What other Germany?

Dieser Text wurde ursprünglich als Diskussionsbeitrag für eine angestrebte Reflexion des sogenannten Antifa-Sommers in einer Zeitschrift gegen die Realität geschrieben. Er bezieht sich bewusst auf unseren Jungle World Artikel vom letzten Jahr und wurde seit dem Sommer 2020 nicht mehr bearbeitet.

»Das deutsche Volk wird kämpfen, bis es die Niederlage spürt. Wenn es soweit ist, wird niemand mehr unschuldig sein. Sie werden alle kommen und sagen: ›Wir waren dagegen.‹ Das ist der entscheidende Punkt, dem wir uns stellen müssen, und wenn wir daran scheitern – was keine schöne Vorstellung ist –, dann steht vielleicht ein neuer Krieg bevor: ein Krieg, aus dem niemand außer dem ›gutwilligen deutschen Anti-Nazi‹ lebend herauskommen wird.«
– Walter Loeb1

Was vor 20 Jahren im sogenannten Antifa-Sommer zur Staatsdoktrin der Berliner Republik wurde, war die Mär vom anderen Deutschland. Eine Erzählung, die schon zu Zeiten des Londoner Exils deutscher KommunistInnen und SozialdemokratInnen geprägt wurde. Mittlerweile hat die deutsche Erinnerungspolitik die militärische Niederlage in einen moralischen Sieg verwandeln können. Die Kinder und Enkel der Volksgemeinschaft, die nur mit äußerster Härte an ihrem mörderischen Treiben gehindert werden konnte, werfen die Erblast gekonnt ab und inszenieren sich werbewirksam als Nachkommen eines antifaschistischenDeutschlands. Diese Bewegung kulminiert in einem staatstragenden Antifaschismus der Zivilgesellschaft, in dem der 8. Mai als Tag der Befreiung zum Nationalfeiertag erhoben werden soll, ganz so, als wäre man nicht jene Nation, von der die Welt zumindest kurzzeitig befreit worden ist.2 So sehr die Kritik deutscher Erinnerungspolitik zum festen Bestandteil des linksradikalen Einmaleins geworden ist, so wenig wurde die eigene Rolle und Abkehr von der Militanz des revolutionären Antifaschismus in den Fokus gerückt. Doch der Antifa-Sommer und die daraus resultierende zivilgesellschaftliche Politik der Berliner Republik sind einer von vielen Belegen, wie sich eine radikale Linke erfolgreich in das kapitalistische Staatswesen hat domestizieren lassen.3

Das andere Deutschland als Herrschafts-Legitimation

Es gehört zum linksradikalen Allgemeinwissen, dass es bei staatlicher Aufarbeitung der Vergangenheit im Besonderen um gegenwärtige Interessen geht. Was sich im Begriff der Gedenkpolitik widerspiegelt, ist die von Walter Benjamin schon zur Zeit des Nationalsozialismus denunzierte Tatsache: »auch die Toten werden vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein«4. In einer staatlich-verfassten Welt darf es nicht verwundern, dass Staaten versuchen, ihre Legitimation aus der Geschichte zu ziehen: Niemand hat mehr als eine Fortsetzung der Herrschaft zu erwarten. Dass die Geschichte der Erschlagenen nur als Beute der Herrschenden denkbar ist, folgt dieser brutalen Logik. Das sollte niemals außer Acht gelassen werden, wenn über staatliches Gedenken gesprochen wird. Nicht zuletzt gilt das für die zahlreichen linken Oppositionsparteien, auf die so manche in Zeiten der AfD ihre antifaschistischen Hoffnungen setzen.5 Wie schon Karl Marx anmerkte, sind diese als Regierungsparteien im Wartestand zu begreifen, deren Wirken sich nie gegen die Herrschaft und Gewalt als solche richtet, sondern immer nur gegen das aktuelle Regierungspersonal. Die Opposition strebt nicht danach mit der Instrumentalisierung der Toten zu brechen, von der Benjamin sprach. Ihr geht es um eine inhaltliche Verschiebung. Exemplarisch zeigte das die deutsche Sozialdemokratie nach 1918,6 die den Klassenkampf als potenziellen Sieg und nicht als Notwendigkeit das Siegen an sich zu beenden sah, in großer Regelmäßigkeit.

Im Londoner Exil der frühen Vierzigerjahre bewies die deutsche Sozialdemokratie, was realpolitischer Gehalt der geschichtsphilosophischen Überlungen Benjamins war, die zur gleichen Zeit in Paris entstanden. Unmöglich war es ersterer zu großen Teilen, dem deutschen Volk – das aus parteipolitischer Sicht aus potenziellen Wählern bestand – eine Schuld an den Verbrechen des Nationalsozialismus zu geben. Wie 1914 schickte man sich an zu beweisen, dass deutsche ProletarierInnen sehr wohl ein Vaterland hätten. Das schöne Gerede von Solidarität wurde bereitwillig auf dem Altar der nationalen Sache geopfert. Wie alle Altklugen hielt man diese Aufgabe der jugendlichen Radikalität für einen Beweis der eigenen Reife. (Das haben Ex-Linksradikale immer gemeinsam, ob sie nun in den zwanziger Jahren kämpfende KommunistInnen oder in den neunziger Jahren militante Antifas waren.) Mit aller Kraft nahm die deutsche Exil-Sozialdemokratie den nationalen Kampf gegen jene Minderheit von ExilantInnen auf, die bereit waren, das Vaterland für das Wohle der Menschheit zu verraten und dabei gemeinsam mit nicht-deutschen Politikern wie dem tschecho-slowakischen Exilpräsidenten Edward Beneš7 oder dem britischen Premierminister Winston Churchill radikal gegen die durch Massenvernichtung zum Behemoth synthetisierte Volksgemeinschaft agitierten.

Während für jene der bedingungslose Antifaschismus als Gebot der Stunde erkannt wurde, konstruierten ihre damaligen GenossInnen fleißig den Mythos vom anderen Deutschland, das lediglich von einigen wenigen Nazis verführt wurde und nur noch befreit, aber sicher nicht umerzogen werden müsse. Die radikalen und antideutschen AntifaschistInnen sahen keine Möglichkeit, innerhalb der Sozialdemokratie etwas zu bewegen. Sie schlossen sich zur FightForFreedom-Gruppe zusammen und arbeiteten zunächst mit konservativen britischen Kräften zusammen, auch weil die britische Sozialdemokratie sich gegen das Behaupten einer deutschen Kollektivschuld wehrte.8 Die Gründungsresolution der FightForFreedom-Gruppe definierte den Unterschied zwischen »jenen, die das nationale Interesse und die Interessen des deutschen nationalen ‹Sozialismus› über Erwägungen der internationalen Gerechtigkeit und über die gemeinsamen Interessen aller Völker – heute namentlich über die Interessen der vergewaltigten Völker – stellen und jenen, deren Anschauungen und Politik den nationalistischen Strömungen nicht unterworfen sind, und die sich Sinn für politische Gerechtigkeit erhalten haben.«.9

Nach der militärischen Niederlage des Nationalsozialismus wurden die von den Alliierten besetzten Gebiete in die bis Ende der Achtziger die Weltpolitik dominierende Blockkonfrontation des Kalten Krieges eingegliedert. Die mit der Verdopplung Deutschlands einhergehende Hoffnung, dass zwei Staaten weniger deutsch wären als einer, entpuppte sich als eklatante Fehleinschätzung. Während in der BRD die Verfolgung der Nationalsozialisten peu à peu eingestellt wurde und stattdessen die Partei der KommunistInnen und ihre SympathisantInnen gejagt wurden, verhängte die Staatsführung der DDR ein Verbot der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) und integrierte ehemalige Nationalsozialisten wie Curt-Heinz Merkel in den Staatsapparat. Auf beiden Seiten der Mauer verloren die nationalsozialistischen Verbrechen und ihre Aufarbeitung angesichts der Blockkonfrontation an Bedeutung und spielten nur noch im Kontext einer Delegitimierung der gegenüberliegenden Seite eine Rolle. Jede Seite sah sich als Nachfahr des im Exil entdeckten anderen Deutschlands und wies jede Schuld am Nationalsozialismus von sich. Stattdessen sah man dessen Fortwesen entweder im totalitaristischen Osten oder imperialistischen Westen. Beiden galt die eigene Bevölkerung zügig als demokratisiert, wobei weder Reeducation in der BRD noch der verordnete Antifaschismus in der DDR wirklich Früchte getragen haben.

Weder SED noch SPD setzten sich mit dem Scheitern der deutschen Arbeiterbewegung im Abwehrkampf gegen die Nationalsozialisten auseinander. Der Sozialdemokrat Kurt Schumacher verteidigte die Deutschen vehement gegen eine Kollektivschuld, welche angeblich von den Alliierten kolportiert würde. Wie ein Beserker stand der bekennende Lassalleaner der Bevölkerung in ihren Bemühungen, die eigenen Verstrickung zu leugnen, bei. Anstatt den Kampf vieler SozialistInnen und SozialdemokratInnen in den Vordergrund zu stellen, setzte sich 1951 die Parteiführung um Schumacher bei den Alliierten dafür ein, dass 28 in Nürnberg von den Alliierten zum Tode verurteilten führenden Nationalsozialisten begnadigt werden. Im „besseren“ Deutschland klammerte man sich derweil an antifaschistische Superhelden wie den heimattümelnden Stalinisten Ernst Thälmann, während tatsächlich militante Antifaschisten wie Georg Elser in der Aufarbeitung des Widerstandes keinerlei Rolle spielten. Der systematische Versuch der Vernichtung des europäischen Judentums durch die Nationalsozialisten galt als Kollateralschaden eines aggressiven Nationalismus. Dies spiegelte sich z.B. in der Aufteilung in Kämpfer gegen den Faschismus und Opfer des Faschismus wider. Mitglieder beider Arbeiterparteien und ihrer Vorfeldorganisationen galten als wackere StreiterInnen gegen den Nationalsozialismus. Als Opfer wurden zumeist nur Juden eingeordnet. Mit dieser selektiven Geschichtsschreibung konnte die SED ein weiteres Problem umgehen: Ihr eigenes Versagen als Arbeiterpartei vor 1933, das sinnlose Verheizen von zehntausenden ParteigenossInnen in den ersten beiden Jahren der NS-Herrschaft musste nicht zur Sprache kommen.

Neues Deutschland? Die Berliner Republik

Am 8. Mai 1985 begann mit der Rede von Richard von Weizäcker die Verschiebung der Erinnerung im westlichen Deutschland, die mittlerweile das offizielle Gedenken und die Publikationen des zivilgesellschaftlichen Antifaschismus bestimmt: Der 8. Mai sollte als Tag der Befreiung gewürdigt werden. Es gingen mehrere Jahre ins Land, bis das politische Establishment der Berliner Republik vollends »den Mehrwert des Schuldbekenntnisses«10 erkannt hatte. In dieser Hinsicht überlebte die Bonner Republik – in Gestalt von Helmut Kohl – die DDR um ganze acht Jahre. 1995, zehn Jahre nach der Rede von Weizäckers, erklärte der ewige Kanzler: »Niemand hat das Recht festzulegen, was die Menschen in ihrer Erinnerung zu denken haben«.11 Was der hellsichtige von Weizäcker besser als Kohl verstand und was Alexander Gauland nur mit dem Verrat an seinem Traum von einer Volkssouveränität akzeptieren kann, ist nicht weniger als die Wiedergeburt der deutschen Volksgemeinschaft nach dem Nationalsozialismus. Es war die Rehabilitierung der durch die Geschichte gänzlich verdreckten Ideen von Familie und Heimat als schützende Kollektive. »Beide nämlich«, so Uli Krug, »salviert das geläuterte Deutschland, bereinigt sie vom Makel der Vergangenheit, nicht, indem es sie verschweigt, sondern indem es in ihr schwelgt, narrativiert und personalisiert.«12 Wie sehr die Volksgemeinschaft der Berliner Republik unter etablierten Parteien Konsens geworden war, zeigte nicht zuletzt das Aufkommen einer Partei, die sich, und das für viele Wähler scheinbar glaubwürdig, als fundamentale Alternative gegenüber jenem Konsens präsentieren kann.

Die AfD muss gegen die Berliner Republik und von Weizäcker mobilisieren, weil ihre Konzeption einer Volkssouveränität nicht mit einer postnazistischen Volksgemeinschaft denkbar ist, die in die Institutionen des Parlamentarismus eingehegt wurde. Denn die »Ausstellung der Schande« (Martin Walser), durch die sich die Berliner Republik als geläuterter Global Player inszeniert, belegt, dass das Volk als solches fehlbar ist und eines demokratischen Rahmens bedarf. Genau dieser künstliche Rahmen, das von den Vereinigten Staaten auferlegte System des Rechts, steht über dem Lebhaften des Politischen – wie es von Carl Schmitt und seinen Anhängern gedacht wird. Auch die CDU der Bonner Republik und Helmut Kohl konnten mit der »List der Vernunft« (Hegel), die im Erlangen eines Sieges durch die Akzeptanz einer Niederlage steckt, wenig anfangen. Erkannte sie doch, dass die Erinnerungen der Bevölkerung – insbesondere der eigenen Wählerschaft – an den 8. Mai noch viel zu lebhaft und die erlebte Trauer über die brutale Zerschlagung des eigenen mörderischen Traums zu tiefgreifend war, als sie ernsthaft daran denken konnten, Oma, Opa oder Hans-Peter glauben zu machen, dass man befreit worden wäre. Die CDU der Bonner Republik wusste sehr gut, dass Saul Friedländer mit seinen Beobachtungen aus dem Jahre 1945 Recht hatte. Sie bedienten ihr ex-nazistisches und ihr ins Private gekehrtes Klientel so gut es ging, indem beispielsweise der Traum von der Eroberung Moskaus, eingebettet in das „Sternen und Streifen Banner“, weiterleben konnte.

Als im November 1989 die Mauer fiel und im Schnellverfahren die ehemalige SBZ an die Bundesrepublik angeschlossen wurde, offenbarten sich die unter Westbindung und Sowjettreue fortwesenden Kontinuitäten in Städten wie Solingen, Mölln, Rostock-Lichtenhagen oder Hoyerswerda. Fortan nahm es die radikale Linke selbst in die Hand. Ob in Recherche- oder Sportgruppen, stets wurde dem pädagogischen Verständnis ihre Strategie des Dialogs entgegengehalten: »Was wir reichen sind geballte Fäuste, keine Hände.«13 Die Selbstorganisation jenseits von Parteien wurde durch bundesweite Organisationen und lokale Hochburgen postautonomer Strukturen ermöglicht: ein militantes Netzwerk, das sich erfolgreich dem Zugriff des Staates entzog. Fast ein Jahrzehnt konnte der revolutionäre Antifaschismus sich als linksradikale Praxis abseits von ostalgischem ML-Kitsch und mit explizit artikulierter Staatsferne etablieren, um gegenüber Deutschland und seinen Nazis – im wahrsten Sinne des Wortes – schlagkräftig, autonom und handlungsfähig zu bleiben. Doch alles war, wie so viele linksradikale Bewegungen, nur von kurzer Dauer.

Der Antifa-Sommer 2000 und der damit einhergehenden Etablierung der Berliner Republik als antifaschistischer Gedenkweltmeister, das Aufkommen des Rechtspopulismus und -extremismus in ehemals von Deutschland besetzten Ländern bzw. in Ländern, die gegen den Nationalsozialismus kämpften, führten zu einer Verschiebung der Wahrnehmung. Die gezielte Tötung von Kaukasiern auf offener Straße in Moskau durch russische Neonazis, das Aufkommen des Front National, der Versuch der Islamischen Republik Atombomben herzustellen, die gesellschaftliche Ausgrenzung der Sinti und Roma in Osteuropa, die Wahl von George W. Bush jr. oder die tiefgreifende Ablehnung von Homosexualität im katholischen Polen verführten zur irrigen Annahme, dass zumindest bestimmte Regionen Deutschlands eine Oase des Glücks darstellen, zu dessen Verteidigung die kategorische Staatsferne aufgegeben werden konnte. Dass diese angebliche Liberalität zu einem großen Stück einer wirtschaftlichen Situation geschuldet war, die nur dank der großzügigen Hilfe der US-Amerikaner nach dem Zweiten Weltkrieg ermöglicht wurde und in Krisenzeiten stets als Erstes vom postnazistischem Staat und seinem Volk geopfert würde, wurde verdrängt.

Bereits zwei Jahre nach dem als Aufstand der Anständigen ausgerufenem Antifa-Sommer konstatierte das Antifaschistische InfoBlatt (AIB): »Der rechte Rollback auf allen Ebenen trifft viele unabhängige Antifas unvorbereitet.« Das Fachmagazin, dessen ästhetische Nähe zur Militanz ihm den zivilgesellschaftlichen Erfolg von Der Rechte Rand bis heute verwehrt, sah die antifaschistische Bewegung durch den Zusammenbruch der überregionalen Organisierung als »dramatisch geschwächt« an. Die Redaktion stellte nüchtern fest, dass »subjektive, alle Sicherheitskriterien und Ideen von Kollektivität außer Acht lassende Aktionsbeschreibungen z.B. bei Indymedia ein schlechter Ersatz für gemeinsame, überregionale Diskussionen, Analysen und durchdachte Kampagnen« seien. Vor allem die »Streicheleinheiten der Zivilgesellschaft« und das Offenlegen von Strukturen, »die nicht an die Öffentlichkeit gehören« wurden als Todeskuss einer Bewegung gesehen, deren cleverer Teil das kleine Schwarze nach dem Studienabschluss erfolgreich gegen ein Sakko tauschen konnte und nun erfolgreich in Zivilgesellschaft macht. Die Floskel »Antifa in der Krise«, dass verrät ein kurzer Blick in das Archiv des AIB, ist seitdem in der Publikation häufiger zu finden.14

Das AIB erkannte, anders als es das notwendig falsche Bewusstsein der berufstätigen Ex-Linksradikalen zulassen könnte, dass die Zivilgesellschaft nicht als anti-staatlicher Akteur, Arbeitgeber oder Kooperationspartner einer linksradikalen Bewegung zu sehen ist. Sie ist vielmehr als gegensouveränistische Verlängerung des Staates zu verstehen, die einen Beitrag zur Konstitution der deutschen Souveränität leistet.15 Die Zivilgesellschaft ist selbst verstaatlicht, denkt in den vom Staat gesetzten politischen Kategorien des Rechts und greift dem Staat dort unter die Arme, wo dieser seit der rot-grünen Entschlackungskur selbst nicht mehr aktiv werden kann oder will, was sich besonders im ehrenamtlichen Engagement äußert. Natürlich steht die Zivilgesellschaft nicht Seite an Seite mit dem Verfassungsschutz oder der Polizei, aber gerade durch diesen synthetisierten Widerspruch von Freiheit und Zwang konstituiert sich die deutsche Souveränität und die Legitimation durch Partizipation der Bevölkerung. Wenn sich die Zivilgesellschaft einmal zur Polizeikritik hinreisen lässt, dann bewegt sich diese auf einer rein inhaltlichen Ebene der Ausgestaltung des staatlichen Gewaltmonopols, wodurch die Existenz der Gewalt bereits verdrängt und der Staat fetischisiert wurde. Nicht nur sorgt die Zivilgesellschaft so für ein ruhiges Hinterland, welches ein außenpolitisch umtriebiger deutscher Staat dringend benötigt. Sie leistet auch die Resteverwertung einer sich einst revolutionär gebärdenden Jugendbewegung und ihrer wichtigsten Protagonisten. Die #Antifa ist staatstragend geworden und hat sich mit der Polarisierung der Gesellschaft durch die AfD auf die Seite von Weiszäckers, der Berliner Republik und des postnazistischen Sozialpakts geschlagen. Als Alexander Gauland daran erinnerte, dass das deutsche Volk am 8. Mai eine Niederlage erlangte, wurde dies in den sozialen Medien mehr als deutlich.

Nationalfeiertag oder Staatskritik

Denen, die sich mit diesem Label ins politische Geschäft begeben und mit dem Slogan Wer nicht feiert, hat verloren das Ablassgeschäft mit der deutschen Kollektivschuld ritualisiert haben, kam Gaulands Äußerungen gelegen, um die eigene politische Agenda voran zu treiben. Die Forderung? Der Tag der Befreiung solle zum Nationalfeiertag werden, wodurch sich eine ganze Nation als Gemeinschaft von WiderstandskämpferInnen und ihren Nachfahren inszenieren, gleichzeitig das Erbe des NS auf das dunkle Deutschland und seine blaue Partei abgespalten werden könne. Die Diskrepanz zwischen denen, die 1945 befreit wurden, und denen, die als Teil der deutschen Nation diese Befreiung feiern, ist himmelschreiend. Als Testemonial für diese Kampagne kürten sie die Holocaust-Überlebende und bekennende Antizionistin Esther Bejarano. Der mit dieser Entscheidung einhergehende Verrat an jenem Land, das als einziges der Welt die richtigen Konsequenzen aus dem Nationalsozialismus zog und noch heute dafür sorgt, dass Juden niemals wieder unbewaffnet ihren Peinigern gegenüberstehen sollen, ist den Adepten des deutschen Antifaschismus nicht einmal aufgefallen.

Mit der Forderung eines Nationalfeiertages ist man endgültig erwachsen geworden. Man hat die eigene Militanz als »linksradikale Kinderkrankheit« (Lenin) erfolgreich kuriert. Während der autonome Aktionismus zur Jugendsünde oder dem Erwerb von soft skills herabgewürdigt wird, hat man Staatskritik erfolgreich in eine materialistische Staatstheorie und damit zahnlose akademische Disziplin verwandelt. Der Abgesang auf das Konzept des revolutionären Antifaschismus war die Grundlage für eine erfolgreiche Integration in die wiedergutgewordene Zivilgesellschaft, als deren human ressources und brainpool sich die einstigen Antifas heute sehen.16 Zwang einen die praktische Militanz zur Staatsferne, hat man mittlerweile das Prinzip Georg Elser ausgerechnet gegen den Antifaschismus von KPD und SED getauscht, von dem jener so bitter enttäuscht wurde. Indem man gegen AfD und für Nationalfeiertage breite Bündnisse schmiedet und die Einheit eines aufrechten, guten, anständigen und anderen Deutschlands beschwört, unterscheidet man sich im Konformismus nicht mehr von den marxistisch-lenistischen Traditionslinken, gegen die man als Jugendbewegung aufbegehrte. Letztere übrigens haben in Gestalt der DKP der breitgefächerten Bündnispolitik von einst eine strikte Absage erteilt. Wenn man Nie Wieder sagt, dann dünkt man sich heute noch bedeutend klüger als jene mit ihrem Nie wieder Krieg. Doch wie der Marxismus-Leninismus hat man selbst seinen Frieden mit dem deutschen Staat gemacht. Die #Antifa-Haltung erinnert nur noch vom Namen her an ihren Ursprung. Sie ist notwendig falsches Bewusstsein all jener, die in der Zivilgesellschaft oder den deutschen Parteien ihr Geld verdienen, den karrieretechnischen Bedürfnissen entsprechend zurechtgestutzt worden sind.

Dass die breite Kampagne für den Nationalfeiertag auf wenig bis gar keine Resonanz stieß, zeigt vor allem eins: Der deutsche Staat hat es nach dem Antifa-Sommer 2000 und dem Willkommens-Sommer 2015 längst nicht mehr nötig, international zu Kreuze zu kriechen. Ohne dass es allzu große Aufmerksamkeit erzeugen würde, kann mittlerweile frei von der Leber weg Israel für sein nationalistisches und egoistisches Gedenken an die Shoah kritisiert werden. Ganz so, als wäre die Notwendigkeit eines nationalen Egoismus der Juden nicht die einzig mögliche Antwort auf einen allgegenwärtigen Antisemitismus in einer Welt von Staat und Kapital. Dieser Aufstieg Deutschlands, vom Juniorpartner der USA zum Hegemonen innerhalb Europas, verlief nicht gradlinig, erst recht nicht reibungslos, führte letztlich aber zum Erfolg. Der dritte Griff zur Weltmacht der vor 75 Jahren besiegten Volksgemeinschaft wird kaum auf militärische Mittel zurückgreifen.17 Niemand begeht dreimal denselben Fehler. Der Krieg der deutschen »Anti-Nazis«, von dem Walter Loeb im Eingangszitat sprach, wird mit friedlichen Mitteln geführt. Er zielt direkt auf das Herz der Bestien. Im Bündnis mit Schurkenstaaten wie der Islamischen Republik Iran, autoritären Regimen wie Russland und atheistischen Diktaturen wie der Volksrepublik China robbt sich Old Europe unter Führung Deutschlands langsam, aber sicher an der Hegemonialmacht USA vorbei.

1 Walter Loeb: Deutsche Propagandisten in Curt Geyer, Walter Loeb u.a. : Fight for Freedom – die Legende vom anderen Deutschland. Freiburg, 2009, 95-104, hier 103.
2 Ausführlicheres zum staatstragenden Antifaschismus siehe: Redaktion Antideutsch.org: Antifa heißt nicht Zivilgesellschaft in Jungle World 2020/26.
3 In der Regierungsperiode von Rot-Grün 1998-2005 betrifft dies verschiedene Generation des linksradikalen Protestes. Neben den ehemaligen Spontis, die nun auf den Regierungsbänken Platz nahmen, waren es ehemalige Antifas und Autonome, die die neugeschaffenen Stellen innerhalb der Zivilgesellschaft annahmen. Beide Generationen folgten so dem unsäglichen Diktum: Wer mit 19 kein Revolutionär ist, hat kein Herz. Wer mit 40 immer noch ein Revolutionär ist, hat keinen Verstand.
4 Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte (Werke und Nachlass Band 19), Berlin, 2010, 96.
5 Siehe dazu: The Future is Unwritten: Gestern radikal – heute Landtagswahl in konkret2019/09. Online: https://www.unwritten-future.org/index.php/gestern-radikal-heute-landtagswahl/
6 Mit Willy Huhn ließe sich argumentieren, dass in der deutschen Sozialdemokratie 1918 gar kein Umschwung gegen die Revolution stattgefunden habe und die Parteielite weder ein ernsthaftes Interesse an der Marxschen Kritik noch an revolutionären Erhebungen hatte. Als Belege führt er dazu nicht nur die nationalistische Positionierung 1914 an, sondern deren generelle auf die staatliche Politik ausgerichtete Struktur. Siehe dazu: Willy Huhn: Der Etatismus der Sozialdemokratie – Zur Vorgeschichte des Nazifaschismus. Freiburg, 2003.
7 Näheres zur Rolle von Beneš im Londoner Exil: Florian Ruttner: Pangermanismus – Edvard Benes und die Kritik des Nationalsozialismus. Freiburg, 2019.
8 Zur FightForFreedom-Gruppe siehe: Geyer et al. 2009. Darin befindet sich auch eine historische Einordnung durch Jan-Georg Gerber und Anja Worm.
9 Fritz Bieglik, Curt Geyer, Carl Herz, Walter Loeb, Kurt Lorenz & Bernhard Menne: Der Kampf gegen den Nationalismus in der deutschen Arbeiterbewegung muß von vorne begonnen werden. Erklärung der Fight-for-Freedom-Gruppe vom 2. März 1942 in: Geyer et al. 2009, 65-70, hier 67.
10 Uli Krug: Böser Adolf, guter Richard in Bahamas 71/Sommer 2015.
11 Zitiert nach: ebenda.
12 Ebenda.
13 Brothers Keepers: Adriano (Letzter Warnung).
14 Alle Zitate im vorherigen Absatz aus: Antifa in Bewegung. In Antifaschistisches Infoblatt 56/02.2002. Online: https://www.antifainfoblatt.de/artikel/antifa-bewegung
15 Hier ist der aktuellen Blattlinie der Bahamas explizit zu widersprechen, wenn sie die Zivilgesellschaft für ein Untergraben der Souveränität kritisiert und sich im politischen Spiegelspiel auf die Seite des Souveränismus schlägt. Ausführlicheres dazu: Redaktion Antideutsch.org: Clash of what…? Online: https://antideutschorg.wordpress.com/2019/05/21/europwahl/
16 Wie sehr ehemalige AntifaschistInnen in der Zivilgesellschaft angekommen sind, zeigt sich, wenn in öffentlich-rechtlichen Medien über Antifa gesprochen wird und dabei Beschäftigte des akademischen Betriebs zu Wort kommen, deren Themenwahl und Alter zumindest Berührungspunkte mit dem militanten Antifaschismus der Neunziger nahelegen. Beim Deutschlandfunk wird zum Beispiel offen ausgesprochen, was hier polemisch formuliert wurde: »Viele professionell und halbprofessionell arbeitende Fachjournalistinnen texten für Internetseiten und soziale Medien. Es gibt etablierte Archive, Vereine, die aus antifaschistischen Strukturen hervorgegangen sind.« (Schnee, Philipp: Zwischen Engagement und Gewalt. Online: https://www.deutschlandfunk.de/mythos-antifa-zwischen-engagement-und-gewalt.724.de.html?dram:article_id=463089 )
17 Lesenswert dazu: Ilka Schröder (Hg.): Weltmacht Europa – Hauptstadt Berlin? Hamburg, 2004.

Über einige Besonderheiten des jüdischen Staates.

Anlässlich der erneuten Raketenangriffe auf Israel und der niemals ausbleibenden antizionistischen Eskalation nach der israelischen Reaktion; aber auch anlässlich einiger durchaus bedenkenswerter Kommentare, die aus der sogenannte „antideutschen Szene“ darauf erfolgten, dokumentieren wir einen Redebeitrag der Gruppe Antideutsche Kommunisten Berlin aus dem Jahr 2004. Es kann sicherlich nicht schaden, sich noch einmal vor Augen zu rufen, worum es für Kommunisten eigentlich geht, wenn über Israel gesprochen wird.

Über einige Besonderheiten des jüdischen Staates.

Auf einer Konferenz, die den Bau eines Zaunes zum Titel hat, werden vielerlei Banalitäten ausgeplaudert: Dass es sich bei einem Zaun beispielsweise um einen „Trennungszaun“ handelt. Als läge es nicht in der Natur eines Zaunes, etwas vom anderen zu trennen. Die Konferenz behandelt nun nicht den Bau irgendeines Zaunes – schließlich findet dort nicht die internationale Konferenz der Schrebergärtner und Laubenpieper statt -, sondern sie handelt von einem gar schrecklichen Zaun, der neben allerlei anderen Bösartigkeiten, doch so besonders ins Spießbürgerbewusstsein dringt, weil er den unverdienten Titel die Mauer trägt. Warum das Wort die Mauer im Deutschen so eine besondere Bedeutung hat, brauche ich wohl nicht weiter zu erklären und ich werde dieses Wort auch nicht weiter verwenden, sondern schlicht und zutreffend vom Zaun sprechen und die Mauer nur in Erinnerung an kaum bessere, aber weniger aufrührende Zeiten halten. Dass es sich bei diesem Zaun zwar um einen etwas besonderen handelt, gerade diese Besonderheit aber eine Banalität darstellt, die oft in Vergessenheit gerät, darüber will ich im Folgenden sprechen.

Gebaut wird dieser Zaun vom Staat Israel, um seine Bürger vor kaltblütigen Judenmördern zu schützen. Den Verlauf bestimmt Israel nahezu eigenmächtig, da sich auf der anderen Seite kein ernsthafter Verhandlungs- beziehungsweise Kooperationspartner für den Zweck dieser bescheidenen Maßnahme findet. Dass es sich um einen vorläufigen Grenzzaun handelt, ist ebenso offensichtlich wie banal. Jeder Staat steckt im Laufe seines Gründungsprozesses das Territorium ab, innerhalb dessen er sich als Souverän setzt. Der Staat Israel wurde vor über 56 Jahren gegründet, doch ist dieser Gründungsprozess bis heute nicht abgeschlossen, da die Grenzen des israelischen Staatsgebiets nicht eindeutig bestimmt und anerkannt sind. Der Zaun dient dazu, die Grenzziehung gegen die palästinensischen Banden in der Westbank voran zu bringen.

Trotzdem scheinen diese Banalitäten einen Hass herauf zu beschwören, der mehr über die Hassenden aussagt, als über ihr Objekt. Von den zahlreichen Dingen, die an diesem Zaun gehasst und einhergehend so erzählt werden, fällt das der angeblich endgültigen Grenzziehung besonders auf. Selbst Laubenpieper wissen, dass es bei Zäunen auch immer irgendwie um Herrschaft geht. Wem ein irgendwie zur Erklärung seiner trüben Weltsicht allerdings ausreicht, der ist auf der Konferenz besser aufgehoben, allen anderen ist ein kurzer Blick in die Geschichte zu empfehlen:

Bürgerliche Staaten in Europa beriefen sich bei ihrer Entstehung auf eine meist lange Tradition der Herrschaft, die bestimmt wurde durch die Besonderheit der Landschaft, der Sprache oder dem besonderen Hautausschlag, Verzeihung Menschenschlag, der sich auf dem Herrschaftsgebiet befand. Staatsvolk und Staatsgebiet waren also mehr oder weniger bestimmt durch die vorhergehende feudale Herrschaft und mussten nur in der Verfassung festgeschrieben werden. Die Verbrechen der ursprünglichen Akkumulation hatten die absolutistischen Regime weitgehend verübt; die auf den weißen Westen der neuen Herrschaft sich befindenden roten Sprenkler konnten leicht mit der notwendigen Gewalt des Umsturzes des jeweiligen ancien regime erklärt werden. Aufgrund dieser Vorarbeit des Feudalismus fiel es der bürgerlichen Staatlichkeit leicht, die Gewalt, auf der sie beruht, hinter der rechtlichen Legitimation einer Staatsverfassung zu verstecken. In Krisenzeiten allerdings tritt hinter diesem Schein die notwendige Gewalt als direkte Staatsgewalt wieder hervor. Das fundamentale Problem der Staatstheoretiker, dass bürgerliche Staatlichkeit sich mit Gewalt setzen muss, diese aber nicht durch Recht legitimieren kann, da das Recht erst durch die Gewalt in Kraft gesetzt wird, stellte sich in der praktischen Umsetzung also nicht.

Beim Staat Israel verhält es sich da etwas anders. Hier konstituierte sich die Gemeinsamkeit der späteren Staatsbürger nicht aus ideologischen Puzzleteilen, die in der Historie oder Kultur gefunden werden konnten, sondern wesentlich aus der Verfolgung und dem Ausschluss aus den bürgerlichen Gesellschaften Europas. Sein Staatsvolk war schon vor der Gründung dadurch bestimmt, dass Juden die rechtliche Gleichstellung als Staatsbürger und/oder die gesellschaftliche Anerkennung verwehrt wurde. Die Aufklärung und die damit verbundene Emanzipation der Juden zu gleichen Staatsbürgern war gescheitert, denn auch wenn Juden gleiche Rechte zugestanden wurden, so erstarkte der Antisemitismus doch gerade auf dieser Grundlage erneut. Die Assimilation bot keinen Ausweg.

Hierauf reagierte Herzl mit seinem Entwurf eines jüdischen Staates in dem er die Konsequenz aus der Jahrhunderte alten Ausgrenzung zog. Er stellt die bewusste Reaktion auf die allen Juden aufgezwungene Notlage dar. Herzls Blick auf das Problem Antisemitismus war nicht getrübt von ängstlichen Hoffnungen, der Antisemit möge doch noch aufklärbar sein oder würde durch Assimilation den gesellschaftlichen Rückhalt verlieren, sondern bricht gerade mit dieser schüchternen, passiven Haltung. Er fasste den Antisemitismus nicht als ein privates oder regionales Problem auf, als eines, mit dem sich jeder Einzelne oder jede einzelne Gemeinde auseinander zu setzen habe, sondern machte ihn zu einer „Weltfrage“, die nur von vielen Juden kollektiv zu beantworten sei. Weil er das Problem auf diese Ebene hob, konnte er als Lösung von jüdischer Seite die Gründung eines eigenen Staates fordern. Damit eröffnete Herzl die emanzipative Perspektive des Zionismus: Den Unwillen sich mit der Welt so abzufinden wie sie ist und auf der bewussten Selbstverteidigung gegenüber ihr zu bestehen. Nur mit diesem Bewusstsein konnte das zionistische Projekt geschichtsmächtig werden.

Als einzigen Anhaltspunkt für den Staat, den Herzl aus dem Nichts erschaffen wollte, hatte er die Notlage der Juden in Europa, Asien und der Neuen Welt. Er konnte sich weder auf die üblichen irrationalen Legitimationen von Blut und Boden, Geschichte und Kultur, nicht auf Traditionen von Herrschaft und Volk berufen, noch konnte er die Einheit des künftigen Staatsvolkes aus der Synthesis einer Ökonomie gewinnen. Dies musste Herzl sich eingestehen und er versuchte zunächst gar nicht, ein legitimierendes Band aus Sprache, Boden oder Kultur zu knüpfen, sondern entwarf auf dem Reißbrett die Society of Jews als vorweggenommenen staatlichen Souverän, als Synthese von Recht und Gewalt. Die Akzeptanz dieses Souveräns und die Unterwerfung unter ihn sollte sich bewusst in der Beteiligung am zionistischen Projekt äußern. Bei dem Versuch, den Souverän mit rationalen Argumenten zu begründen, verstrickt er sich wie jeder Staatstheoretiker in Widersprüche. Doch Herzl gesteht das Paradox bürgerlicher Staatlichkeit ein, wenn er schreibt, der Auftrag des Staates sei „von einer höheren Notwendigkeit erteilt“. Diese „höhere Notwendigkeit“ stellt bei anderen Staaten Gott, der besondere Charakter des Volkes oder ein anderer Humbug dar. Im Fall des jüdischen Staates ist die höhere Notwendigkeit aber eine gesellschaftlich bedingte, nämlich die Notwendigkeit für Juden, sich organisiert gegen den antisemitischen Hass zu verteidigen.

Die selbstbewusste Gründung und dass er als einziger Staat einen vernünftigen Grund für seine Existenz besitzt, macht die Besonderheit des Staates Israel aus. So kann der israelische Patriotismus einen Schein von Wahrheit für sich reklamieren und es finden sich für Israelis vernünftige Gründe ihr Land patriotisch zu verteidigen. Dies macht sie bei den Bewohnern anderer Staaten so verhasst, die allenfalls Idioten, aber keine Patrioten sein können.

Sowie jede Staatsgründung nur mit Gewalt möglich ist, so ist auch Gewalt notwendig bei der Umsetzung von Herzls Staatsentwurf. Ebenso spielten bei der Konkretion von Herzls abstrakt geplantem Staat Fragen nach Amtssprache und Staatskultur eine wichtige Rolle, die aber erst ausgefochten werden mussten und nicht quasi-ontologisch vorgegeben waren. Das moderne Hebräisch musste neu entwickelt werden, nationale Mythen in Massada oder anderswo mussten nach Jahrtausenden ausgegraben werden. Solch lächerlicher Klimbim kann allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Staat nicht aus dem Erdboden gewachsen ist. Kein Staat kann offenbar ohne kulturelle und historische Mythen zu seiner Rechtfertigung, ohne das notwendig falsche Bewusstsein auskommen.

Da der Staat Israel von vielen Seiten bedroht wird und er nur mit militärischer Gewalt erhalten werden kann, fällt es Israel schwer, den bürgerlichen Schein zu erzeugen, er wäre nicht auf Gewalt, sondern auf Recht gegründet. Dieser Zustand der permanenten Verteidigung während des Gründungsprozesses drängt dazu, abgeschlossen zu werden, kann aber angesichts des Antisemitismus vorläufig nicht beendet werden. Die schwere Bewaffnung Israels ist der Versuch, die Anerkennung endlich zu erzwingen und den Zustand der permanenten Verteidigung zum Abschluss zu bringen. Doch selbst die Atombombe war offensichtlich als Abschreckung nicht tauglich, um den Frieden zu erzwingen, da die Feinde Israels – wirkliche oder potentielle Selbstmörder – kaum am eigenen Selbsterhalt interessiert sind und daher durch Abschreckung allein nicht in Schach gehalten werden können. Postzionisten wie Zuckermann wollen die Beendigung dieses Zustandes, um wie normale Bürger in einem normalen Staat in Frieden mit ihren Nachbarn zu leben. Sie können diese Normalisierung allerdings nur auf Kosten des völligen Realitätsverlusts zum Programm machen, nämlich dem Bestreiten der vernichtungswütigen Bedrohung Israels.

Die abstrakte Bestimmung darüber, wer israelischer Staatsbürger ist und werden kann, vernachlässigt Sprache und Herkunft und dementiert daher die Mär von ethnisch-kulturellen Gemeinschaften und kratzt am falschen Schein der zur zweiten Natur geronnenen Gesellschaft. Antizionisten hassen an Israel die Erinnerung an ihre eigenen Lügen, die sie zur Legitimation der Herrschaft benötigen, um sich in einer wahnhaften Welt nicht verrückt machen zu lassen. Die offensichtliche Setzung und bewusste Gründung Israels dementiert die Mythen von angeblich naturwüchsigen Staaten. Die nahezu permanente Gewalt, die für Israels Erhalt notwendig ist, erinnert daran, dass staatliche Macht letztlich immer auf Gewalt und nicht auf Recht gründet. Das antisemitische Ressentiment gegen Israel, als angeblich künstliche Ausnahme unter den Staaten, dient zur Ablenkung von der „Künstlichkeit“ der eigenen Staatlichkeit und dazu sie als naturwüchsig zu verklären.

Die selbstbewusste Reaktion der Zionisten auf den Antisemitismus und die Gründung eines wehrhaften Staates verweist gerade in all seiner Beschränktheit und Bedrohtheit darauf, dass Menschen die Möglichkeit haben, ihre Geschicke selbst in die Hand zu nehmen und Geschichte zu machen. Der antisemitische Hass darauf ist auch der Hass auf Befreiung, auf die wirklich geschichtliche Tat, mit der sich die Menschheit bewusst von den Zwängen der zweiten Natur befreit.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.“

Kann es einen Materialismus geben, der nicht antideutsch ist?

Der folgenden Text ist der erste einer Reihe, die versucht Erfahrungen und Debatten wieder aufzubereiten, die von der Redaktion als zentral für die Entwicklung einer eigenständigen antideutschen Kritik gesehen werden. Dabei können wir nicht beanspruchen eine fertige Definition dieser Form der Kritik vorzulegen, stattdessen wollen wir in erster Linie zur (erneuten) Auseinandersetzung mit ihr und ihrer Entstehungsgeschichte anregen.1 Den Anfang bildet die Aufbereitung und Kontextualisierung einer Debatte, die 2002 auf und um den Kongress antideutsche Wertarbeit2 zwische Ulrich Enderwitz und Gerhard Scheit geführt wurde und sich mit der Frage befasst:

Kann es einen Materialismus geben, der nicht antideutsch ist?“ 

Der Antideutsche ist sich seiner selbst als Kommunist so sicher, daß es ihm egal ist, ob ihm Linke ein Paktieren mit dem Klassenfeind vorwerfen, wenn er den Krieg der USA gegen den Irak im besonderen und gegen den islamfaschistischen Terror im allgemeinen aus sehr triftigen, weil antideutschen Gründen begrüßt und würdigt (und kritisiert, wenn dieser nicht entschieden genug geführt wird). Er tut dies schließlich auch aus ureigenstem Interesse, denn er weiß, wie übrigens jeder Linke auch – nur gibt der das nie offen zu –, daß sein Überleben als Kritiker und Kommunist davon abhängt, daß die Deutsche Ideologie und deren Praxis nicht doch noch über die liberale den Sieg davon trägt.

Manfred Dahlmann3

Die intellektuelle Frechheit dieser jüngsten Zivilisationskrieger und Kreuzritter des Abendlands geht so weit, daß sie ihre bedingungslose Kapitulation vor der herrschenden Ordnung als besondere dialektische Raffinesse verkaufen wollen. Indem sie die dümmsten Hühner des restlichen autonomen und Antifa-Spektrums zu ideologischen Kindersoldaten der NATO umschulen, machen sie sich verdient um das weltdemokratische Imperium, möchten aber gerade diese Arbeit an der Affirmation als „antideutsche Wertarbeit“ zur einzig wahren Wertkritik adeln, deren Begriff sie damit besudeln. In ihrer Orwellschen Sprache ist es geradezu der Gipfel der Radikalität, US-Kampfbomber aufklärungs-frömmlerisch zu segnen. Mit dieser Rabulistik können sie allerdings nur eine Handvoll hinterwäldlerische, theoretisch ungebildete Desorientierte blenden, die mangels eigenständiger Denkfähigkeit auf der Suche nach Identität und Distinktion um jeden Preis sind.

Robert Kurz4

I – das Streitgespräch:

Eingangs eine Klarstellung: wir sehen es als die Aufgabe positivistischer Historiker, offen zu legen, was wirklich geschah. Wann wer sich mit welcher Anmerkung zu Wort gemeldet hat und wer daraufhin was erwidert haben soll. Der folgende Beitrag möchte stattdessen einen Teil des historischen Materials in einer Weise darlegen, die es den Lesenden ermöglicht, verschiedenen Aspekte der Fragestellung nachzuvollziehen und so einen Beitrag zur Kritik ohne Jargon, Szenecodes und politischen Abwägungen leisten.

Direkt zu Beginn des Streitgespräches möchte Ulrich Enderwitz klarstellen, dass sein Buch Volksstaat und Antisemitismus5 für ihn persönlich nicht seine wichtigste Veröffentlichung darstellt. Für den Rahmen des Streitgespräches muss es allerdings als zentral erachtet werden. Dort demonstriert er, Joachim Bruhn zu Folge „daß der blinde Fleck der marxistischen Theorie in Sachen Antisemitismus unmittelbar ihren Halluzinationen vom »sozialistischen« oder gar »proletarischen Staat« geschuldet ist: Keine revolutionäre Praxis wird dem Antisemitismus gerecht werden können, die nicht Kapital- und Staatskritik in einem wäre und so der Intention der Kritik der politischen Ökonomie entspräche.“6

Hier spitzt Enderwitz die Analysen von Heinz Langerhans zu, indem er den Antisemitismus als Bedingung der Möglichkeit, für die von Langerhans beobachtete soziale Pazifizierung, erachtet. Letzterer beschrieb, 1934 in nationalsozialistischer Haft auf Zigarettenpapier, wie aus dem „automatischen Subjekt Kapital mit dem Garanten Staat als besonderem Organ“7 nun das „einheitliche Staatssubjekt Kapital geworden“8 sei. Dies gehe mit einer „rücksichtslose[n] soziale[n] Pazifierungsaktion mit dem Zweck der »organischen« Einfügung des Kapitalteils Lohnarbeit in den neuen Staat“9 einher. Durch den Antisemitismus trete, laut Enderwitz, „an die Stelle der Wirklichkeit, auf die er mit seinen Urteilen primär reagiert, eine Ersatz- und Alibirealität“,10 durch welche das vermeintlich revolutionäre Subjekt das Objekt seiner Frustration wechselt: Antisemitismus anstatt Kritik am Kapitalverhältnis.

Im Programm des Kongress beharrt er darauf, dass diese von ihm untersuchte nationalsozialistische Vergesellschaftung „eine logische oder jedenfalls krisen- beziehungsweise notstandslogische Konsequenz des repräsentativ-demokratischen Kapitalismus ist“11 und nur „als eine durch die besonderen Umstände Deutschlands begünstigte frühe Ausbildung oder Vorform einer der kapitalistischen Entwicklung insgesamt eingeschriebenen Rezeptur gelten kann“.12 Er sieht somit keine qualitativen Unterschiede „zwischen liberalistisch operierendem und nationalsozialistisch organisiertem Kapital, zwischen oligarchischer Demokratie und Faschismus, zwischen Angelsachsen und Teutonen“.13

Im Gegensatz zu seinem Diskussionspartner, Gerhard Scheit. In seinem bereits 2001 veröffentlichten Buch die Meister der Krise14 zieht dieser aus den enderwitzschen Analysen eine Konsequenz, zu der letzrere nicht bereit ist. Er hebt das explizit deutsche am deutschen Volksstaat hervor. Er erarbeitet dabei einen Begriff vom deutschen Volk als ein Staatsvolk, das in einer speziellen historischen Konstellation zu einer besonderen Nation fetischisiert wurde und dabei eine bestimmte Form des notwendigen falschen Bewusstseins hervorbrachte: die deutsche Ideologie.

An der Grenze zwischen dem Westen, wo die sogenannte ursprüngliche Akkumulation – von absolutistischem Staat und Kolonialsystem flankiert – in eine ausgeprägte bürgerliche Gesellschaft münden konnte, und dem Osten, wo der militärisch von außen wirksame Druck dieser Akkumulation den Aufbau von Staatsmaschinen ohne entsprechende ökonomische und koloniale Grundlage erzwang, hier in der Mitte entstand so etwas wie ein Konzentrat des Ganzen, ein Mikrokosmos der kapitalisierten Welt, in dem sich die moderne Barbarei des Westens mit der vormodernen des Ostens verbunden hat.“15

Die Nähe zu den Erkenntnissen in Volksstaat und Antisemitismus werden dabei während der Diskussion mehrmals betont. Deren Stärke liegt in der Verknüpfung von staatskritischen Untersuchungen im Geiste eines Langerhans mit der Kritik des Antisemitismus der kritischen Theorie.16 Was Adorno, Horkheimer und auch Enderwitz jedoch, trotz aller richtiger Einsicht über die Harmonisierung der Gesellschaft durch Antisemitismus, nicht zu sehen bereit waren:

Nirgendwo aber – und vor dieser Erkenntnis schreckten Horkheimer und Adorno wirklich zurück – stellte sich diese Harmonie so automatisch her wie im Dritten Reich. Hier identifizierte sich die Bevölkerung nahtlos mit dem Staatssubjekt Kapital, hier praktizierte man bis zum Äußersten die Versöhnung von Kapital und Arbeit. Diese Identifikation aber war nur möglich, weil das Real-Abstrakte, das die Individuen stets auf den Warencharakter ihrer Arbeitskraft zurückwarf, der Wert, der bei aller Verstaatlichung von Kaufkraft und individueller Reproduktion, bei aller ‚Kraft durch Freude‘ und Arbeitsdienst-Laune nach wie vor seinen Tribut verlangte, – weil dieses Real-Abstrakte des Werts in Gestalt des Judentums personifiziert und das wirkliche Judentum als Personifizierung des Abstrakten von Staats wegen nicht nur verbannt, sondern vernichtet wurde. So ‚konkretisierte’ sich die deutsche Volksgemeinschaft des Dritten Reichs. Ohne das totale Feindbild der ‚Weltverschwörung des Judentums‘, das – in den Vernichtungslagern in die Tat umgesetzt – die Volksgemeinschaft bis zuletzt zusammenschweißen konnte, wäre dieser Krieg nicht zum ‚totalen Krieg‘ geworden, nicht bis zur letzten Konsequenz vom Dritten Reich führbar gewesen. Die Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung der Juden war es, die jener Identität der Deutschen mit ihrem Staat zugrunde lag und sie bis zuletzt – und darüber hinaus – garantierte.17

Gegen diese Kritik an den deutschen Besonderheiten, die sich auf Erkenntnisse von Enderwitz beruft, wehrt dieser sich, denn die Kritik nationalstaatlicher Spezifika lasse sich nicht mit einer Kritik an Wert und Kapitalverhältnis vereinen. Er möchte bereits im Programm die möglichen Positionen vorweg nehmen, wenn er schreibt:

Entweder dieser deutsche Faschismus bleibt ein Sonderphänomen, seine ‚Implementation‘, wie man neudeutsch zu sagen pflegt, ein Sonderweg der Deutschen; dann muß man sich, um ihn zu verhindern, auf die Seite des ‚normalen‘, liberalistischen Kapitalismus als des herrschenden und den deutschen Sonderweg allein zu verbauen fähigen Allgemeinen schlagen. Oder dieser deutsche Faschismus ist – wie ja durch die These von der tendenziellen, wo nicht gar notwendigen Faschisierung des Kapitalismus nahgelegt wird – der maßgebende Wechsel auf das Schicksal des Kapitalismus ganz allgemein, der Vorgriff auf die Zukunft aller Gesellschaften, in denen kapitalistische Produktionsweise herrscht; dann hat man in vexierbildlicher Wiederaufnahme der Rede vom deutschen Wesen, an dem die Welt genesen wird, und des darin kodifizierten Größenwahns Deutschland zur schlechthin schicksalsträchtigen Nation, zum ‚Meister der Krise‘ oder besser gesagt zum ‚Tier der Apokalypse‘ erklären.“18

Dieser falschen Polarisierung zwischen Kritik am allgemeinen Kapitalverhältnis und besonderer deutscher Vergesellschaftung geht Scheit, ebenfalls in der Programmankündigung, bewusst aus dem Weg:

Der Wert ist immer und überall derselbe – mit sich selbst absolut identisch (Differenz ist allein quantitativ möglich); und er kann überhaupt nur als diese absolute Identität auf den Begriff gebracht werden. Der Staat entspricht zwar seinerseits solcher realen Abstraktion und ist insofern immer und überall der gleiche; untrennbar davon aber – also gerade in seiner Allgemeinheit – läßt er sich nur als ganz bestimmter begreifen, das heißt: im Zusammenhang, in dem er mit seinesgleichen steht und worin er sich unterscheidet. So ist es ein- und dasselbe Kapitalverhältnis, das überall in die Krise gerät, doch gerät es überall auf je verschiedene Weise in die Krise – und darüber entscheidet nicht zuletzt, welches Bewußtsein von Krise und Krisenbewältigung das Verhältnis zum Staat bestimmt und die Menschen zur Nation formiert.19

Wie in der Diskussion, aber auch im Laufe der weiteren Entwicklung des ISF und des ça ira-Verlages deutlich wird, verweigern sich Scheit und der ISF einer Dichotomie aus traditioneller linker Kapitalismuskritik und vermeintlich neokonservativer Kritik am deutschen Wesen und beantworten die Frage, ob es einen Materialismus geben könne der nicht antideutsch sei, mit einem klaren Nein. Diesen Widerspruch gegenüber Kommunisten, die von antideutscher Kritik nichts wissen und Antideutschen, die von kommunistischer Kritik nichts wissen wollen, wurde im Antideutscher Katechismus benannt:

Die Emanzipation des Deutschen ist die des Menschen, lehrte einst ein Kommunist und wir pflegen sehr buchstabengläubig zu sein, was unsere Klassiker angeht. Der Kraftaufwand, der nötig ist, um die Konterrevolution auf dem Boden der sie hervorbringenden Verkehrsformen zu stoppen, ist ähnlich dem zur Aneignung der großen Industrie. Deshalb muß Beides in Eins fallen. Wenn die USA solange das Schlimmste verhindern, gewährt uns das die dringend benötigte Zeit, unseren historische Auftrag wieder aufzunehmen und die klassen- und staatenlose Gesellschaft zu erkämpfen, bzw. das zuwege zu bringen, was Sie schüchtern und Hegelsch die Aufhebung der Warenform nennen.20

II – Ein Begriff, der schmerzt:

Eines der herausragendsten Mitglieder des ISF, der langjährige politische Wegbegleiter und im letzten Jahre verstorbener Freund Scheits, Manfred Dahlmann, bestimmte antideutsche Kritik im Bewusstsein oben dargelegter Debatten, als er schrieb:

Antideutsch denken und handeln heißt die politischen Vermittlungs- und Repräsentationsformen in Gesellschaft und Staat, die auf der Trennung von freien und gleichen Warenbesitzern einerseits und am Allgemeinwohl orientierten Staatsbürgern andererseits beruht, gegen die zu verteidigen, die diese Teilung zugunsten eines autoritären Volksstaates überwinden wollen, dessen Subjekte von nichts anderem als von seinen Wohlfahrtsleistungen abhängig sind. Wer in diesem Sinne das Etikett ‚antideutsch‘ nicht auch auf sich bezieht, mißachtet zumindest die Gefährlichkeit der – selbstredend nicht auf Deutschland und deutsche Staatsbürger beschränkte, sondern immer schon weltweit grassierende – Deutschen Ideologie, deren historischer Kern darin besteht, daß auf ihr Konto nicht nur ‚normale‘ kapitalbedingte Ausbeutung und Herrschaft, nicht nur die dem Kapital aus Prinzip immanenten Kriege und nicht nur der ihm in seinen Grund eingeschriebene Antisemitismus gehen, sondern fördert das Überleben einer Ideologie, der zudem noch die historisch und empirisch nicht zu leugnende Tatsache eingeschrieben ist, daß die deutsche Fassung der Beziehung von Staat und Gesellschaft die Auslöschung der Menschheit in zwei Weltkriegen im allgemeinen und den eliminatorischen Antisemitismus im besonderen beinahe total verwirklicht hätte.21

Die Konsequenz aus dieser Kritik der deutschen Ideologie ist nach dem 11. September 2001 (sofern deutsche Ideologie nicht geographisch essentialisiert werden soll), neben der selbstverständlichen Solidarität mit dem jüdischen Staat22 auch eine partielle Zustimmung der US-amerikanischen Politik. Als Antwort auf ein diesbezüglichen Komunique der ISF formulierte Enderwitz einen offenen Brief, aus dem einige Passagen sich in seiner Programmankündigung wiederfinden lassen. Der offene Brief ist Teil der Vorgeschichte des Streitgespräches.23 Dort kritisiert er die von der ISF formulierten Positionen zu Israel und den Vereinigten Staaten (und damit auch zum bürgerlichen Staat), deren Grundlage, die im Streitgespräch behandelte Frage nach den deutschen Besonderheiten ist. Allen voran an eine „Eloge auf den amerikanischen Kapitalismus, zu dem Ihr ansatzweise anhebt, auch wenn Ihr es schamhaft bei Andeutungen belasst“24 und die für ihn damit zusammenhängende Weigerung, den Islamismus als „ein ,Geschöpf’ der westlichen Zivilisation”25 zu sehen, das „die Gewalt und den Terror in anarchistisch entstellter Gestalt dorthin zurück“26 trägt, wo sie ihren Ursprung nahm.

Damit nimmt er eine Konkretisierung der abstrakten kapitalistischen Gewalt auf den geographischen und politischen Westen vor, anstatt (was Anspruch von Wert- und Staatskritik sein sollte) in jedem Staat eine Konkretisierung dieser Gewalt zu sehen und ihre jeweiligen Spezifika aufzuzeigen. Ihm ist es daher nicht möglich, die Erkenntnis der Unterschiede in den Spezifika der einzelnen Konkretisierungen zu betrachten. Jeder daraus folgende positive Bezug auf die (Kommunisten wenigstens ein Leben ermöglichende) bürgerliche Freiheit muss für ihn als „Eloge auf den amerikanischen Kapitalismus“ verstanden werden. Das eigentliche Anliegen antideutscher Kritik kann, dieser durch 68 aktualisierten Rezeption der Imperialismus-These folgend, nicht begriffen werden. Die ausführliche Antwort von Dahlmann auf Enderwitzens Brief versucht deshalb nicht nur, die aus dieser Rezeption folgende Kritik zurückzuweisen. Dahlmann muss „etwas tiefer in dieses deutsch-linke Denken eindringen“,27 um darzulegen, dass „die Absage an diese Tradition in meinen Augen sehr viel radikaler erfolgen muß, als das mir bei dir [Enderwitz] der Fall zu sein scheint.“28

In Reaktion auf diese greift Dahlmann nicht zur bloßen Gegen-Affirmation. Dies würde bedeuten, alles zu gutieren, was von den 68ern abgelehnt wurde:

Nicht einmal ein Antideutscher […] reinsten Wassers wird bestreiten, daß der Kampf der Studentenbewegungen in der westlichen Welt in den 60er- und 70er-Jahren gegen den Krieg der USA in Vietnam vollkommen berechtigt war und jede Unterstützung verdient hatte. Von heute aus zeigt sich jedoch, daß die damaligen Begründungen des Protestes alles andere als unschuldig zu nennen sind, sondern zum Großteil dermaßen völkisch, und damit hirnverbrannt deutsch daher kamen […] und in der Folge auch nie umfassend revidiert worden sind, daß man sich nicht zu wundern braucht, wenn diese Begründungen – etwa was die Reaktion der USA auf den Anschlag auf das WTC betrifft –, umstandslos weiterhin in der Linken vorgebracht werden und sie das unausgesprochene Paradigma der Linken in Deutschland abgeben, sobald diese sich anschickt, das zu kritisieren, was sie für Kapitalismus, Imperialismus, Unterdrückung überhaupt, hält.29

Das Festhalten an der Abstraktheit und Allgemeinheit des Kapitalverhältnisses ist auch ein Festhalten daran, dass es sich in verschiedenen historischen Konstellation auf je spezifische Art und Weise konkretisiert. Dieses Festhalten heißt zu erkennen, dass es während des Vietnamkrieges innerhalb der USA möglich war, „auf den Widerspruch, den es macht, als Führungsmacht der freien Welt und Hort der Zivilisation aufzutreten, in der Praxis aber eben diese Grundsätze mit Füßen zu treten“30 zu verweisen. Denn, anders als in Deutschland, repräsentierte die USA „nie eine in einer Massenbewegung verankerte, insbesondere die Arbeiterklasse in die Volksgemeinschaft einbindende Gesellschaft, die vom Prinzip her antikapitalistisch nicht nur agitiert, sondern auch insoweit agiert, als sie die Ausschaltung/Kontrolle der innerstaatlichen Konkurrenz als Allheilmittel der Krisenüberwindung ansieht.“31

In den Erklärungen von Enderwitz hingegen spiegelt sich das linke Unverständnis über die Dialektik von Zivilisation und Barbarei und der zwischen dem allgemeinem Kapitalverhältnis und seiner besonderen Erscheinungsformen wieder. Es war, an diese anknüpfend, das Weitertreiben der materialistischen Kritik an den deutschen Zuständen, die Einsichten über die Nähe von islamistischem Fundamentalismus zur deutschen Ideologie und die von Dahlmann erklärte Erkenntnis, „der exstierenden Unvernunft mit einem gehörigen Schuß Pragmatismus, der sich historisch begründet und an den tatsächlich gegebenen Machtverhältnissen orientiert, zu begegnen“32, die dazu beitrugen, eine genuin antideutsche und kommunistische Kritik zu entwickeln. Gerade die Selbsterhaltung als Bedingung der Möglichkeit der Abschaffung des Kapitalverhältnisses betrachtend, wird deutlich, dass „unter den gegebenen Bedingungen eine öffentliche Parteinahme für die aktuelle Politik der USA und Israels gegen Deutschland notwendig wird”33 Notwendig für eine Kritik, die dennoch hofft,

daß eine Verständigung noch möglich ist, die aus meiner Sicht im Kern auf das Einverständnis hinaus laufen sollte, daß ein Gemeinmachen mit der real existierenden deutschen, sich mit dem Kampf des palästinensischen Volkes identifizierenden Linken, […] schlicht als konterrevolutionär zu bezeichnen ist. Diese Linke in Deutschland, die dem völkischen Sezzessionswahn immer näher stand als den auf der Basis kapitalistischer Vergesellschaftung nicht einzulösenden Versprechen der bürgerlichen Revolution, steht auf der Seite der Reaktion, genauer: Regression, und dürfte für die Kritik sogar als Gegenstand verloren sein.34

– – –

1 Unter dem Namen: Kritik der Traditionen und Traditionen der Kritik werden in den nächsten Wochen insgesamt vier Aufsätze erscheinen, die versuchen eine Art Einführung in die antideutsche Kritik zu liefern. Einführung möchten wir dabei jedoch nicht im akademischen Sinne verstanden wissen, wo die grundsätzlichen Begriffe erarbeitet werden sollen, um sie in den eigenen Theoriebaukasten aufnehmen zu können, mittels dessen Hilfe man sich und seinen Dozierenden die Welt begreifbar macht. Im Unterschied zur Theorie existiert Kritik nur als permanent zu erneuernde Verneinung, die von jedem selbst aktiv vollzogen werden muss. Dementsprechend können diese Einführung nur die Denkrichtung einer Kritik andeuten.

2 Der Kongress wurde von der Initiative Sozialistisches Forum über Ostern im Jahr 2002 veranstaltet und ist vollständig als Audiomittschnitt erhalten. Das Audioarchiv stellt dankenswerter Weise die Aufzeichnung des gesamten Kongress zur Verfügung: http://audioarchiv.blogsport.de/2012/12/30/antideutsche-wertarbeit/ // Ein Bericht mit O-Tönen von der Veranstaltung findet sich hier: https://www.freie-radios.net/973 // Das gesamte Programm ist hier einsehbar: https://www.ca-ira.net/verein/positionen-und-texte/isf-wertarbeit_kongress-cd/

3 Dahlmann, Manfred: Antideutsch. Online einsehbar: https://www.ca-ira.net/verein/positionen-und-texte/dahlmann-antideutsch/

4 Kurz, Robert: die Jubelperser der Weltpolizei. Online einsehbar: https://www.exit-online.org/textanz1.php?tabelle=schwerpunkte&index=7&posnr=79&backtext1=text1.php

5 Erhältlich im, dem ISF angehörenden, ça iraVerlag: https://www.ca-ira.net/verlag/buecher/enderwitz-antisemitismus/

6 Siehe: https://www.ca-ira.net/verlag/rezensionen/enderwitz-antisemitismus_rez-bruhn/

7 bis 9 Langerhans, Heinz: die nächste Weltkrise, der zweite Weltkrieg und die Weltrevolution. Online einsehbar: http://theoriepraxislokal.org/imp/pdf/Langerhans.pdf

10 Im Vorwort zu: Enderwitz, Ulrich: Volksstaat und Antisemitismus, Freiburg, 1998. Online einsehbar: https://www.ca-ira.net/verlag/leseproben/enderwitz-antisemitismus_lp/

11 bis 13 Aus dem Programm zum Kongress. Siehe Fußnote 2.

14 Erhältlich im ça iraVerlag: https://www.ca-ira.net/verlag/buecher/scheit-meister/

15 Seite 12. Scheit, Gerhard: Die Meister der Krise, Freiburg, 2001.

16 „Und noch die fortgeschrittensten Theorien aus dem Umkreis der Kritischen Theorie teilen mit dem proletarischen Dogma die, wenn auch ökonomiekritische, Fixierung auf Gesellschaft: weder bei Theodor W. Adorno noch bei Detlev Claussen gerät der »geschäftsführende Ausschuß« der kapitalistischen Klasse, der Staat, ins Blickfeld. Hier setzt Ulrich Enderwitz’ Essay Antisemitismus und Volksstaat. Zur Pathologie kapitalistischer Krisenbewältigung an.“ zitiert nach: siehe Fußnote 6.

17 Scheit, Gerhard: Totalitärer Staat und Krise des Kapitals. Online einsehbar: http://www.gerhardscheit.net/pdf/TotalitaererStaat.pdf

18 & 19 Aus dem Programm zum Kongress. Siehe Fußnote 2.

20 Assoziation antideutscher Kommunisten ça ira: antideutscher Katechismus. Online einsehbar: https://antideutschorg.wordpress.com/2018/05/16/antideutscher-katechismus/

21 Dahlmann, Manfred: Antideutsch. Siehe Fußnote 3.

22 Bereits 1991 legte Bruhn diesbezüglich die Position des ISF in der Diskussion mit Thomas Ebermann dar. Online einsehbar: https://www.ca-ira.net/wp-content/uploads/2018/06/bruhn-golfkrieg.linke_.tod_-1.pdf

23 bis 26 Enderwitz, Ulrich: Quo Vadis ça ira. Online einsehbar: https://www.ca-ira.net/verein/positionen-und-texte/enderwitz-quo-vadis/

27 bis 34 Dahlmann, Manfred: Antwort auf Enderwitzens Quo Vadis ça ira. Online einsehbar: https://www.ca-ira.net/verein/positionen-und-texte/dahlmann-antikritik-enderwitz/