Am 27.01.2020 veranstalteten wir mit circa 60 Leuten einen Gedenkspaziergang vom ehemaligen (im NS arisierten) Bekleidungsgeschäft Adler, zum Wandbild für die Gegner und Opfer des Faschismus bis zum Gedenkstein des KZ Findorffs, wo wir den Schwur von Buchenwald vorgelesen haben und rote Nelken und Steine niedergelegt haben. Wir haben uns entscheiden den Schwur von Buchenwald vorzulesen und dabei auf die letzte Stelle, den kollektiven Schwur, zu verzichten, um deutlich zu machen, dass es uns um die Erinnerung an die Opfer und nicht um die Instrumentalisierung dieser Opfer geht. Wir möchten den Gedenkspaziergang explizit als alternatives und kommunistisches Eingedenken (im Sinne Walter Benjamins) verstehen. Im Folgenden dokumentieren wir unsere beiden Redebeiträge:
Erster Redebeitrag (am Brill / ehemaliges Bekleidungsgeschäft Adler):
Guten Abend und Danke,
dass ihr im Angesicht dieses unerfreulichen Anlasses erschienen seid.
Heute vor 75 Jahren befreiten Rotarmisten der ersten ukrainischen Front unter dem jüdischen Kommandanten Anatoli Schapiro das Konzentrationslager Auschwitz (heute) polnischen Stadt Ośwęicim. Heute steht der Name Auschwitz synonym für den industriellen Massenmord an den europäischen Jüdinnen und Juden:
„Die Forderung, daß Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die Allererste an Erziehung. Sie geht so sehr jeglicher anderen voran, daß ich weder glaube, sie begründen zu müssen noch zu sollen. Ich kann nicht verstehen, daß man mit ihr bis heute so wenig sich abgegeben hat. Sie zu begründen hätte etwas Ungeheuerliches angesichts des Ungeheuerlichen, das sich zutrug.“1
Das Eingedenken an die Opfer verpflichtet zu dem kategorischen Imperativ, „dass Auschwitz nicht noch einmal sei, dass nichts Ähnliches geschehe.“2 Der Imperativ setzt voraus, die historischen Umstände als die Bedingung der Möglichkeit des Geschehenen zu verstehen und ihre Überwindung anzustreben. Es geht hier und heute nicht um den Versuch, das Leid der Opfer nachzuvollziehen oder sich gar mit ihnen identifizieren. Es geht darum, die Verhältnisse, die dieses Leid ermöglichten im Eingedenken der Opfer zu denunzieren. Namentlich sind und waren diese Verhältnisse: Kapital, Staat und explizit der deutsche Staat.
Wer behauptet, die Shoah sei gegen den Zeitgeist, gegen den Lauf des aufgeklärten Weltgeschehens, liegt gravierend falsch. Es war d bis zur totalen Verwaltung aufgeklärte Welt, die die Shoah erst möglich machte. Die aufklärerische Rationalisierung ermöglichte nicht nur den industriellen Fortschritt, ohne den die Mordfabriken des Nationalsozialismus nicht denkbar wären. Sie schuf auch die Grundlage einer Kategorisierung der Welt und der sie bevölkernden Menschen, die ihren barbarischen Höhepunkt in den zu Nummern degradierten Insassen der deutschen Lager fand.
Antisemitismus ist der Ritualmord der Moderne. Er ist das irrationale Moment, der als Fluchtpunkt der rationalen Vernunft in einer unvernünftig eingerichteten Welt dient. Die antisemitische Weltanschauung entspringt aus dem Kapitalverhältnis und bestimmt die Juden zum absoluten Objekt. Gegenüber der offen zu Tage tretenden Unvernunft, der Unterteilung in Herrschende und Beherrschte wird der Antisemitismus zum Kitt, weil er scheinbar die Einheit der Gesellschaft von Staat und Kapital garantiert. Juden wird angelastet, für das Elend in der Gesellschaft verantwortlich zu sein. Antisemitismus zeigt sich als Weltanschauung. Innerhalb der Argumentationsstruktur oder Ideologie ist es egal, ob der Begriff Jude benutzt wird oder nicht: „Die Juden sind heute die Gruppe, die praktisch wie theoretisch den Vernichtungswillen auf sich zieht, den die falsche Gesellschaft aus sich heraus produziert.“3
In der Ideologie des Nationalsozialismus werden Jüdinnen und Juden übermächtige Eigenschaften angelastet, weswegen sie als „Gegenrasse“ konstruiert werden. Nicht umsonst schuf die Nazizeitung der Stürmer die Karikatur der Krake, um die angebliche jüdische Weltverschwörung zu verbildlichen. Die Jüdinnen und Juden sollten für das Geschehen in der Welt zur Verantwortung gezogen werden. Das antisemitische Potenzial der Gesellschaft von Staat und Kapital wird hier zum Zweck erklärt. Der ganze Staatsapparat baute auf der Vernichtung als Selbstzweck auf. Was in anderen Staaten im Moment der Krise immer wieder hervortat, wurde hier permanent mobilisiert.
Antisemitismus ist Teil des überall gegenwärtigen Allgemeinen, doch es war die historisch besondere deutschen Konstellation, in der es zum industriellen Massenmord kam. Was unterscheidet also die Nation der Täter von den Alliierten, was die völkischen von den westlichen Staaten? Während sich die westlichen Staaten auf das Aufbegehren der Bevölkerung gegen die Feudalherrschaft berufen, beruft sich der deutsche Nationalmythos auf das Aufbegehren für die Feudalherrschaft und gegen die napoleonische Fremdherrschaft. Dieses Aufbegehren wurde als Gründe für die sogenannten „Befreiungskriege“ (im 19. Jahrhundert) betrachtet. Als Befreiung wird nicht die Befreiung des Individuums vom Zwang wahrgenommen, sondern die Befreiung des Volkes von der Fremdherrschaft. In diesem Mythos wird das Individuum dem Volkskörper geopfert, anstatt sich der Volkskörper durch das individuelle Aufbegehren konstituiert. Hier werden die Mittel zum Zweck: Die Nation ist nicht Mittel zur politischen Herrschaft und Antisemitismus Mittel zur nationalen Stabilisierung, sondern sie werden zum eigentlichen Ziel.
Im Eingedenken all jener, dies wegen dieses wahnhaften Zieles erschlagen wurden, werden wir nun in Stille bis zum Wandbild für die Gegner und Opfer des Nationalsozialismus laufen, wo wir eine Zwischenkundgebung abhalten werden. Wir bitten euch dabei auf das Rufen von Parolen zu verzichten.
1Adorno: Erziehung nach Auschwitz.
2Adorno: Negative Dialektik.
3Adorno/Horkheimer: Dialektik der Aufklärung - Elemente des Antisemitismus.
Zweiter Redebeitrag (am Wandbild für die Opfer und Gegner des Nationalsozialismus):
Die Geschichte des Nationalsozialismus drängt uns als Kommunist*innen im Stande der Unfreiheit einen neuen kategorischen Imperativ auf. Im Moment, in dem die Verhältnisse, in denen „der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“, sich partout nicht umwerfen lassen, können wir nicht mit marxistischer Besserwisserei und allerlei Ableitungstheorien die Opfer der permanent angestrebten negativen Aufhebung dieser Verhältnisse auf den Sankt Nimmerleinstag der Revolution vertrösten. Es geht – wie Theodor W. Adorno festhielt – darum, sein Denken und Handeln so einzurichten, dass sich Auschwitz nicht wiederhole und nichts ähnliches sei.
Antisemitische Gewalt – und nicht nur die – ist für die Kritik der Gesellschaft kein theoretisches Problem, das – falls es als Sein nicht raffiniert durch das Sollen verdrängt wird – sich in der Praxis auch mal ausklammern lässt. Im Gegenteil: Es ist stets die äußerste Radikalität geboten, wenn die fixe Idee von der befreiten Gesellschaft nicht dem Weltgeist auf dem Altar der Geschichte geopfert werden soll. Das Begründen dieser Radikalität, die dem Denken und Handeln abverlangt wird, wäre „etwas Ungeheuerliches angesichts des Ungeheuerlichen, das sich zutrug.“1
Diese Nötigung heißt auch für die materialistische Staatskritik, dass die Solidarität mit Israel nicht zur Diskussion steht. Dabei ist es schlicht und ergreifend egal, wie wir als Privatmenschen die aktuelle Regierung oder die dortige außerparlamentarische Opposition bewerten. Die offen zur Schau getragene Sympathie für Benjamin Netanjahu unterscheidet sich von dessen wahnhaften Ablehnung oft nur in Nuancen. Sie ist viel zu oft bloß der Ausdruck eines anderen Tickets anstatt einer bedingungslosen kommunistischen Solidarität mit dem Staat der Opfer der Shoah. Es geht nicht darum, dass Israel im Gegensatz zu anderen Staaten irgendwie humaner wäre, sondern darum, dass Israel durch die Inhumanität der anderen Staaten zur einzig möglichen Verteidigung der Jüdinnen und Juden geworden ist.
Der Versuch zwischen ehrbarem Antizionismus und bösem Antisemitismus zu unterscheiden blamiert sich dadurch, dass in ihm – meist unbewusst – der Staat gegen das Kapital ausgespielt werden soll. Wie Staat und Kapital sich gegenseitig bedingen, bedingen sich auch ihre aus ihnen erwachsenden negativen Kritiken einander. Wie Antisemitismus die negative
Kapitalkritik ist, ist Antizionismus die negative Staatskritik. Erst in einer befreiten Gesellschaft lässt sich das zur Partikularität verdammte Jüdische mit dem Allgemeinen der erst noch zu vereinigenden Menschheit versöhnen. In der Welt von Staat und Kapital gibt es nur die Wahl zwischen antisemitischem Massenmord und dem kapitalistischen Staat der Juden. Jede antizionistische Israelkritik macht sich also mit dem antisemitischen Mord gemein.
Kurzum: „Für den Kommunismus“ heißt nicht nur zwangsläufig auch „Nie wieder Deutschland“, sondern immer auch Solidarität mit Israel.
Diese kommunistische Solidarität findet sich in keiner deutschen Partei wieder und ist von der deutschen Staatsräson Lichtjahre entfernt. Selbst wenn sich einiges an antideutschem Jargon in die Parteibüros der drei als links wahrgenommenen Parteien geschlichen hat, zeigten doch die Reden von Bartsch und Göring-Eckhardt anlässlich des Gedenktages zur deutsch-israelischen Freundschaft sehr deutlich, dass die politische Solidarität mit Israel immer einen instrumentellen Charakter hat.2 Davon zeugte auch jüngst die Tagesschau, die Israel – dem Staat dessen nationales Interesse der Schutz der vom Antisemitismus bedrohten ist – beim Gedenken an die Shoah allen Ernstes nationalen Egoismus vorwarf und so die deutsche Deutungshoheit über die eigenen Verbrechen beansprucht. Vom Idealtypus des wiedergutgewordenen Deutschen ganz zu schweigen, der wegen Auschwitz in die Politik geht, um als Außenminister genau jenes Mullah-Regime tatkräftig zu unterstützen, das keinen Hehl aus dem Bedürfnis der atomaren Zerstörung Israels macht, das offen die Vernichtung von 7 Millionen Einwohnern des jüdischen Staates propagiert– die Vernichtung der Bewohner der West-Bank und des Gaza-Streifens wird gewissermaßen als Kollateralschaden in Kauf genommen.
Das post-nazistische Deutschland beansprucht nicht trotz sondern wegen Auschwitz erneut eine Rolle in der Weltpolitik und jede Israelsolidarität, die sich nicht als radikale Ablehnung des Staates von Auschwitz artikuliert, trägt ihren Teil zu dieser Rolle bei. Das deutsche Gedenken ist ein Selbstzweck, dem niemals Taten folgten. Auch wenn das Ticket und der Jargon andere – etwa kommunistische – Absichten vermuten lässt, bleibt das Streben nach einer Welt ohne Antisemitismus Selbstbetrug oder Manipulation, wenn es einen Kompromiss mit dem Staat eingeht oder ihn als Mittel zur Durchsetzung vorsieht. Gerne wird dabei auch die materialistische Trauer von Adorno und Horkheimer ins Staatstragende gewendet, wenn es darum geht, der eigenen politischen Praxis eine pseudoradikale und philosophisch anmutende Legitimation zu geben. Hier wird deutlich, was Walter Benjamin meinte, als er davon sprach, dass vor dem Feind der Erlösung auch die Toten nicht sicher sind.
Nicht zuletzt zeugen die Debatten um den Antisemitismus in der britischen Labour Party, wie notwendig instrumentell die Kritik des Antisemitismus in einer zutiefst antisemitischen Welt sein muss. Es ist eine Welt, in der die jüdischen Hoffnungen auf Emanzipation zwei Mal scheiterten, denn weder gelang ihnen die bürgerliche Emanzipation zum Staatsbürger, noch die proletarische zum Sowjetgenossen. Es half ihnen keine soldatische Staatstreue – weder gegenüber dem bürgerlichen noch dem proletarischen Staat – gegen die in Krisenzeiten immer wiederkehrende und neu mobilisierte antisemitische Vereinfachung der Welt. Weder der bürgerlichen Brüderlichkeit noch der proletarischen Solidarität konnten sich Jüdinnen und Juden je sicher sein.
Doch, und dafür steht der Jahrestag der Befreiung von Auschwitz, waren es die proletarischen Armeen an der Ostfront und die bürgerlichen Armeen an der Westfront unter tatkräftiger Mithilfe zahlreicher antifaschistischer Partisanen in Süd- und Osteuropa, die den geschlossen zur nationalsozialistischen Armee mobilisierten deutschen Volkskörper an seinem Treiben hinderten und deutlich machten, dass Staat und Kapital die Möglichkeit der Katastrophe aufrecht erhalten, jedoch nicht diese sind.
Wegen all des bisher Gesagten werden wir nun als Ausdruck des Dankes und als Bedingung der Möglichkeit, dass die Opfer der Geschichte eines Tages in der befreiten Gesellschaft erlöst werden, auf dem letzten Stück unseres Weges, vom Wandbild für die Gegner und Opfer des Nationalsozialismus bis zum ehemaligen KZ Mißler, an der Spitze des Gedankspaziergangs die Fahnen der alliierten Siegermächte tragen.
Thank you military forces of the United States of America and the United Kingdom
Merci beaucoup Forces françaises de l’Intérieur
Спасибо красная армия
1Adorno: Erziehung nach Auschwitz. 2Unser Flugblatt zu „Crash the Party“: https://antideutschorg.wordpress.com/2019/11/28/flugblatt-zu-crash-the-party-afd-bundesparteitag-in-braunschweig/