the German state nor the period of Nazism. The representation of „German“ is therefore generalizable. Ever since the specific German-Austrian crisis resolution model became a reality through annihilation and world war in the Third Reich, representatives of Islamic barbarism can be criticized as German ideologists in terms of ideological critique. They openly employ elements of Nazist ideology both historically and now for their implementation of the Ummah, the society of all Muslims.

This Ummah Socialism, as the murderous jihadist arson should be called due to its resemblance as well as in contrast to its Nazi prototype, poses an existential threat to Israel which is barely addressed in Europe. Anti-German critique expresses solidarity with Israel due to the insight that the world as it is currently constituted is perpetually reproducing antisemitism. Today, the nation of the Holocaust-survivors faces the problem that its military deterrence barely works anymore. How to deter antisemitic suicide bombers? How to threaten politicians like Iran’s former president Rafsanjani with retaliation, who speculated that the detonation of a nuclear bomb in proximity to Tel Aviv would be enough to wipe out Israel and the death of Millions of Iranians in consequence of retaliation would have to be put up with?

A military intervention for the weakening of the Iranian destructive potential could only be avoided, if it can be avoided at all, through the opposite of the current events, decisive economical and political pressure from all relevant nations. For this reason – not out of warmongering enthusiasm – Anti-German critique targets any appeasement of the protagonists of the jihadist-eliminationist antisemitism which was articulated through the attacks on the World Trade Center. The War on Terror is a war against Islamist fascism. It is criticized by Anti-Germans only if not waged and named as such.

Is racism towards people in the Arabic or Iranian sphere here? To the contrary, it would be racist to assume that clerical-fascist or pan-Arabic dictatorships represent the proper way of life for these people, and Islam is their intrinsic culture.

Gateway for Antisemitism

On top of that, are those Anti-Germans Marxists? To the contrary, they reactivate a former author of the New Free Press as well as Karl Marx himself and the Critical Theory of Theodor W. Adorno and Max Horkheimer against the havoc Marxism has been wreaking throughout the past 100 years in theory, but especially in practice. Of all the things, it is Marx‘ critique of political economy which must be rediscovered and turned against traditional Marxism, against Bolshevist and social democrat perversions, which have always been gateways for antisemitism and its geopolitical reproduction, anti-Zionism, in the left.