Veranstaltungsreihe: Pangermanismus (Buchvorstellung)

Präsentation des Buches „Pangermanismus. Edvard Beneš und die Kritik des Nationalsozialismus“ mit dem Autor Florian Ruttner.

Für eine Diskussion des Verhältnisses von westlicher Staatsidee und völkischem Staat ist ein Blick auf die Gedankenwelt von Edvard Beneš, des Mitbegründers, langjährigen Außenministers und zweiten Präsidenten des Tschechoslowakischen Staates durchaus von Interesse. War er doch nicht nur als praktischer Politiker, sondern auch als die gesellschaftlichen Verhältnisse reflektierender Denker mit völkischem Nationalismus konfrontiert.

Auch wenn Beneš besonders in der heutigen deutschen Rezeption oft selbst als völkischer Politiker hingestellt wird, wurde er in der von seinen völkischen Zeitgenossen als Vertreter des westlichen, antisemitisch konnotierten Staates verdammt, da er versuchte, einen westlichen, am Individuum orientierten Begriff des Staates stark zu machen, den er allerdings ab Mitte der zwanziger Jahre im Rückzug und die Demokratie in einer Krise sah.

Auf diese Bedrohung reagierend, entwickelte Beneš in seinen Schriften eine deutliche Unterscheidung der Rolle des Staates im faschistischen und im nationalsozialistischen System. Ist für ihn der Faschismus eine Reaktion auf den liberalen Staat, nähre sich der Nationalsozialismus auch aus anderen, eben völkischen Quellen, die ihn noch gefährlicher machten.

Eine Skizze dieser Einschätzungen Benešs soll als Ausgangspunkt für Überlegungen zu den Differenzen und Gemeinsamkeiten eines völkischen und republikanischen Staatsbegriffs sein, wie auch dazu, die Grenzen des letzteren auszuloten.

Zum Buch: https://www.ca-ira.net/verlag/buecher/pangermanismus/

Die Termine:
05.02 – Bremen, Jugendhaus Buchte, 20 Uhr: https://www.facebook.com/events/462006071419771/
06.02 – Hamburg, Studienbibliothek, 19 Uhr: http://www.studienbibliothek.org/
07.02 – Berlin, Loge (Friedrichshain), 19 Uhr: https://www.facebook.com/events/2570104253266750/

Kapital, Staat, ihre Fetische und dieses deutsche Scheiszland.

Im folgenden möchten wir die überarbeitete Version eines internen Diskussionspapier mit Skizzenhaften Überlegungen für einen antideutschen Materialismus veröffentlichen, um die analytische Grundlage unserer bisher veröffentlichten Flugblätter offen darlegen zu können. Es geht uns darum um nichts weniger, als um den Versuch die Basis der vom antideutschen Materialismus ausgehende kommunistische Kritik der Welt aufzuzeigen. Dabei geht es uns allerdings nicht um besserwisserische Arroganz – die überlassen wir dem GegenStandPunkt und dem lokalen Ableger Argu.Diss – sondern um den Anstoß einer (nicht nur) in Bremen notwendigen Diskussion über linksradikale Gesellschaftskritik, die sich weder darin begnügt die Farce zu vergangenen linken Tragödien zu sein, noch – bewusst oder unbewusst – Erfüllungsgehilfin politischer Parteien zu werden. Die im folgenden skizzierten Begriffe erachten wir als Basis dieser Kritik.

Weil wir das nun folgende bereits als Flugblatt zugespitzt haben und weil es eigentlich um etwas anderes geht, sind die Verweise auf den Aufruf von NIKA Nordwest für die Demonstration gegen Thilo Sarrazin in Bremen bewusst implizit gehalten. Der bewusste Bezug zum Aufruf soll dennoch nicht verdrängt werden und hier nochmal vorangestellt werden. Die im Flugblatt geäußerte Kritik soll an dieser Stelle viel mehr als pars pro toto für eine kritisierenswerte Lage linker Kritik genommen werden.1 Des Weiteren sei bereits vorab angemerkt, dass das nun folgende keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann und will, sondern lediglich versucht ein wenig Grundsätzliches über einen antideutschen Materialismus zu sagen, der die Basis unserer Kritik an einer viel zu wenig radikalen Linken ist.

Das Kapital:

Anders als die antikommunistischen Marxisten es raunen, ist das Kapital kein Kreis von Personen, der in irgendwelchen Räumen über die Welt herrscht. Der von Marx erkannte Widerspruch von Kapital und Arbeit, der vom Marxismus erst zum Grundwiderspruch aufgeblasen wurde, um dann personifiziert zu werden, ist nicht die wesentliche Bestimmung des Kapitalismus. Jene wäre erst, mit einem Begriff von einer Vergesellschaftung, in der das Kapitalverhältnis zum totalen System geworden ist, also eine alles Denken und Handeln bestimmende Totalität erreicht hat, zu haben. Doch wie drückt sich diese Totalität aus, wie lässt sie sich auf den erforderlichen Begriff bringen?

Wer in Marx einen Theoretiker des Kapitals – und darin unterscheiden sich die meisten seiner Anhänger nicht voneinander, egal ob sie früher Sozialdemokraten, Stalinisten, Trotzkisten oder neuerdings Autonome und Antinationale sind – sehen möchte, der erwartet implizit das Begreifen und vernünftige Darstellen einer absolut unbegreiflichen und unvernünftigen Angelegenheit.2 Polemisch gesagt: Wenn es Marx nur darum gegangen wäre, das Wesen der Totalität theoretisch darzustellen, anstatt es als Unwesen zu denunzieren, dann hätte er lediglich Hegel interpretieren und keine Kritik der politischen Ökonomie schreiben müssen. Wenn er eine Theorie des Kapitals zu schreiben versucht hätte, dann hätte er dadurch in das Kapitalverhältnis eine Vernunft hineingelegt. Er wäre Linkshegelianer geblieben, anstatt den Versuch zu unternehmen, Hegel vom Kopf auf die Füße zu stellen und der idealistischen Theorie eine materialistische Kritik entgegenzustellen.

Wenn Jahrzehnte später nun Adorno unter dem Eindruck der Shoah und im Anschluss an Marx davon sprach, dass das Ganze das Unwahre und das Wesen des Kapitals ein Unwesen sei, dann sind das weit mehr als bloße akademische Spielereien mit hegelscher Dialektik, sondern es ist Ideologiekritik par excellence und damit notwendiger Anknüpfungspunkt für jede linksradikale Gesellschaftskritik. Hegel brachte, als Metaphysiker des Tausches, wie kein zweiter die Art und Weise, in der sich die bürgerliche Gesellschaft konstituiert, zu einem Bewusstsein. Welches, – und das meint der Ideologiebegriff – für den Erhalt dieser Gesellschaft zwar notwendig, auf Grund seiner Affirmation der Spaltung der Gattung in Herrschende und Beherrschte, allerdings grundsätzlich falsch ist.

Es kann aber auch nicht richtig sein, da die einzige Wahrheit über das paradoxe Verhältnis des Werts, welches den Einschluss aller durch alle im Ausschluss aller durch alle erreicht, dessen Abschaffung wäre. Das heißt, dass die gesellschaftliche Synthese, die das Kapitalverhältnis stiftet, alle ausschließt, weil es die Individuen zu Arbeitskraftbehältern und die sinnlichen Dinge zu Waren atomisiert und zugleich alle einschließt, in dem alles auf den Wert bezogen und dadurch miteinander austauschbar (und damit vergleichbar) wird. Der Mensch wird im sozialen Verhältnis des Wertes als bloßer Arbeitskraftbehälter sowohl vom gesellschaftlichen Reichtum ausgeschlossen, als auch als Verkäufer der Ware Arbeitskraft im Marktzusammenhang eingeschlossen.

Jede Theorietisierung dieses real-existierenden völligen Widersinns eines automatischen Subjekts des Kapitals, eines sich selbstverwertenden Wertes, eine ewig voranschreitende Prozession von Geld – Ware – mehr Geld, wäre eine Rationalisierung und damit Legitimierung der Herrschaft des Menschen über den Menschen, deren Abschaffung gerade das Ziel der kommunistischen Kritik ist. Der polemische Gehalt des marxschen Begriffs vom automatischen Subjekt liegt gerade in seiner paradoxen und theologischen Dimension: zum einen ist etwas entweder automatisch oder es ist Subjekt, zum anderen ist die Selbstverwertung des Wertes ein Zirkelschluss und deshalb logisch nicht korrekt und doch ökonomische Realität auf die jede ökonomische Theorie aufbaut.3 In gewisser Weise existiert im Kapitalismus mit dem Wert ein, sich jeder Rationalität entziehendes, göttliches Moment, dass dennoch vom Menschen geschaffen wurde.4

Die allgemeine Gültigkeit erhält dieses abstrakte Wertverhältnis durch seine sinnliche Form: das Geld. Dessen Rätsel – und die Denker der politischen Ökonomie haben bis heute keine Antwort darauf gefunden5 – liegt in seiner zugleich objektiven Gültigkeit als abstraktes Wesen des Werts und in seinem subjektiven Charakter als konkrete Erscheinung in der Geldware. Hier ist zum Einen auf die Unbegreiflichkeit zu verweisen, die in diesem logischen Paradox liegt und zum Anderen auf die weitgehenden Folgen für eine Gesellschaft, in der dieses Paradox zur bestimmenden Synthese – zum Ausschluss aller durch den Einschluss aller – werden konnte.6

Der Staat:

Wenn man wie Marx, über die Bedeutung des Geldes für das Kapitalverhältnis nachdachte und dabei eine britische Pound Sterling Münze in die Hand nimmt – was der gute Karl nach jedem Besuch seines Finanziers Engels tun musste, um seine Familie ernähren zu können – wird deutlich, dass auf der einen Seite der Wert in einer Zahl ausgedrückt wird, während sich auf der anderen Seite der Kopf des Souveräns befindet. Kurzum: es wird deutlich, dass der Staat nicht unbeteiligt an dieser Form der Vergesellschaftung sein kann. Es verwundert demnach nicht weiter, dass Marx nach dem Manifest der kommunistischen Partei und in den Arbeiten zur Kritik der politischen Ökonomie Abstand nahm von der Idee des Staates als Hebel zur Errichtung der befreiten Gesellschaft. Es bezeugt darüber hinaus den konterrevolutionären Charakter aller Erscheinungen des Marxismus-Leninismus und sonstigen sozialdemokratischen Elendsverwaltungsbestrebungen, dass Lenins Buch Staat und Revolution und nicht Staat ODER Revolution hieß. Doch was genau hat der Staat mit dem Kapitalverhältnis zu schaffen?

Wie bereits angedeutet ist das Kapitalverhältnis ein Verhältnis, in dem das Tauschverhältnis eine allgemeine Gültigkeit erlangt. Erst dadurch, dass Waren aufeinander im Tausch bezogen – also: verglichen – werden, entsteht Wert, Ware, Geld und Kapital. Eine Voraussetzung des Tausches ist, dass sich die Tauschenden als Freie und Gleiche gegenübertreten – denn wenn ich etwas einfach so nehmen kann, dann werde ich nicht dafür bezahlen. Diese Freiheit und Gleichheit wird garantiert durch die Vereinigung in Brüderlichkeit im Nationalstaat, der – mit den legitimatorischen Weihen seiner Staatsbürger gesegnet – die Freiheit und Gleichheit (und somit den Tausch) rechtlich garantiert, was auch heißt, dass er Rechtsübertritte ahndet. Dazu darf er nicht nur – als einziger – Gewalt einsetzen (Stichwort Gewaltmonopol), mehr noch: er definiert überhaupt erst was Gewalt ist.

Es ist mittlerweile unter kritischen Historikern nicht unüblich, sich die Entstehung von Staatlichkeit als das Agieren einer Mafiabande vorzustellen und es ist auch für unsere Belange hilfreich, sich den Prozess der ursprünglichen Zentralisation7 – die Entstehung einer Staatlichkeit – unter Berücksichtigung dieses Bildes zu vergegenwärtigen. Betrachten wir also exemplarisch Feudalherren, deren herrschaftliche Sitze nur unweit von einander entfernt liegen und die sich im permanenten Zwist um die zwischen ihnen befindlichen Ländereien befinden. Je länger der Zwist andauert, desto mehr Geld – welches sie von den Bauern, die ihre Ländereien bewirtschaften erhalten – brauchen beide, um ihr Söldnerheer finanzieren zu können. In gewisser Weise besteuern sie die Bauern, damit das funktioniert, müssen sie wiederum alle Gewalt – außer die eigene – von den Bauern fern halten, kurzum: sie verlangen Schutzgeld. Zum Eintreiben dieses Schutzgeldes benötigen sie Bürokraten, zur Aufrechterhaltung des Schutzes benötigen sie ein permanentes und stehendes Heer und so weiter. Langfristig setzt sich einer der beiden durch – oder sie kooperieren, das Gebiet vergrößert sich und damit notwendigerweise der Staatsapparat und das stehende Heer. Am Ende entsteht aus diversen ehemaligen Provinzen ein vereinigtes Königreich.

Das ist die – stark vereinfacht dargestellte – feudale Form von Staatlichkeit, in der die Herrschaft noch unmittelbar durch Gewalt ausgeübt wird und in der die Reichtümer vor allem den Gelüsten der Herrscher dienen. In der Epoche des Merkantilismus gewinnt das kaufmännische Bürgertum immer mehr ökonomische Macht, durch die sie Kompromisse mit der Feudalherrschaft eingehen und Privilegien erlangen können.8 Marx spricht davon, dass die Feudalherrschaft ihre eigenen Totengräber hervorbringt und verweist auf den Moment, in dem sich das Bürgertum gegen die Feudalherrschaft auflehnt und mit der Parole Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit sich die Welt nach ihren – auf Tausch basierenden – Vorstellungen einrichtet. Dabei wird jedoch nicht gänzlich mit der Herrschaft des Feudalismus gebrochen und Gewalt nicht einfach durch Recht ersetzt, wie es Liberale bis heute behaupten. Die Herrschaft wird durch das Recht vermittelt und Gewalt wird zur ersten Bedingung und letzten Garantie des Rechts.

Wie alle Waren durch den Wert aufeinander bezogen sind, so sind es die Menschen – die einzig als Träger der Ware Arbeitskraft relevant sind – im Recht durch den Souverän aufeinander. Denn nur, wer über seine Ware Arbeitskraft verfügt, kann diese zu Markte tragen. Erst als Staatsbürger sind sie rechtliche geschützte Subjekte.9 Dieses Rechtssubjekt ist das Ideal des allgemeinen Menschen, der von allen empirischen Besonderheiten und natürlichen Beschränkungen abstrahiert wird. Das heißt, dass der abstrakte Begriff des Menschen dem konkreten Menschen gegenübersteht. Verkörperung dieses abstrakten Bildes vom Menschen ist der Souverän,10 der mit seinem Gewaltmonopol diesen Zustand des Rechts erst ermöglichen kann.

Zwei Sachen, die an dieser Stelle leider ausfallen müssen, aber von Relevanz sind: Erstens muss erwähnt werden, dass der Staat nicht allein existiert, sondern im permanenten Kriegszustand gegenüber anderen Staaten, die – trotz temporärer Kollaboration – in einem Konkurrenzverhältnis zu einander stehen. Zweitens muss angemerkt werden, dass in der Idee der Nation Staat und Souveränität ideologisiert – gewissermaßen erfahrbar gemacht – werden, in dem der bloßen Abstraktion ein mythisches Leben eingehaucht wird. Der erste Weltkrieg ist – wie nicht zuletzt Rosa Luxemburg analysierte – die ebenso brutale wie logische Konsequenz von Staatlichkeit.

Die Subjekte I:

Dass die Waren sich nicht selbst zu Markte tragen können, wie Marx anmerkte, heißt – wenn man an die weiter oben angeschnittene Zentralität der Warenform für die gesamte Vergesellschaftung denkt –, dass der Mensch für Marx das Subjekt der Geschichte ist und bleibt. Das heißt, dass das automatische Subjekt seine Existenz allein der Handlung von nicht-automatischen, ergo menschlichen, Subjekten verdankt; dass die Realabstraktion Staat nur vermittels Subjekten – seien sie Polizisten, Politiker oder Soldaten – erscheinen kann. Wenn Marx allerdings sagt, dass sich die Geschichte scheinbar hinter dem Rücken der Subjekte vollziehen würde,11 spricht er damit das – schon vorher erwähnte – notwendig falsche Bewusstsein der Subjekte an. Er erklärt, dass sie – ohne es zu merken – zu Charaktermasken12 werden und attestiert ihnen einen fetischisierten Alltagsglauben.

Ihre Fetische:

Der Begriff des Fetischcharakters der bürgerlichen Gesellschaft wird von Marx im ersten Band des Kapitals entwickelt. Als solcher ist der aus der aufgeklärten und bürgerlichen Religionswissenschaft stammende Begriff13 zu tiefst polemisch. Als Fetisch gilt der Glaube von sogenannten primitiven Religionen, die in einem Gegenstand – zum Beispiel in einem bunt angemalten Stück Holz – magische Fähigkeiten behaupten. Im Bewusstsein des Verhältnisses von Mythos und Aufklärung, über das Adorno und Horkheimer später ein ganzes Buch14 schreiben sollten, attestiert Marx der aufgeklärten Gesellschaft des Bürgertums einen Okkultismus, der dem der primitiven Völker in Nichts nachsteht. Ein Wuppertaler Foucaultianer brachte diese aufgeklärte Form des mythischen Glaubens auf ein Bild, dessen Tragweite er mit seiner Ablehnung einer negativen Dialektik15 eventuell selbst nicht verstehen kann: „Und wie der erste Mensch vor Blitz und Donner stand, steht der moderne Mensch vorm Kontostand und bangt um seine Existenz. Ängstlich wie er immer war, murmelt er Beschwörungsformeln. Der Glaube ging, die schnöden Sorgen um das Übermorgen blieben.“16

Ohne allzu genau auf die einzelnen Fetische eingehen zu können, seien die für unsere Beobachtungen Wichtigsten an dieser Stelle noch einmal kurz angerissen. Als Warenfetisch versteht Marx die okkulte Annahme, dass jeder Gegenstand schon qua Natur eine Ware sei und damit ein Wert in ihm – also zum Beispiel in einem Tisch – selbst enthalten und nicht erst Ergebnis des gesellschaftlichen Tauschverhältnisses sei. Diese Fetischisierung ist gleichbedeutend mit einer Enthistorisierung des Kapitalverhältnisses, das nicht mehr als bestimmte aktuelle Form von Vergesellschaftung erscheint, sondern als stets allgegenwärtige: Wenn alle Dinge immer Waren mit Wert sind, dann ist das sie umgebende Verhältnis immer das Tauschverhältnis. Analog dazu der Staatsfetisch und der Rechtsfetisch, die einen Menschen qua Natur als Rechtssubjekt sehen (Stichwort: Menschenrechte oder Naturrechte) und somit die gesellschaftlichen Verhältnisse, die diesen Zustand erst hervorbringen, zu einer zweiten Natur werden lassen.17

Die Subjekte II:

In der von Staat, Kapital und ihren Fetischen bestimmten, bürgerlichen Gesellschaft kann der konkrete empirische Mensch – sofern er das Glück hat, ein Staatsbürger zu sein und nicht ohne Papiere im Mittelmeer ertrinken muss – nur in der Subjektform überleben.18 In dieser ist die Individualität zum Accessoire der Persönlichkeit degradiert.19 Sein Denken ist in die Warenform gebannt, die „erkenntnistheoretisch von der Philosophie und triebökonomisch von der Psychologie verdoppelt und rationalisiert wird.“20 Das Individuum steht also nicht im von Soziologie und Feuileton behaupteten Gegensatz zur Gesellschaft, sondern die Gesellschaft hat sich ins Innerste des Individuums eingebrannt. Zum Subjekt wird das Individuum, wenn es in der Lage ist, sich selbst als Eigentümer der Ware Arbeitskraft zu denken, seine eigenen Triebe so zu beherrschen, um zur gesellschaftlichen Produktion beitragen zu können – letzteres hat allerdings mehr mit Glück als Verstand zu tun.21 Kurzum: Subjektform, das heißt – nach einem Worte von Joachim Bruhn – „Kapital verwertend und Staatsloyal“22 zu sein, sprich: „Subjektform ist die Uniform“.23

Das Subjekt ist, wovon es in seinem fetischisierten Bewusstsein nur eine Ahnung (als Existenzangst) entwickeln kann, vollauf prekär. Permanent droht die eigene Wertlosigkeit und damit der Verlust der Subjektivität: „Derart ist das bürgerliche Subjekt verfasst, dass es Identität nicht aus sich selbst erzeugen kann, sondern nur im Prozess einer ständigen Abgrenzung, eines permanenten Zweifrontenkrieges gegen das ‚unwerte‘ und gegen das ‚überwertige‘ Leben. Bürgerliche Subjektivität existiert nur in der vollkommenen Leere der permanenten Vermittlung, die sie zwischen den Waren, im Tausch, und um den Preis der ihr andernfalls drohenden Annihilation zu stiften hat.“24 Die erste Front ist eine Abspaltung und Projektion, der eigenen – sich der Verwertung und Verrechtlichung entziehenden – triebhaften Naturbeschaffenheit, auf einen rassifizierten Menschen beziehungsweise Gruppe von Menschen, dem beziehungsweise denen man den Subjektstatus verweigern muss, um sich selbst als Subjekt wähnen zu können.25 Die Ambivalenzen zwischen Romantisierung der edlen Wilden und dem Streben nach ihrer totaler Beherrschung folgen der dialektischen Logik des Wertes.

Antisemitismus und Antizionismus:

In der zweiten Front werden pathisch die eigenen Sehnsüchte auf die „Gegenrasse als solche“ projiziert. Er ist das mörderische Streben des Bürgertums sich selbst zu rassifizieren, die eigene Subjektivität durch Aneignung des angeblich geheimen Wissens der Juden zu erlangen. Diese Abspaltung findet allerdings zweifach statt: ökonomisch im Antisemitismus und politisch im Antizionismus – das Eine bedingt das Andere so sehr, wie sich Staat und Kapital gegenseitig bedingen.

Dem Antisemiten erscheint das Kapitalverhältnis als Gegenüberstellung von Produktions- und Zirkulationssphäre, wobei die Produktion als „schaffend“ und die Zirkulation als „raffend“ gedacht werden. Dass die Warenproduktion nicht nur ohne die Zirkulation – also den Kauf- und Verkauf von Waren zum Zweck des Profites – nicht kann, sondern selbst bereits die Zirkulation – den Kauf der Produktionsmittel, ihre Aufwertung durch die gekaufte Ware Arbeitskraft und ihren Weiterverkauf – in sich enthält, kann das fetischisierte Bewusstsein, dass die Wertsteigerung auf magische Weise im Gegenstand selbst vermutet, nicht begreifen. Die Trennung und die Abspaltung stabilisiert das System, ist es doch so möglich, die Produktivität des Kapitalverhältnisses gegen seine ihm innewohnende Destruktivität auszuspielen. In Krisenzeiten der Verwertung erfüllt das Pogrom die Funktion des ritualisierten Opfers an die Gottheit des automatischen Subjekts – von der triebökonomischen Funktion ganz zu schweigen. Der Antizionist wiederum trennt die sich gegenseitig Bedingenden Recht und Gewalt, während er letzteres dem vermeintlich künstlich gesetzten jüdischen Staat zuschlägt, um den eigenen Staat als natürlich gewachsene Entität des Rechts halluzinieren zu können. Die Funktion ist in gewissem Maße analog zum Antisemitismus. Die Fetischisierung des Rechts verdrängt die Gewalt, deren Existenz jedoch unwiderlegbar ist, die einem anderen Subjekt mit finsteren Absichten zugeschoben werden muss.

Bei beiden ist der Neid auf das vermeintlich geheime Wissen der Juden und ihrem Staat nicht von der Hand zu weisen, ist das ihnen Unterstellte doch das eigene Verlangen: Verwertung und Herrschaft. Antisemitismus und Antizionismus sind die negative Ökonomie- und Staatskritik in den Formen des fetischisierten Bewusstseins. Beide sind somit gerade nicht Ausdruck einer Archaik oder Feudalität – im Falle des Irans Beleg seines irgendwie vormodernen Daseins – sondern im Gegenteil Ausdruck der bürgerlichen Moderne. Weder Bildungsarbeit noch Politik können irgendetwas gegen sie ausrichten, sind sie doch keine Unwissenheit, sondern logische Konsequenz der bürgerlichen Subjektivität, auf der jede Vorstellung von Politik notwendigerweise beruht.

Eine Kritik an Staat und Kapital, die ihren negativen und fetischisierten Konterpart nicht wahrnimmt, scheitert am eigenen Anspruch. Die Solidarität mit dem Staat Israel, als einzig möglicher Antwort auf den antisemitischen Vernichtungswahn der verstaatlichten Subjekte, steht somit nicht in Widerspruch zur Kritik an Staatlichkeit, sondern ist deren Bedingung. Wenn an den Juden die Übel der Moderne ausagiert werden sollen, dann ist es schlicht und ergreifend fahrlässig und konterrevolutionär, ihnen die Selbstverteidigung – in der einzig ihnen zu Verfügung stehenden Form des Staates – abzusprechen. Wenn der Kommunismus die Befreiung der Menschheit sein soll, dann kann diese nicht mit dem Preis des stets drohenden antisemitischen Mordes errichtet werden.

Dieses deutsche Scheiszland:

Folgt man dem bisher Dargelegten zustimmend, dann bleibt den lesenden Individuen nichts anderes übrig, als sich als antinational, israelsolidarisch und kommunistisch zu verstehen. Das heißt – um es herunter zu brechen – sich kritisch gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft und all der gescheiterten linken Versuche, diese zu überwinden, zu verhalten und darauf zu pochen, dass die staatenlose nicht ohne die klassenlose und die klassenlose nicht ohne die staatenlose Gesellschaft zu machen ist und dass Staat und Kapital sich nicht auf einzelne Personen herunter brechen lassen, sondern ihre Macht als Realabstraktion aus dem notwendigen und falschen Bewusstsein der gesamten Gesellschaft ziehen.26 So radikal diese Haltung – würde sie in letzter Konsequenz durchgezogen – auch gegenüber der gegenwärtigen Linken wäre, so sehr lässt sie doch außer Acht, dass die Lügen von Staat und Kapital beinahe auf mörderische Weise wahr gemacht worden wären und es, neben diversen von den Opfern des Nationalsozialismus gebildeten bewaffneten Widerstandsgruppen, allen voran den Staaten der Sowjetunion, der Vereinigten Staaten von Amerika und des Vereinigten Königreichs zu verdanken ist, dass dem nicht geschah. Ebenso wird außer Acht gelassen, dass dieses Unterfangen nicht zufällig von einem bestimmten Staat ausging: Deutschland.

Richard Wagners affirmative Emphase, dass es deutsch sei, eine Sache um ihrer selbst Willen zu tun, bekommt ihre historische Wahrheit in der antisemitischen Vernichtung um der Vernichtung Willen. Ihren materialistischen Gehalt erhält sie durch den Verweis auf Adornos Rede, dass ein Deutscher jemand sei, der keine Lüge aussprechen könne, ohne sie selbst zu glauben.27 Das heißt – in aller Kürze –, dass die Unwahrheiten der bürgerlichen Gesellschaft im Nationalsozialismus auf brutalste Art und Weise beinahe wahr gemacht worden wären, wie die bloß über den Wert vermittelte vermeintliche Egalität der Klassengesellschaft zur Auflösung des Klassenwiderspruchs in der Egalität des Mordkollektivs wurde; wie der Traum von der krisenfreien Ökonomie in der kriegerischen Konsumgemeinschaft realisiert werden sollte.28 Das Erbe dieser Gemeinschaft lebt fort im postnazistischen Sozialpakt, in der Unterstützung antisemitischer Mörderbanden, dem Aufschwingen zur moralischen Weltmacht und in der stetigen Möglichkeit, sich im Angesicht der Krise erneut auf die altvertraute – beinahe erfolgreiche – Krisenlösung zu besinnen.

Auf diesen Unterschied zwischen den Staaten – und Deutschland ist in diesem ideologiekritischen Sinne nicht der einzige, aber der erste deutsche Staat – zu bestehen, heißt sich der Bedingung der Möglichkeit der eigenen Kritik bewusst zu sein.29 Gerhard Scheit fasste treffend zusammen, dass Staat und Kapital zwar die Bedingungen der Möglichkeit der Katastrophe seien, aber selbst noch nicht die Katastrophe. Anders als es aktuell häufig versucht wird, lässt sich das Antideutsche nicht gegen das Kommunistische ausspielen, denn das Bejahen der bürgerlichen Gesellschaft ist die Akzeptanz der Bedingung der Möglichkeit ihres eigenen Umschlags in Barbarei; denn das Beharren auf kommunistischen Idealen und Prinzipien im Angesichts der mörderischen Vernichtungsdrohung staatsgewordener deutscher Ideologie ist schlicht und ergreifend zynisch. Um es in eine Parole zu fassen: Nieder mit Deutschland heißt Solidarität mit Israel und für den Kommunismus.

Die Subjekte III:

Alles was bisher über Subjektivität gesagt wurde, gilt natürlich auch für den deutschen Staat, der nur durch seine Staatsbürger überhaupt sein kann und der sich eben nicht bloß durch Wirtschaftsbosse und Politfunktionäre ausdrückt, sondern in dem jeder einzelne Staatsbürger in eine entsprechende Charaktermaske schlüpft. Das Ausspielen der klassenbewussten Antifa gegen die rassistischen Funktionäre von Staat und Kapital verkennt die gerade in Deutschland (gern) praktizierte Verbindung von Mob und Elite. Verkennt, dass der arbeitslose Faschist in Ostdeutschland mit den Sarrazins, Höckes und den Mitgliedern des Wirtschaftsclubs Havanna in Bremen in einem Verhältnis steht; dass sich die Subjektivität der ersten in Abschiebungen und Bevölkerungspolitik äußern kann, während letztere zum verzweifelten Versuch der Festigung ihrer bürgerlichen Subjektform – und das hat Joachim Bruhn im Fall eines Mörders von Solingen bereits auf dem Konkret Kongress 1993 deutlich dargelegt – einzig und allein der rassistische Mord bleibt.30 Die von buchgläubigen Kommunisten erstrebte Emanzipation der Deutschen zu Menschen, betrifft jeden Staatsbürger auf unterschiedliche Weise, aber doch gleichermaßen. Um eine Parole vom 10ten Dezember aufzugreifen: die Grenze verläuft weder zwischen den Kulturen, noch zwischen klassenbewusster Antifa und Wirtschaftsclub, sie verläuft durch die entfremdeten Subjekte hindurch.31

Dies festzustellen ist nicht gleichbedeutend mit einer Verdrängung der berechtigten Wut auf die Charaktermasken der politischen und ökonomischen Macht oder einer Predigt für den Verzicht auf nonverbale Kommunikation mit autoritären Dreckssäcken – notfalls auch vermittelt über deren Eigentum. Vielmehr ist dies festzustellen, um die Gemeinsamkeiten der rassistischen Formierung im Bewusstsein zu behalten, ohne dabei die einen zum bloßen Fußvolk der Anderen zu machen. Deutscher – und das heißt manifester Antisemit und Rassist – zu sein, ist eine Entscheidung, für die jeder im sartre‘schen Sinne zur Verantwortung zu ziehen ist.

Und ebenso sind Linke zur Verantwortung zu ziehen, die sich nicht in allerletzter Radikalität in eine Fundementalopposition zu diesem widerwärtigen Drecksland begeben und sich ausgerechnet an der Fahne Israels stören. Das Gegenteil von gut ist in der Welt von Kapital, Staat und ihren Fetischen leider, leider, leider gut gemeint.

XOXO,
Solarium – kommunistische Gruppe Bremen.

post scriptum: Zum konkreten Inhalt dieses Textes sind Diskussionsveranstaltungen geplant, außerdem werden wir in den nächsten Monaten versuchen Vorträge zu organisieren, die den im Text artikulierten Ansprüchen an eine Gesellschaftskritik Folge leisten möchten. Dazu bei Zeiten mehr.

1Unser entsprechendes Flugblatt: https://antideutschorg.wordpress.com/2019/12/11/der-staat-bist-du-charaktermasken-abschminken/
2Das zeichnet eine Theorie im strengen Sinne aus, dagegen zielte der Begriff der kritischen Theorie von Max Horkheimer.
3Das hat Marx in seiner Auseinandersetzung mit den ökonomischen Theorien von Adam Smith und David Riccardo erkannt, weswegen er ihnen eben keine alternative ökonomische Theorie entgegen stellte, sondern eine Kritik der politischen Ökonomie.
4Oder auch kantisch: als transzendental Subjekt auf den alle Vernunft bezogen ist.
5Die gesamte Geschichte der Ökonomie als Wissenschaft ist der Streit zwischen der objektiven Wertlehre und der subjektiven Wertlehre, die beide ständig gegeneinander Recht haben und sich doch irren.
6Der Ehrendoktor der Universität Bremen, Alfred Sohn-Rethel, geht dabei so weit , dass er die gesamte Philosophie des Abendlandes seit der Antike als eine versuchte Theoretisierung dieses Geldrätsels versteht – aber dazu bei einer von uns bald geschaffenen Gelegenheit mehr.
7Die notwendig in einem Verhältnis zu der von Marx dargelegten ursprünglichen Akkumulation steht.
8Die Geschichte der Bürgerrrechte der Hansestadt Bremen ist ein Beispiel für die historische Manifestation dieser logisch dargestellten Entwicklung. Wobei selbstverständlich die Komplexität keiner Geschichte – weder die Bremens noch die des britischen Königreiches – nahtlos in dieser linearen Logik aufgeht.
9Die Dialektik einer Aufklärung, die sich in ihr Gegenteil umkehrt, zeigt sich auch im Kolonialismus, durch den als rechts- und staatenlos wahrgenommene Individuen auf brutalste und unmittelbarste Weise ausgebeutet wurden. Der Reiz der nationalen Befreiungsbewegungen für diese Individuen, ob sie sich nun liberal oder sozialistisch artikulierten, liegt in der Verrechtlichung der eigenen Existenz und dem Schutz vor gänzlich irrationaler Willkür.
(Exkurs: Was dieses Moment angeht, so ist nicht nur die Geschichte Vietnams und Kubas, sondern auch die Entwicklung des Realsozialismus im sowjetischen Einflussbereich ein Zeugnis davon, dass der Realsozialismus ein bürgerliches Verstaatlichungsprojekt war, dass sich lediglich im Inhalt – Sozialstaat und Arbeitszwang – von westlichen Nationalstaaten unterschied.)
10Man darf Souverän hier nicht mit den demokratischen Gestalten verwechseln, die temporär in dessen Charaktermaske hineinschlüpfen (und somit selbst auf ein Idealbild von Herrscher bezogen werden). Besonders deutlich wird die Funktion des Souveräns als Verkörperung (der hobbesche Leviathan) dort, wo Person und Funktion zusammengewachsen sind, wie im britischen Königshaus. Die gesamte Fernsehserie the Crown gibt Auskunft darüber, wie wenig Individualität den zur bloßen Charaktermasken degradierten Mitgliedern der Königsfamilie eingestanden werden darf, damit sie ihre Funktion als Idealtyp des Menschen an sich ausüben können. Überhaupt kann in einer Auseinandersetzung mit der britischen Geschichte und den Ritualen der gegenwärtigen Politik viel von einer Souveränität als zu erfüllende Rolle gelernt werden, was in Deutschland im Traum vom Führer und der Projektion auf den amerikanischen Präsidenten verdrängt wird.
11Adorno spricht hier von Ohnmacht.
12Bloßen Funktionsträgern des automatischen Subjekts, hinter denen sich ein empirisches Individuum befindet, dass von sich selbst abstrahieren muss, um funktionieren zu können.
13Wie Marx sehr oft auf Begriffe aus der Theologie und Religionswissenschaft zurückgreift, wenn er versucht die Widersinnigkeit des Kapitals zu fassen.
14Die Dialektik der Aufklärung.
15Wie dieser selbst sagt: „Ich zitier‘ Adorno, doch ich denk nicht dran ihn ernst zu nehmen.“
16Prezident – Menschenpyramiden
17Weil es nicht oft genug gesagt werden kann: eine Linke, die sich auf das Völkerrecht oder die Menschenrechte beruft, ist eine Linke, die in den Formen von Staat und Kapital denkt und damit eine Linke, die ihren einzigen Zweck – die Errichtung der befreiten Gesellschaft – verwirkt hat und damit auf den Müllhaufen (oder Ablagestapel) der Geschichte entsorgt werden kann.
18Der soziale Tod der Subjektlosigkeit ist dabei miteingeschlossen.
19Für alle Kapitalesekreisabsolventen: Das Subjekt verhält sich zum Individuum, wie der Tauschwert zum Gebrauchswert.
20Bruhn, Joachim: „Typisch deutsch“ – Christian R. und der linke Antirassismus, in: Was deutsch ist,Seite 162.
21Der arbeitslose Alkoholiker kann als Deutschrapper über Nacht zum Subjekt werden.
22Bruhn, Joachim: Videomitschnitt vom Konkret Kongress 1993.
23Bruhn, Joachim: Subjektform ist Uniform, auf: https://www.ca-ira.net/verein/positionen-und-texte/bruhn-subjektform-uniform/
24Bruhn, Joachim: Unmesch und Übermensch, in: Was deutsch ist, Seite 96.
25Die vorkoloniale Rassifizierung der britischen Landbevölkerung, die als doppelt freie (frei von besitzt werden und frei von eigenem Besitz) Proletarier zu den Fabriken in die Städte strömte (siehe Malik, Keenan: Multiculturalism and its Discontents) sind ein Beispiel, das diesen materialistischen Begriff von Rassismus gegenüber postmodernen Identitätstheorien deutlich unterscheidet. Aber auch der koloniale Rassismus kann nur im begrifflich hergestellten Bezug der Subjektivität auf Staat und Kapital überhaupt als etwas anderes als bloße Willkür erscheinen.
26Kurzum: sich dem angeblichen Widerspruch zwischen Anarchismus und Marxismus gänzlich zu entziehen.
27Erwähnt sei hier noch Friedrich Engels, der dem deutschen Bürgertum vorwarf, die Mittel – wie den Staat oder den Antisemitismus – der Kapitalakkumulation zum heiligsten Zweck zu verklären.
28Dazu siehe bitte: Scheit, Gerhard: die Meister der Krise.
29Siehe dazu: Redaktion antideutsch.org: Verteidigung der falschen Freiheit, auf: https://antideutschorg.wordpress.com/2019/01/06/verteidigung-der-falschen-freiheit-/ & derselbe: Kann es einen Materialismus geben, der nicht antideutsch ist?, auf: https://antideutschorg.wordpress.com/2018/11/05/wertarbeit/
30Bruhn, Joachim: „Typisch deutsch“ – Christian R. und der linke Antirassismus, in: Was deutsch ist.
31Die Subjekte, die zugleich Individuum wie Charaktermaske sind, sind in sich selbst gespalten.

DER STAAT BIST DU! CHARAKTERMASKEN ABSCHMINKEN!

Flugblatt, das auf der Demonstration ‚Sarrazin, halt‘s Maul‘ am 10.12.2019 in Bremen verteilt wurde.1

Liebe GenossInnen von der Kampagne NIKA Nordwest und sonstige UnterstützerInnen des heutigen Aufrufs. Anders als die autoritären MarxistInnen es raunen, ist das Kapital kein Kreis von Personen, die in irgendwelchen Räumen über das Vorgehen auf unserer Welt entscheiden. Das Kapital ist viel mehr eine gesellschaftliche Synthesis, die alle ausschließt, weil es die Individuen zu Subjekten und die sinnlichen Dinge zu Waren atomisiert und zugleich alle einschließt, indem alles auf den Wert bezogen und dadurch miteinander austauschbar ( also vergleichbar) wird.

Diese gesellschaftliche Synthesis des Kapitals wird im Tausch hergestellt. In ihm werden Waren auf das soziale Verhältnis des Wertes bezogen. Im Tausch allein kann sich der Wert selbst verwerten und kann als scheinbar „automatisches Subjekt“ prozessieren. Eben weil dieses Prinzip in der Gegenwart eine allgemeine Gültigkeit erlangt, und nicht, weil es eine herrschende Klasse mit Profitgier gibt, lässt sich vom Kapitalismus als System sprechen. Der Garant dieses Tauschverhältnisses ist der Staat, der durch seine Monopolisierung der Gewalt ein Recht setzt, das überhaupt erst den Tausch zwischen Freien und Gleichen ermöglicht. Denn wenn sich etwas genommen werden kann, ohne Konsequenzen befürchten zu müssen, braucht sich dafür kein Geld gegeben werden.

Dass die Waren sich nicht selbst zu Markte tragen können, wie Marx anmerkte, heißt in Anbetracht des Tausches als vergesellschaftendes Prinzip, dass der Mensch allein das Subjekt der Geschichte ist und bleibt. Das heißt, dass das „automatische Subjekt“ seine Existenz allein der Handlung von nicht-automatischen, ergo menschlichen, Subjekten verdankt; dass der Staat nur vermittels Subjekten – seien sie PolizistInnen oder PolitikerInnen – erscheinen kann. Wenn Marx allerdings sagt, dass sich die Geschichte scheinbar hinter dem Rücken der Subjekte vollziehen würde, spricht er damit das notwendig und falsche Bewusstsein der Subjekte an. Diese werden zu Charaktermasken,2 die einem fetischisierten Alltagsglauben anhängen und eine bürgerliche Subjektivität erlangen, womit sie das soziale Verhältnis des Wertes reproduzieren, ohne dabei jedoch als Individuen mit ihrer Funktion gänzlich identisch zu sein.

In der von Staat, Kapital und ihren Fetischen bestimmten, bürgerlichen Gesellschaft kann der konkrete empirische Mensch – sofern er das Glück hat, StaatsbürgerIn zu sein und nicht ohne Papiere im Mittelmeer ertrinken muss – nur in der Subjektform überleben. In dieser ist die Individualität zum Accessoire der Persönlichkeit degradiert. Sein Denken ist in die Warenform gebannt, die „erkenntnistheoretisch von der Philosophie und triebökonomisch von der Psychologie verdoppelt und rationalisiert wird.“3 Das Individuum steht also nicht im Gegensatz zur Gesellschaft, sondern die Gesellschaft hat sich ins Innerste des Individuums eingebrannt. Zum Subjekt wird das Individuum, wenn es in der Lage ist, sich selbst als EigentümerIn der Ware Arbeitskraft zu denken, seine eigenen Triebe soweit zu beherrschen, um zur gesellschaftlichen Produktion beitragen zu können. Kurzum: Subjekt sein, das heißt – nach einem Worte von Joachim Bruhn – „Kapital verwertend und Staatsloyal“4 zu sein.

Das Subjekt ist, wovon es selbst in seinem fetischisierten Bewusstsein nur eine Ahnung (als Existenzangst) entwickeln kann, vollauf prekär. Permanent droht die eigene Wertlosigkeit und damit der Verlust der Subjektivität: „Derart ist das bürgerliche Subjekt verfasst, dass es Identität nicht aus sich selbst erzeugen kann, sondern nur im Prozess einer ständigen Abgrenzung, eines permanenten Zweifrontenkrieges gegen das ‚unwerte‘ und gegen das ‚überwertige‘ Leben. Bürgerliche Subjektivität existiert nur in der vollkommenen Leere der permanenten Vermittlung, die sie zwischen den Waren, im Tausch, und um den Preis der ihr andernfalls drohenden Annihilation zu stiften hat.“5

Die erste Front ist eine Abspaltung und Projektion, der eigenen – sich der Verwertung und Verrechtlichung entziehenden – triebhaften Naturbeschaffenheit, auf ein rassifiziertes „Objekt“, dem man den Subjektstatus verweigern muss, um sich selbst als Subjekt wähnen zu können. Die Ambivalenzen zwischen Romantisierung der edlen Wilden und das Streben nach ihrer totaler Beherrschung folgen der dialektischen Logik. In der zweiten Front werden pathisch die eigenen Sehnsüchte auf die „Gegenrasse als solche“ projiziert. Er ist das mörderische Streben des Bürgertums sich selbst zu rassifizieren, die eigene Subjektivität durch Aneignung des angeblich geheimen Wissens der Juden zu erlangen. Diese Abspaltung findet allerdings zweifach statt: ökonomisch im Antisemitismus und politisch im Antizionismus – das eine bedingt das andere so sehr, wie sich Staat und Kapital gegenseitig bedingen.

Dem Antisemiten erscheint das Kapitalverhältnis als Gegenüberstellung von Produktions- und Zirkulationssphäre, wobei die Produktion als „schaffend“ und die Zirkulation als „raffend“ gedacht werden. Dass die Warenproduktion selbst bereits die Zirkulation – den Kauf der Produktionsmittel, ihre Aufwertung durch die gekaufte Ware Arbeitskraft und ihr Weiterverkauf – in sich enthält, kann das fetischisierte Bewusstsein, dass die Wertsteigerung auf magische Weise im Gegenstand selbst vermutet, nicht begreifen. Die Trennung und die Abspaltung erhält das System, ist es doch so möglich, die Produktivität des Kapitalverhältnisses gegen seine ihm innewohnende Destruktivität auszuspielen. In Krisenzeiten der Verwertung erfüllt das Pogrom die Funktion des ritualisierten Opfers an die Gottheit des automatischen Subjekts – von der triebökonomischen Funktion ganz zu schweigen. Der Antizionist wiederum trennt Recht und Gewalt, welche sich gegenseitig bedingen, während er letzteres dem vermeintlich künstlich gesetzten jüdischen Staat zuschlägt, um den eigenen Staat als natürlich gewachsene Entität des Rechts halluzinieren zu können. Die Funktion ist in gewissem Maße analog zum Antisemitismus. Die Fetischisierung des Rechts verdrängt die Gewalt, deren Existenz jedoch unwiderlegbar ist, die einem anderen Subjekt zugeschoben werden muss.

Bei beiden ist der Neid auf das vermeintlich geheime Wissen der Juden nicht von der Hand zu weisen, ist das ihnen Unterstellte doch das eigene Verlangen: Verwertung und Herrschaft. Antisemitismus und Antizionismus sind die negative Ökonomie- und Staatskritik in den Formen des fetischisierten Bewusstseins. Beide sind somit gerade nicht Ausdruck einer Archaik oder Feudalität – im Falle des Irans Beleg seines irgendwie vormodernen Daseins –, sondern im Gegenteil Ausdruck der bürgerlichen Moderne. Politik kann gegen sie nichts ausrichten, sind sie doch keine Unwissenheit, sondern logische Konsequenz der bürgerlichen Subjektivität, auf der jede Vorstellung von Politik notwendigerweise beruht.

Die deutsche Vergesellschaftung ist dabei von einer besonderen Widerwärtigkeit. Richard Wagners affirmative Emphase, dass es deutsch sei, eine Sache um ihrer selbst Willen zu tun, bekommt ihre historische Wahrheit in der antisemitischen Vernichtung um der Vernichtung Willen. Ihren materialistischen Gehalt erhält sie durch den Verweis auf Adornos Rede, dass ein Deutscher jemand sei, der keine Lüge aussprechen könne, ohne sie selbst zu glauben. In aller Kürze heißt das, dass die Unwahrheiten der bürgerlichen Gesellschaft im Nationalsozialismus auf brutalste Art und Weise beinahe wahr gemacht worden ist, wie die bloß über den Wert vermittelte vermeintliche Egalität der Klassengesellschaft zur Auflösung des Klassenwiderspruchs in der Egalität des Mordkollektivs, wie der Traum von der krisenfreien Ökonomie in der kriegerischen Konsumgemeinschaft. Das Erbe dieser Gemeinschaft lebt fort im postnazistischen Sozialpakt, in der Unterstützung antisemitischer Mörderbanden, dem Aufschwingen zur moralischen Weltmacht und in der stetigen Möglichkeit, sich im Angesicht der Krise erneut auf die altvertraute – beinahe erfolgreiche – Krisenlösung zu besinnen.

Alles was bisher über Subjektivität gesagt wurde, gilt natürlich auch für den deutschen Staat, der nur durch seine StaatsbürgerInnen überhaupt sein kann und der sich eben nicht bloß durch Wirtschaftsbosse und PolitfunktionärInnen ausdrückt, sondern in dem jedeR einzelneR StaatsbürgerIn in eine entsprechende Charaktermaske schlüpft. Das Ausspielen der klassenbewussten Antifa gegen die rassistischen FunktionärInnen von Staat und Kapital verkennt die gerade in Deutschland (gern) praktizierte Verbindung von Mob und Elite. Verkennt, dass der arbeitslose Faschist in Ostdeutschland mit den Sarrazins, Höckes und den Mitgliedern des Wirtschaftsclubs Havanna in Bremen in einem Verhältnis steht; dass sich die Subjektivität der ersten in Abschiebungen und Bevölkerungspolitik äußern kann, während letztere zur Festigung ihrer bürgerlichen Subjektform – und das hat Joachim Bruhn im Fall eines Mörders von Solingen bereits auf dem Konkret Kongress 1993 deutlich dargelegt – einzig und allein der rassistische Mord bleibt.6 Die von buchgläubigen Kommunisten erstrebte Emanzipation der Deutschen zu Menschen, betrifft jeden Staatsbürger auf unterschiedliche Weise, aber doch gleichermaßen.

Dies festzustellen ist nicht gleichbedeutend mit einer Verdrängung der berechtigten Wut auf die Charaktermasken der politischen und ökonomischen Macht oder einer Predigt für den Verzicht auf nonverbalen Kommunikation mit autoritären Dreckssäcken – notfalls auch vermittelt über deren Eigentum. Vielmehr ist dies festzustellen, um die Gemeinsamkeiten der rassistischen Formierung im Bewusstsein zu behalten, ohne dabei die einen zum bloßen Fußvolk der Anderen zu machen. DeutscheR – und das heißt manifesteR AntisemitIn und RassistIn – zu sein, ist eine Entscheidung, für die jedeR im sartre‘schen Sinne zur Verantwortung zu ziehen ist.

Und ebenso sind Linke zur Verantwortung zu ziehen, die sich nicht in allerletzter Radikalität in eine Fundementalopposition zu diesem widerwärtigen Drecksland begeben. Das Gegenteil von gut ist in der Welt von Kapital, Staat und ihren Fetischen leider, leider, leider gut gemeint, liebe Genossinnen und Genossen von NIKA Nordwest.

Please don‘t shoot the messenger,
Solarium – kommunistische Gruppe Bremen.

1Dieses Flugblatt ist die gekürzte (und auf den Aufruf: https://www.nationalismusistkeinealternative.net/bremen-sarrazin-halts-maul-gegen-rassismus-und-klassenkampf-von-oben/ zugespitzte)
Version eines internen Kommuniqués zur Verständigung über Kapital, Staat, ihre Fetische und dieses deutsche Scheiszland, das in den nächsten Wochen in Gänze auf antideutsch.org veröffentlicht wird.
2Bloßen FunktionsträgerInnen des automatischen Subjekts.
3Bruhn, Joachim: Was deutsch ist,S. 162.
4Bruhn, Joachim: Videomitschnitt vom Konkret Kongress 1993.
5Bruhn, Joachim: Was deutsch ist, S. 96.
6Bruhn, Joachim: „Typisch deutsch“ - Christian R. und der linke Antirassismus, in: Was deutsch ist.

Was bedeutet: Nie wieder Deutschland?

Anlässlich des 03. Oktobers veröffentlichen wir an dieser Stelle eine ungehaltene Rede von Joachim Bruhn.1

Liebe Linksradikale,
der Zusammenbruch des Staatskapitalismus im Osten und der klägliche Abgang des „neuen Deutschland“ jenseits der Elbe ist, alles in allem genommen, ein abermaliger und glänzender Beweis für die Richtigkeit der alten antiimperialistischen, von Mao-tse-tung stammenden Parole, wonach Staaten Unabhängigkeit wollen und Völker ihre Befreiung. Nun ist es zwar mit der „sozialistischen Nation“ in der DDR nichts geworden und auch der „Staat des ganzen Volkes“, von dem die Marxisten-Leninisten so schwärmten, hat vor seinem Volk kapitulieren müssen – aber die Prognose, die Walter Ulbricht 1954 auf dem IV. Parteitag der SED verkündet hat, hat sich immerhin bestätigt: „Wir sind für die Einheit Deutschlands, weil die Deutschen im Westen unsere Brüder sind! Weil wir unser Vaterland lieben! Weil wir wissen, daß die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands eine unumstößliche, eine historische Gesetzmäßigkeit ist und daß jeder zugrunde gehen wird, der sich diesem Gesetz entgegenzustellen wagt!“ So ist es eben mit der Dialektik – sie geht ihren Verwaltern, den Parteikommunisten, erst über den Verstand und bricht ihnen dann das Kreuz. Und so wollen wir doch, bei aller Polemik gegen den „Anschluß“ und bei aller nur zu gut begründeten Abneigung gegen das im Anmarsch befindliche allerneueste Deutschland, nicht vergessen, daß Deutschlands Linke mitsamt ihrem „sozialistischen Staat“ nicht zuletzt deshalb schlagartig überflüssig geworden ist, weil sie zu den „Siegern der Geschichte“ gehört. Denn was waren die Ereignisse des Oktober 1989 anderes als ein leibhaftiger Volksaufstand, eine spontane Erhebung und veritable Revolution für ganz genau das „Recht auf nationale Selbstbestimmung“, das Deutschlands Linke jahrzehntelang, wenn auch für die Basken und die Palästinenser, eingeklagt hatte? Und was bewiesen die Leipziger Montagsdemonstrationen anderes als die Existenz jenes geheimnisvollen Zusammenhanges von „nationaler und sozialer Befreiung“, den Deutschlands Linke immer nur für Irland und die Westsahara gelten lassen wollte? Und was beweist es schon gegen die Richtigkeit dieser Diagnose, daß Deutschlands Linke, weil sie den irgendwie verdächtigen Völkern, den Tirolern, Schlesiern und so weiter, dies „Recht auf nationale Selbstbestimmung“ kurzerhand absprach, vom drohenden Untergang der Sowjetunion und ihrer bevorstehenden Auflösung in die souveränen Staaten der Georgier und Aserbaidschaner, der Litauer und
bald auch der Ukrainer, gänzlich überrascht wurde und noch immer wie bewußtlos ist?

So drückt die Feststellung, daß die Linke zu den Siegern gehört und darum abdanken kann, ein reales Paradox aus, den Widerspruch nämlich, daß ihr eigenes Dogma und Prinzip derVolkssouveränität, in dessen Namen sie dem bürgerlichen Staat wg. Flick und Konsorten das Recht bestreitet, „uns alle“ zu repräsentieren, auf der ganzen Linie gewonnen hat, während sie jedoch zugleich die reale Betätigung dieser Souveränität und die wirklichen Konsequenzen dieses Rechts auf „nationale Selbstbestimmung“ einigermaßen und ganz zu Recht abscheulich findet. Der Form halber hat die Linke gewonnen und im gleichen Moment wirklich verloren. So muß sie die Konsequenzen einer Entwicklung kritisieren und bekämpfen, deren Prämisse und Prinzip sie doch gleichwohl anzuerkennen gezwungen ist. Das bringt sie natürlich in eine einigermaßen haltlose Lage und in eine ziemlich hoffnungslose Situation, in das Dilemma nämlich, die SchönhuberPartei bekämpfen zu müssen, obwohl sich die Republikaner, wenn auch für Tirol, auf das ganz genau gleiche und identische Recht berufen.

Die schöne Parole „Nie wieder Deutschland“ erweist sich als ziemlich geschmäcklerisch im Munde von Leuten, die kaum eine Gelegenheit verpaßt haben, den „Sieg im Volkskrieg“ zu predigen oder vom „gerechten Kampf“ des kurdischen, persischen oder sonst eines Volkes zu schwärmen. Nichts anderes rächt sich hierin als der völlige Ausfall und die radikale Abwesenheit jener materialistischen Staatskritik, die aus der marxschen Kritik der – immerhin! – politischen Ökonomie zu entwickeln seit „’68“ allemal Zeit genug gewesen wäre. Und nicht zuletzt darin zeigt sich die geistige Subalternität der deutschen Linken im Verhältnis zum Staatskapitalismus und seiner objektiven Ideologie, dem Marxismus-Leninismus, daß sie dessen Machinationen von der „sozialistischen Anwendung des Wertgesetzes und der Ware-Geld-Beziehung“ und gar vom „sozialistischen Staat“ insgeheim anbetete. Sie agiert derart resolut antikapitalistisch, daß sie schon pro-etatistisch denkt, daß sie eine „Diktatur des Proletariats“ als die äußerste und geballte Form des politischen Willens gegen die Anarchie des Marktes setzen möchte, aber damit doch nur die Despotie der Fabrik auf die Gesellschaft ausdehnt. Der Staatskapitalismus im Osten war die bloß halbierte bürgerliche Gesellschaft, die Emanzipation von Fabrik und Kaserne zum gesamtgesellschaftlichen Herrschaftszusammenhang. Darin war er zugleich Staat, der seinem Begriff gerecht wurde, Herrschaft, deren Befehle galten. Und der Begriff des „Staates des ganzen Volkes“ besagt darin nur, daß der sozialistische Staat wie noch jeder Staat bestrebt und gezwungen ist, seine Untertanen zu homogenisieren, sie zum einheitlichen und nur so bearbeitbaren Material seiner Zwecke zu formen.

Der Staat ist ein Produktionsverhältnis, und das Volk ist sein Produkt. Volk ist das Resultat und das Gesamt all jener Praktiken der Zusammenfassung, Verdichtung und Organisation der Einzelnen zum quasi-organischen Zusammenhang, zur zweiten Natur, die der Staat verwaltet. Wer Volk sagt, meint Staat. Wer für die Volkssouveränität eintritt, redet der Zentralisierung des Willens in der Form der Politik das Wort und arbeitet, und sei es im formalen Widerspruch und Widerstand gegen die jeweilige Regierung, an der Transformation der Leute in Volksgenossen.

Man muß es zugeben: Der Zusammenbruch des Staatskapitalismus ist eine Befreiung, eine Befreiung von genau jener Staatsaktion der „sozialistischen Homogenisierung des Volkes zum klassenlosen Arbeitskörper“, von der Nicolae Ceaucescu, der proletarische Kaiser der Rumänen, immer so begeistert war. Aber die bevorstehende Wiedervereinigung vereinigt zugleich die westlichen mit den östlichen Praktiken der Homogenisierung, der Produktion nationaler Identität. Volk kann positiv gar nicht bestimmt werden, niemand, nicht einmal Weizsäcker, kann mit Anspruch auf allgemeine Geltung sagen, was das denn ist: deutsch. Das „Wesen“ der Menschen im Aggregatzustand des Volkes ist nur negativ bestimmbar, in Aggression und Kampf gegen die, die es garantiert nicht sind. Identität, zumal nationale, ist der Tod. Der Staatskapitalismus hat versucht, das Volk im Kampf gegen „den titoistischen Virus, das bürgerliche Gift, den trotzkistischen Krebs“ (Arthur Koestler), nicht zuletzt im Kampf gegen den „wurzellosen Kosmopolitismus“ zu einen und zu erschaffen. So wurde die realsozialistische Variante des Antisemitismus erfunden, der Antizionismus. Wie sagte doch der Ministerpräsident der DDR, Otto Grothewohl: „Der Kosmopolitismus, der gegen die nationale Souveränität der Völker polemisiert und das Nationalbewußtsein als eine überholte und unmoderne Gefühlsduselei abtut, redet einem wurzellosen Weltbürgertum das Wort.“ So hatte sich der sog. „marxistisch-leninistische Begriff der Nation“ glänzend darin bewährt, das Vokabular und die Intentionen des Antisemitismus für das allerneueste Deutschland aufzubewahren. Schon vor der Wiedervereinigung hatte derlei revolutionär sich gebärdender Antizionismus in der westdeutschen Linken sein treues Publikum und seine Zeitungen wie etwa Al Karamah aus Marburg, die sich dem Kampf der „arabischen Völker“ verschrieben hat, druckten die Proklamationen eines „Antizionistischen Komitees der sowjetischen Öffentlichkeit“, das sich mittlerweile als Vorläufer des großrussischen Nationalstalinismus der Gruppe „Pamjat“ enttarnt hat. Nun sind die deutschen Antizionisten nachgezogen: Während ihre Kollegen in Rußland unter der Parole „Zionismus = Rassismus = Faschismus“ am nächsten Pogrom arbeiten, widmet sich die deutsche Fraktion der Polemik gegen „die zionistische Auswanderung aus der Sowjetunion“ als Projekt der „Vertreibung und Vernichtung des palästinensischen Volkes“. Die einen vertreiben – die anderen wollen die Fluchtwege sperren.

Das geistige Erbe des Staatskapitalismus durch eine neue Aufklärung der Linken zu brechen – das scheint mir die wesentliche Intention der schönen Parole „Nie wieder Deutschland“ zu sein. Liest man sie materialistisch, dann besagt sie nichts anderes als die Absage nicht allein an Nationalismus, sondern an Nation nur überhaupt. Um zur Kritik des neuen Deutschland tauglich zu sein, muß sich die Linke von ihrem eigenen Nationalbewußtsein befreien, muß die fixe Idee abtun, am Gedanken der Nation ließe sich zu irgendwie progressiv gemeinten und humanistisch gedachten Zwecken anknüpfen.

Die Linke hat die Nation lange genug bloß interpretiert; es kommt aber darauf an, den Nationalstaat zu revolutionieren und zu liquidieren.

Wir danken der Initiative Sozialistisches Forum aus Freiburg für die Genehmigung zur Wiederveröffentlichung, verweisen Interessierte gerne auf deren üppiges Archiv und legen an dieser Stelle allen noch einmal das Buch von Joachim Bruhn ans Herz.

  • Anmerkungen (im Orginal):

1 Diese Rede sollte namens der ISF im Oktober 1991 auf der „Nie wieder Deutschland“-Demonstration in Frankfurt a.M. gehalten werden. Ein Studentenfunktionär der Linken Liste, der später postmodern mit der Zeitschrift „Die Beute. Politik und Verbrechen“ Aufsehen erregte, untersagte dies jedoch mit Argument, die Rede sei „spalterisch“ – was eben ihr Sinn war, denn von den 20.000 Demonstranten war mindest die Hälfte mit den Nationalwimpeln des „besseren Deutschland“ unterwegs.