Anlässlich der Wiederveröffentlichung der Doktorarbeit Wolfgang Pohrts im Rahmen der gesammelten Werke haben wir mit dem Mitherausgeber Arne Kellermann einige Gedanken und Diskussionen über die Theorie des Gebrauchswerts wieder aufgegriffen, die im Zuge seines kurzen Vortrags auf unserer Pohrt-Gedenkveranstaltung im April aufkamen. Im Vorfeld der Veranstaltung haben wir bereits mit Klaus Bittermann gesprochen. Ein Großteil des Abends – darunter die Vorträge von Arne Kellermann und Klaus Bittermann – wurde aufgezeichnet und veröffentlicht.
antideutsch.org: Du hast mit Klaus Bittermann den kürzlich erschienenen ersten Band der Pohrt-Werke herausgegeben. Auf dem von uns organisierten Abend im Gedenken an Wolfgang Pohrt hast du die Einleitung der 1976er Version vorgelesen – warum erschien Dir diese passender als die von 1995?
Arne
Kellermann: Also: erstmal muss ich sagen, dass ich den Ausdruck
„passender“ hier unpassend finde: Die Einleitung von 1976 ist in
der Gegenwart nicht passender als die von 1995. Wie ich im
Editorischen Nachwort für die jetzige Werkausgabe festgehalten habe:
„So [wie 1976] war schon 1995 nicht mehr zu schreiben.“ Für Eure
Veranstaltung jedoch hatte ich mich entschieden, die alte Einleitung
vorzulesen, weil sie helfen kann, sowohl Pohrts Werk als auch unsere
eigene Zeit zu begreifen. Pohrts Pointe war es hingegen nicht, die
eigene Zeit bloß zu begreifen, sondern er kämpfte – vornehmlich
durch seine Schriften – dafür, dass die Menschen ihre Zeit dazu
nutzten, gesellschaftliche Befreiung zu verwirklichen. Heute scheint
mir diese Perspektive unter dem Schrottberg neoliberaler
Geo-Polit-Ökonomie vollkommen verschütt‘ gegangen zu sein. So
schien es mir wichtig, die Einleitung von 1976 – also vom Anfang
der neoliberalen Epoche – vorzutragen, weil Pohrt da noch anders
gegen die kapitalistische Welt polemisiert hatte. In dem Text findet
sich ein unnachahmlicher Gestus von „Empörung“ – das Wort kann
man ja heute kaum noch gebrauchen –, der aber tatsächlich nicht
auf bloßen Moralismus hinauslief, sondern auf die revolutionäre
Veränderung der Welt.
Du
sprichst hier wieder selbst den Neoliberalismus als Epoche an. Du
hattest auf der Veranstaltung Pohrt den Revolutionär des
Neoliberalismus genannt und jetzt redest Du wieder von der
revolutionären Veränderung der Welt – die Bezeichnung fand ich
damals interessant. Meinst Du aber nicht, dass Pohrt gerade im
Angesicht der deutschen Bewegungen berechtigten Schrecken vor einer
revolutionären hatte?
Klaus
Bittermann sagte mir, dass Pohrt mit einer solchen Bezeichnung wohl
nicht einverstanden gewesen wäre. Wenn ich aber eben schon gesagt
hatte, dass mir die alte Einleitung so wichtig ist, um unsere Zeit zu
begreifen, dann geht es mir bei der Bezeichnung nicht so sehr darum,
Pohrt beim Buchstaben zu nehmen, sondern seine Stoßrichtung zu
begreifen. Und dafür ist die Einleitung von 1976 äußerst
hilfreich. Wenn ich sage, dass Pohrt der Revolutionär des
Neoliberalismus war, dann meine ich ja nicht, dass er sich jeden Tag
eine Barrikade gesucht hätte, sondern vor allem, dass der
durchgehende Impuls seines Schreibens darauf ging, die Menschen noch
vor sich erschrecken zu lassen, um ihnen – wie Marx sagt –
Courage zu machen. Und zu diesem Zweck hat Pohrt sich nach der
Theorie des Gebrauchswerts nicht mehr so sehr in die Theorie
gestürzt, sondern politisch-kulturellen Phänomenen seiner Gegenwart
zugewandt. In diese hat er auf unterschiedliche Art und Weise
versucht, derart einzugreifen, dass es vielleicht doch noch einmal
klappen könnte.
Auf
unserer Veranstaltung wurden ja Texte aus dem gesamten Werk Pohrts
vorgetragen, das von Klaus Bittermann in vier Phasen unterteilt
wurde. Bestimmen die Phasen diese jeweils unterschiedliche Art und
Weise?
Genau. So weit ich das beurteilen kann, ist Bittermanns
Unterscheidung vollkommen richtig. Tragend für diese Veränderungen
bleibt aber meines Erachtens der revolutionäre Impuls, der sich eben
immer wieder an der Gegenwart abgearbeitet hat. Wenn ich vom
Neoliberalismus spreche, dann darf man das ja auch nicht als
vollkommen gleichförmige Epoche verstehen: Im Neoliberalismus gab es
sehr wohl Veränderungen, deren immanenter Hässlichkeit Pohrt sich
jeweils entgegengestellt hat. Dennoch kann man, denke ich, einen
durchgängigen Zug seiner Texte ausmachen. Vielleicht kann ich das
anhand des Anfangs unseres Gesprächs verdeutlichen: Pohrt hätte
sich niemals einen solch miesen Kalauer wie das Unpassende des
„passenden“ erlaubt; auch hätte er sich nicht eines
altväterlichen „Also“ bedient. Der müde Witz produziert doch
nur das Einverständnis mit der langweiligen Welt; das anmaßende
„also“, was von alpha bis omega die Allwissenheit über die
Buchstabenwelt suggeriert, indem es von ALLem her kommend, SO die
Welt hinter sich zu wissen vorgibt. Das selbstherrliche Gefühl
konformistischen Aufmuckens war doch gerade das, was die Welt im
Kapitalismus gefangen hält. Wichtiger für das, was ich mit dem
Revolutionär des Neoliberalismus meine, scheint mir aber noch ein
dritter Punkt zu sein: Pohrt hatte sehr früh verstanden, dass sich
der zurückgeschlagene Befreiungsimpuls von ’68 ein gemütlicheres
Zuhause suchen würde. In der Einleitung von ’76 schreibt er etwa von
der „Neuen Subjektivität“, die sich innerhalb der gegebenen Welt
Autonomie vormachen will. Revolutionär war es im Neoliberalismus
eben, solche Pseudoautonomie jeweils auf ihre materiellen Grundlagen
zurück zu verweisen und den Pseudosubjektiven bissig ihre
Selbstherrlichkeit um die Ohren zu hauen. Heute verliert man sich
hingegen in solchen viertel-gebildeten Wurstigkeiten, wie etwa über
das alpha und omega des „also“ zu schwadronieren.
Genug
also von solch leerlaufender Selbstbezüglichkeit – das ist doch
affig! Wolfgang Pohrt bemerkt im Vorwort der 1995er Einleitung
(„twenty years after“), dass das mit den Worten „dem
akademischen Marxismus zum Gedächtnis“ vorangestellte Zitat
mittlerweile obsolet sei. Diese Bemerkung erscheint sinnbildlich für
den Unterschied zwischen 1995 und 1976. Aus heutiger Sicht muss man
feststellen, dass der akademische Marxismus zurückgekommen ist –
wenn er auch das revolutionäre Potenzial mittlerweile endgültig
domestiziert hat. Welchen Beitrag kann die Wiederveröffentlichung
(inklusive der vergleichenden Gegenüberstellung) zur heutigen
Auseinandersetzung mit Marx leisten?
Erstmal
muss ich Dir vollkommen Recht geben: es ist affig. Und ich denke, das
gilt auch für nahezu all das postkulturelle Zeugs, das heute
produziert wird und zu dem ich auch den (akademischen) Marxismus
zählen würde. Kritische Theorie – von Marx, über Horkheimer und
Adorno bis zu Pohrt – hatte ja immer versucht, die objektiven
Möglichkeiten guten Lebens der jeweiligen Gegenwart mit dem zu
konfrontieren, was deren Verwirklichung gewaltvoll und herrschaftlich
den Weg abschnitt – und solchen Gegensatz eben bis in die Subjekte
hinein zu verfolgen. Wie aber für jene neue Subjektivität gilt,
dass sie ja nicht einfach das offen Inhumane angestrebt hatte, so
sollte man wohl auch nicht allzu harsch mit dem akademischen
Marxismus ins Gericht gehen: Teil der neuen Subjektivität war ja
nicht nur, dass man sich in esoterischem Raunen verlor, sondern auch
Kämpfe innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise geführt hat,
die – wie die Frauenemanzipation, oder die relative Zurückdrängung
von Homophobie und Xenophobie – Individuen ein glückenderes Leben
beschert haben. Ebenso stimmt es, dass der akademische Marxismus die
eine oder andere Pointe herausgestellt hat, inwiefern Marx wirklich
immer schon Besseres meinte als den Stalinismus. Dass er auch zeigen
konnte, wie provisorisch manche „Grundwahrheiten des Marxismus“
für Marx selber gewesen sind, ist nicht vollkommen bedeutungslos.
Pohrt selbst hatte aber – auf der Veranstaltung in der Volksbühne
2012 – darauf hingewiesen, wie weit etwa die ansatzweise
realisierte Frauenemanzipation vom Ziel einer Befreiung zur
Menschheit entfernt blieb. Und damit traf er nicht nur das – trotz
allem – Partikulare der seitherigen Befreiungsbewegungen, sondern
auch, dass kaum noch etwas gedacht wird, was wirklich – marxistisch
oder nicht – auf eine solche Befreiung zur Menschheit
hinausdeutete. – Das Wort von der „Befreiung zur Menschheit“
kommt nun aber schon wieder von mir. Vielleicht darf ich das dafür
nutzen, zu meiner Einschätzung über die Bedeutung der
Neupublikation zu kommen.
Nur
zu, wir bitten darum.
Zuerst
einmal muss ich sagen, dass ich finde, dass die Frage nach der
Bedeutung für eine „heutige Auseinandersetzung mit Marx“ schon
an dem vorbei geht, was das Wichtige an Pohrts Schrift war: dass die
Frage eigentlich selbst schon Richtung akademischer Marxismus
geleitet. Kolja Lindner hatte zum Neuerscheinen der Theorie des
Gebrauchswerts 1995 eine lange Rezension verfasst, die sich auch
online findet. Dort kann man nachlesen und nachempfinden, was der
kluge akademische Marxismus zu Pohrt zu sagen hätte: Einige Dinge
(in Marx‘ Werk) hatte Pohrt nicht beachtet; einige andere
Fluchtlinien der kapitalistischen Entwicklung hätte er anders fassen
müssen etc. Ich habe die Rezension mit Gewinn und mit Ekel gelesen.
Wenn Lindner etwa meint, dass Pohrt sich doch lieber Überlegungen
hätte hingeben sollen, die seiner Zeit die Regulationstheorie
hervorbrachte, dann muss ich sagen, dass es unser Glück ist, dass er
es nicht getan hat: Die Frage danach, wie der Kapitalismus sich nun
wieder reguliert, mag zwar zur Produktion traditioneller Theorie
sinnvoll sein; wahr – im Sinne eines Widerspruchs gegen das
Fortwähren gewaltgrundierter Unfreiheit – ist sie aber nicht.
Zurück zum akademischen Marxismus von heute – um es knapp zu
sagen: Der heutige akademische Marxismus wird sich mit Pohrts Schrift
einfach gar nicht auseinandersetzen. Ob es ihm helfen würde, mag ich
nicht zu sagen: Die Regalmeter Marx-Philologie von heute finde ich –
nach dem, was ich davon kenne – zu uninteressant, um mich
intensiver damit zu beschäftigen. Einzig interessant fände ich die
Frage, wie uns die Wiederveröffentlichung für eine
politisch-emanzipatorische Auseinandersetzung mit der Welt, in der
wir (über)leben, helfen könnte.
Dass
eine Auseinandersetzung mit Marx, die sich nicht mit der Welt
auseinandersetzt, völlig an dem vorbei geht, was Kritik der
politischen Ökonomie oder kritische Theorie intendiert haben – da
sind wir voll bei dir. Es ist ja gerade die Krux an Marxismus und
Marx-Philologie, dass die Abscheulichkeiten der Welt, in der wir
leben, meist nur als Gegenstand erscheinen, auf den eine Methode
angewendet wird. Stattdessen müsste ja jede Auseinandersetzung mit
Marx sich an dessen kategorischen Imperativ – das
Existenzialurteil von dem die kritische Theorie Horkheimers ausgeht
– orientieren und auf radikale Abschaffung das unwahren Ganzen
statt auf dessen Theoretisierbarkeit zielen. Du meinst also, dass die
alte Einleitung genau in diesem Sinne interessant ist? Also sich von
der Masse an akademischen Arbeiten über Marx darin unterscheidet,
dass sie eben nicht nur von bloß historischem Interesse ist?
Ja,
unbedingt. Aber das bedeutet eben auch, dass man sich mit der
vorausgegangenen Geschichte der Gewalt auseinandersetzen muss. Wenn
ich sage, dass Pohrt der Revolutionär des Neoliberalismus war, dann
will das unter anderem darauf hinaus, dass wir nicht mehr im
Neoliberalismus leben. Dieser endete 2007/08. Was in der Einleitung
von 1976 deutlich wird, ist – ex negativo –, dass der
Neoliberalismus wesentlich eine Epoche der Moralisierung und
Kulturalisierung gesellschaftlicher Widersprüche war, die man sich
leisten können musste. Und – zumindest im „Westen“ – auch
konnte. Und das ist ein entscheidender Punkt, der etwas mit jener
Geste der Empörung zu tun hatte: Die Leute, die sich heute auf
Pohrts Theorie des Gebrauchswerts berufen, sind auch die Wortführer
einer Denunziation moralischer Kritik am Kapitalismus. Frappierend
war für mich bei meiner ersten Lektüre von Pohrts Buch, wie
moralisch die Kritik grundiert war. Und das nicht im Sinne
politizistischer Moral, sondern das Moment der Moral war selbst
notwendig geworden, für eine revolutionäre Kritik am Kapitalismus.
Wenn die sogenannten Antideutschen den Kapitalismus heute als
geschlossenes System denken und sich dabei auf Pohrt beziehen, dann
übersehen sie, dass die Systemhaftigkeit des Kapitals mit dem Beginn
des Neoliberalismus gerade dadurch hergestellt wurde, dass die
krassesten Verwüstungen dieser Produktionsweise ab 1970 vom Westen
in die Welt geschickt wurden. Pohrt befand sich 1976 genau in dem
historischen Moment, wo die vulgärste Verelendung Anderen überlassen
wurde und die Zerstörung ferne Landstriche betraf. Aber das ist
vielleicht noch nicht mal das Neue, auf das Pohrt insbesondere in
jener Einleitung zielt: Er nimmt wahr, dass die Menschen anfangen,
sich mit dieser Situation abzufinden und sogar Gefallen daran zu
finden. Die vollkommene Immanenz des Kapitalismus im Westen gründete
damals gerade darauf, dass die Brutalität des Kapitalismus „uns“
primär als moralisches und ästhetisches Problem entgegentrat: Die
Verelendenden der (dritten) Welt waren dann doch bald zu weit weg und
im sogenannten Systemkonflikt flüchtete man dann eben amoralisch in
eine „neue Sensibilität“. 1976 heißt es dazu noch: „Wer vom
Kapitalverhältnis, von den Formbestimmungen nicht reden mag, der
soll auch über Bedürfnisse schweigen, und umgekehrt.“
Du
sprichst hier den Moment der Kritik an der kapitalistischen Totalität
an, in dem sie sich selbst im Systematischen (verliert) und den
Einzelmenschen aus dem Blick verliert. Das haben ja bereits Jean
Amery oder auch Paul Celan gegenüber Adorno angemerkt. Uns scheint
es oft, als hätten die meisten, die sich heute als „antideutsch“
bezeichnen, Adornos Diktum „Wer denkt, ist nicht wütend“
einseitig und falsch dahingehend zum Dogma gemacht, dass sie der Wut
auf die falsche Einrichtung der Welt jede Berichtigung nehmen,
anstatt sie durch Sublimation als einen Motor der Kritik zu
betrachten. Und das, obwohl diese Wut eigentlich sehr zentral ist bei
Pohrt, Bruhn oder anderen, die als antideutsche Klassiker verstanden
werden. Wobei die Kanonisierung als Klassiker, deren Erbe man
verteidigen möchte – wie es unlängst von der Bahamas gegenüber
dem ISF und der Sans Phrase versucht wurde – wahrscheinlich gerade
das ist, was dazu geführt hat, diese Wut zu historisieren, zu
domestizieren und schließlich aus dem eigenen Denken zu liquidieren.
Ja,
und in gewissem Sinne zwingt uns Pohrt schon 1976 dazu, solche
Tendenzen kapitalistischer Ideologie als das zu begreifen, was sie
werden wollten: Die moralischen Implikationen fortwährender
kapitalistischer Ausbeutung und Gewalt waren damals zentrales Moment
von Pohrts Kritik an den Grundlagen des Kapitalismus seiner Epoche.
Das deutlichste Beispiel, das ich gerne dafür heranziehe, bezieht
sich auf die praktizierte Gedankenfreiheit der „sogenannten
Creativen“. 1976 heißt es, dass auch ihnen noch „die Reflexion
auf die gesellschaftliche Bestimmung ihrer Tätigkeit wie ihres
Produkts verboten [sei]. Sonst würden sie kaum den sich allmählich
zu Tode langweilenden Mittelstand mit Urbanität, Ästhetik,
Kommunikation und anderen Spielarten der neuen Lebensqualität
beglücken wollen, ihm auch keine Creativität und neue Sensibilität
einreden, auf deren vermeintlichen Besitz er am Ende gar noch stolz
ist, um sich desto behaglicher in seinem Alltag voller kleiner
Schandtaten einzurichten, sondern sie würden ihm, wenn er weinerlich
Isolation und mangelnde Kommunikation beklagt, Camus’ Losung
»Solitaire? Solidaire!« unter die Nase reiben und ihm erklären,
daß dies heute heißt, sich für die eigene Schuld am Schicksal der
Verhungernden, Abgeschlachteten und zu Tode Gefolterten in der
Dritten Welt etwas mehr als nur zu interessieren.“
1995
heißt es da nur noch: „Sonst würden sie kaum den sich krank
langweilenden Mittelstand mit Urbanität, Ästhetik, Kommunikation
und anderen Spielarten der neuen Lebensqualität beglücken wollen,
ihm auch keine Kreativität und neue Sensibilität einreden, auf
deren vermeintlichen Besitz er am Ende gar noch stolz ist, um sich
desto behaglicher in seinem Alltag voller kleiner Schandtaten
einzurichten, sondern sie würden ihn, wenn er Isolation und
mangelnde Kommunikation beklagt, an Camus’ Losung »Solitaire?
Solidaire!« erinnern.“ – aus dem Zu-Tode-Langweilen, ist die
Krankheit erwachsen, in die sich die Westler mittlerweile geflüchtet
haben; der Weinerlichkeit, der nur restrevolutionäre Hoffnung ihre
Substanz absprechen kann, sollte noch etwas unter die Nase gerieben
werden – eine Geste, die heute wohl nur noch als autoritär
wahrgenommen würde. Entscheidend ist aber die Formulierung, dass man
sich eben „etwas mehr als nur zu interessieren“ hätte. Pohrt
bringt dies eloquent und treffend mit jener Langeweile – dem
subjektiven Ausdruck der Zerstörung des Gebrauchswerts – zusammen.
Aber gerade dafür war emanzipatorische Kritik des Kapitalismus daran
gebunden, die Opfer jenseits des eigenen Nationalstaats auch –
eben: mehr als – wahrzunehmen.
Das
bringt uns zurück zu einer anderen Frage: An besagtem Abend ging es
häufiger um das „revolutionäre Feuer“ beziehungsweise darum der
„Utopie in der Negation die Treue zu halten“ und es wurde
gefragt, wie viel davon im Spätwerk Pohrts noch zu finden sei. Dass
die Erstveröffentlichung hoffte, ein schwelendes Feuer weiter
anzufachen, wird im Rückblick, den Pohrt 1995 geworfen hatte,
deutlich. Ist dir bekannt, wie er in den letzten Jahren seines Lebens
auf den Sinn und Zweck der 1995er Ausgabe blickte; welches Verhältnis
er darin zur Utopie und Revolution entwickelte? Welchen Sinn und
Zweck würdest du ihr zuschreiben, welches Verhältnis zur Revolution
und Utopie erblickst du darin?
In
dem genannten „Editorischen Nachwort“ heißt es dazu knapp, dass
Pohrt „Anfang 2000 das Interesse an dem Buch verlor“; dabei
berufe ich mich auf eine Aussage von Klaus Bittermann. Selber kann
ich dazu nicht viel mehr sagen, weil ich mit Pohrt über diese Dinge
nie habe sprechen können. Zu seiner Perspektive auf Utopie und
Revolution würde ich auf eines seiner letzten Bücher verweisen, wo
er ungefähr schreibt, dass von Sozialismus erst wieder zu sprechen
sein wird, wenn sich die Lebensbedingungen im Westen denen Ugandas
angeglichen haben werden. Man könnte das resignativ nennen; meiner
Meinung nach findet sich aber selbst hier – trotz einiger
problematischer Aspekte von Pohrts späteren Schriften – noch jene
revolutionäre Geste, von der ich sprach – wenn auch eben wieder in
„aktualisierter“ Form: Die objektiven Fluchtlinien des
Kapitalismus am Ende der neoliberalen Epoche werden gesehen und die
potentiellen Leser mit ihrem Verhältnis dazu konfrontiert. Dass
„wir“ es nicht darauf hinauslaufen lassen werden, dass sich der
Kapitalismus bloß „gesetzmäßig“ realisieren wird, ermöglicht
uns noch einmal davor zu erschrecken, wohin wir auf Reisen gehen
werden – nicht zuletzt aufgrund unserer eigenen Barbarisierung. Das
moralisch-Selbstherrliche unseres Weltverhältnisses, das wir uns in
der neoliberalen Epoche antrainiert haben, schlägt uns Pohrt nunmehr
aus der Hand, gerade indem er uns auf die Verhärtung stößt, die
sich in dem sicheren Gefühl ausspricht, dass „der Westen“ und
also wir jene Angleichung auf gar keinen Fall zulassen werden. Die
Universalität der Moral, die 1976 noch offener Bezugspunkt der
Polemik war, wird indirekt angespielt, wenn Pohrt uns noch die eigene
Bereitschaft zum nächsten Schritt der Barbarisierung vorfühlen
lässt.
Ein
ähnlicher Punkt ist es auch, den ich an der Publikation der
Einleitung von 1976 heute für bedeutsam halte: Durch ihre Lektüre
kann man sich vors Denken führen, welche Schritte der Barbarisierung
wir seither schon gegangen sind. Im Kontrast zwischen der Einleitung
von 1976 und 1995 und deren Verhältnis zum Text selbst, lässt sich
einerseits nachvollziehen, was die geo-polit-ökonomischen Grundlagen
für die Entwicklungen nach 1975 gewesen sind und andererseits, wie
sich die Affirmation der siegenden Ohnmacht im Westen in der
Wunschlosigkeit der Leute hier niedergeschlagen hat. Utopisch –
also ortlos – ist die Revolution ja geworden, weil die Wohlhabenden
sie zu der Zeit, in der sie sie sich hätten leisten können, nicht
gemacht haben. Was nun noch kommen kann, ist schwierig zu sagen: Die
kapitalimmanente Standortkonkurrenz, in der der Westen zu verlieren
beginnt, sowie die sukzessive Zerstörung von Überlebensgrundlagen
scheinen da kaum Perspektiven zu lassen. Ich sagte vorhin, dass der
Neoliberalismus nach 2007/08 endete; für die Gegenwart hätte ich
keinen Namen anzubieten. Begrifflich – an Hegels Terminologie
anschließend – würde ich sagen, dass die Barbarisierung, die sich
in der neoliberalen Epoche an-sich durchgesetzt hat, nun zum für-sich
wird; dass also die ganze implizite Barbarei, die Grundlage unseres
Lebens gewesen ist, von nun an eben mit Bewusstsein durchgezogen wird
– aus Barbarisierung entspringt eine Faschisierung und die
Verschrottung Griechenlands nach 2010/11; die neuen „sicheren“
Drittstaaten; Trump; Orban usw. sind Phänomene dieser Entwicklung.
Mh,
solch rosige Ausblicke – über deren korrekte Begriffe man
wahrscheinlich an anderer Stelle noch einmal ausgiebiger diskutieren
müsste1
– bringen uns zu einer letzten Frage: Du hattest damals kurz
angemerkt, dass Pohrts Arbeit für dich selbst zu einer Flaschenpost
wurde. Kannst du das weiter ausführen?
Ebenso:
„Mh!“ – einiges davon habe ich ja bereits angedeutet. Neben dem
Gesagten und dem Punkt, dass es tatsächlich befreiend ist,
unbefangene und sprachlich gelingende Kritik am Bestehenden zu lesen,
würde ich sagen, dass er mir durch seine Schriften gezeigt hat, dass
man nicht nur – wie Adorno schreibt – „weder von der Macht der
anderen, noch von der eigenen Ohnmacht sich dumm machen“ lassen,
sondern auch trotz der eigenen Idiotie und der Dummdreistigkeit der
Herrschaft nicht sich kalt machen lassen darf. Und das gilt auch
wortwörtlich: Ein – sozusagen empirischer – Hinweis darauf, dass
die neoliberale Epoche 2008 vorbei gegangen ist, findet sich in den
Selbstmordstatistiken der USA: Während der neoliberalen Epoche hatte
sich die Selbstmordrate auf einem Niveau eingepegelt, das unter dem
Höhepunkt um 1970 lag; seit 2006/07 steigt die Rate wieder drastisch
an. Bedenkt man dann noch die Menschen, deren Tod unter „death of
despair“ rubriziert wird – also die am verzweifelten Drogenkonsum
Verreckten –, dann wird deutlich, wie die eigene Ohnmacht gegenüber
den Herrschaftsverhältnissen sich ins Subjekt verlagert hat: Die
hier einst relativ stillgestellten Widersprüche brechen sich nun
neue Bahnen. Um das zu begreifen ist es aber auch sinnvoll, die
Idiotie beim Wort zu nehmen: Im antiken Griechenland hatte das Wort
idiōtēs eine bloß deskriptive Bedeutung: Idioten waren die,
welche vom politischen Leben der Polis ausgeschlossen waren, also
vornehmlich Kinder, Frauen und Sklaven. Die Dummheit, von der Adorno
sprach, hat sich im Neoliberalismus zum gesellschafts-politischen a
priori verallgemeinert: Der Nationalstaatsbürger ab den 70er Jahren
war ja gerade der, der sein politisches Leben maximal noch im
politischen Rahmen des Nationalstaats geführt hat – und das genau
zu dem Zeitpunkt, in dem der Stoffwechsel mit der Natur sich real
globalisierte. Im Widerspruch zu dieser objektiven Bornierung hatte
Pohrt ’76 gegen die Speerspitze solcher Idiotisierung – eben jene
Arbeit der Kreativen – polemisiert. 1995 war solche strukturelle
Entpolitisierung scheinbar unhinterfragbar geworden – so haben es
etwa die Gewerkschaften selbst im EU-Raum nicht geschafft, sich auf
der übernationalen Ebene kapitalistischer Ausbeutung neu zu
formieren. Keine Frage, dass sich die Gewerkschaften nach dem Zweiten
Weltkrieg schon zu einer staatserhaltenden Institution gemausert
hatten; aber dass selbst noch dieser partikularen
Interessenvertretung der Lohnabhängigen der Boden wegbrach, machte
die Abwendung von einer materiellen Welt, über die man ohnehin
nichts Relevantes vermochte, noch verführerischer.2
In einem seiner letzten Bücher schreibt Pohrt dann nüchtern, dass das Schreckwort Globalisierung erstmal bedeute, dass aus Dritte-Welt-Ländern Konkurrenten geworden sind. Bis 2007/08 hatten es die Nationalstaatsbürger im Westen geschafft, aufgrund ihrer Herrschafts- und Ausbeutungsgeschichte, den daraus erwachsenen Produktivkraftvorteilen sowie durch bloße Gewaltdrohung und -anwendung ihre Pfründe zu sichern. Dass „wir“ langsam den Zugriff auf die Überlebensmittel verlieren, treibt die Leute nun in den Wahnsinn: Abgeschnitten von den geo-polit-ökonomischen Grundlagen dieser Dynamik, halten sich die angehenden Faschisten wahnhaft an die politische Form des Nationalstaats, der ihnen einst real ökonomische Sicherheit gewährte, und reden dabei von „unseren Werten“. Die nicht schon vollkommen Einverstandenen hingegen tendieren gerade aufgrund ihrer objektiven Idiotie zur Aggression gegen das Einzige, worüber sie noch etwas vermögen: sich selbst. Die übermächtige Vereisung emanzipatorischer Impulse drängt zu einer kalten Brutalität nach Außen und nach Innen; dank der – wie Du zu Recht betont hast – wütend-sublimierenden Kritik Pohrts an der damaligen Modernisierung der Herrschaft, ließe sich hingegen der mit der objektiven Idiotisierung einsickernden Kälte die Frage nach heutiger Befreiung entgegen halten.
- - -
1Ein Text zu diesem Thema erscheint wahrscheinlich in der nächsten Ausgabe des Distanz Magazins.
2Arne Kellermann bat uns im Nachhinein an dieser Stelle auf einen Artikel von Theodora Becker und ihm zum Thema der Gewerkschaftspolitik hinzuweisen, weil ihm die Ausführungen zur Dynamik der Gewerkschaften zu kurz geraten schienen. – Diesem Wunsch geben wir gerne nach: https://jungle.world/artikel/2018/01/reichtum-angst