What other Germany?

Dieser Text wurde ursprünglich als Diskussionsbeitrag für eine angestrebte Reflexion des sogenannten Antifa-Sommers in einer Zeitschrift gegen die Realität geschrieben. Er bezieht sich bewusst auf unseren Jungle World Artikel vom letzten Jahr und wurde seit dem Sommer 2020 nicht mehr bearbeitet.

»Das deutsche Volk wird kämpfen, bis es die Niederlage spürt. Wenn es soweit ist, wird niemand mehr unschuldig sein. Sie werden alle kommen und sagen: ›Wir waren dagegen.‹ Das ist der entscheidende Punkt, dem wir uns stellen müssen, und wenn wir daran scheitern – was keine schöne Vorstellung ist –, dann steht vielleicht ein neuer Krieg bevor: ein Krieg, aus dem niemand außer dem ›gutwilligen deutschen Anti-Nazi‹ lebend herauskommen wird.«
– Walter Loeb1

Was vor 20 Jahren im sogenannten Antifa-Sommer zur Staatsdoktrin der Berliner Republik wurde, war die Mär vom anderen Deutschland. Eine Erzählung, die schon zu Zeiten des Londoner Exils deutscher KommunistInnen und SozialdemokratInnen geprägt wurde. Mittlerweile hat die deutsche Erinnerungspolitik die militärische Niederlage in einen moralischen Sieg verwandeln können. Die Kinder und Enkel der Volksgemeinschaft, die nur mit äußerster Härte an ihrem mörderischen Treiben gehindert werden konnte, werfen die Erblast gekonnt ab und inszenieren sich werbewirksam als Nachkommen eines antifaschistischenDeutschlands. Diese Bewegung kulminiert in einem staatstragenden Antifaschismus der Zivilgesellschaft, in dem der 8. Mai als Tag der Befreiung zum Nationalfeiertag erhoben werden soll, ganz so, als wäre man nicht jene Nation, von der die Welt zumindest kurzzeitig befreit worden ist.2 So sehr die Kritik deutscher Erinnerungspolitik zum festen Bestandteil des linksradikalen Einmaleins geworden ist, so wenig wurde die eigene Rolle und Abkehr von der Militanz des revolutionären Antifaschismus in den Fokus gerückt. Doch der Antifa-Sommer und die daraus resultierende zivilgesellschaftliche Politik der Berliner Republik sind einer von vielen Belegen, wie sich eine radikale Linke erfolgreich in das kapitalistische Staatswesen hat domestizieren lassen.3

Das andere Deutschland als Herrschafts-Legitimation

Es gehört zum linksradikalen Allgemeinwissen, dass es bei staatlicher Aufarbeitung der Vergangenheit im Besonderen um gegenwärtige Interessen geht. Was sich im Begriff der Gedenkpolitik widerspiegelt, ist die von Walter Benjamin schon zur Zeit des Nationalsozialismus denunzierte Tatsache: »auch die Toten werden vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein«4. In einer staatlich-verfassten Welt darf es nicht verwundern, dass Staaten versuchen, ihre Legitimation aus der Geschichte zu ziehen: Niemand hat mehr als eine Fortsetzung der Herrschaft zu erwarten. Dass die Geschichte der Erschlagenen nur als Beute der Herrschenden denkbar ist, folgt dieser brutalen Logik. Das sollte niemals außer Acht gelassen werden, wenn über staatliches Gedenken gesprochen wird. Nicht zuletzt gilt das für die zahlreichen linken Oppositionsparteien, auf die so manche in Zeiten der AfD ihre antifaschistischen Hoffnungen setzen.5 Wie schon Karl Marx anmerkte, sind diese als Regierungsparteien im Wartestand zu begreifen, deren Wirken sich nie gegen die Herrschaft und Gewalt als solche richtet, sondern immer nur gegen das aktuelle Regierungspersonal. Die Opposition strebt nicht danach mit der Instrumentalisierung der Toten zu brechen, von der Benjamin sprach. Ihr geht es um eine inhaltliche Verschiebung. Exemplarisch zeigte das die deutsche Sozialdemokratie nach 1918,6 die den Klassenkampf als potenziellen Sieg und nicht als Notwendigkeit das Siegen an sich zu beenden sah, in großer Regelmäßigkeit.

Im Londoner Exil der frühen Vierzigerjahre bewies die deutsche Sozialdemokratie, was realpolitischer Gehalt der geschichtsphilosophischen Überlungen Benjamins war, die zur gleichen Zeit in Paris entstanden. Unmöglich war es ersterer zu großen Teilen, dem deutschen Volk – das aus parteipolitischer Sicht aus potenziellen Wählern bestand – eine Schuld an den Verbrechen des Nationalsozialismus zu geben. Wie 1914 schickte man sich an zu beweisen, dass deutsche ProletarierInnen sehr wohl ein Vaterland hätten. Das schöne Gerede von Solidarität wurde bereitwillig auf dem Altar der nationalen Sache geopfert. Wie alle Altklugen hielt man diese Aufgabe der jugendlichen Radikalität für einen Beweis der eigenen Reife. (Das haben Ex-Linksradikale immer gemeinsam, ob sie nun in den zwanziger Jahren kämpfende KommunistInnen oder in den neunziger Jahren militante Antifas waren.) Mit aller Kraft nahm die deutsche Exil-Sozialdemokratie den nationalen Kampf gegen jene Minderheit von ExilantInnen auf, die bereit waren, das Vaterland für das Wohle der Menschheit zu verraten und dabei gemeinsam mit nicht-deutschen Politikern wie dem tschecho-slowakischen Exilpräsidenten Edward Beneš7 oder dem britischen Premierminister Winston Churchill radikal gegen die durch Massenvernichtung zum Behemoth synthetisierte Volksgemeinschaft agitierten.

Während für jene der bedingungslose Antifaschismus als Gebot der Stunde erkannt wurde, konstruierten ihre damaligen GenossInnen fleißig den Mythos vom anderen Deutschland, das lediglich von einigen wenigen Nazis verführt wurde und nur noch befreit, aber sicher nicht umerzogen werden müsse. Die radikalen und antideutschen AntifaschistInnen sahen keine Möglichkeit, innerhalb der Sozialdemokratie etwas zu bewegen. Sie schlossen sich zur FightForFreedom-Gruppe zusammen und arbeiteten zunächst mit konservativen britischen Kräften zusammen, auch weil die britische Sozialdemokratie sich gegen das Behaupten einer deutschen Kollektivschuld wehrte.8 Die Gründungsresolution der FightForFreedom-Gruppe definierte den Unterschied zwischen »jenen, die das nationale Interesse und die Interessen des deutschen nationalen ‹Sozialismus› über Erwägungen der internationalen Gerechtigkeit und über die gemeinsamen Interessen aller Völker – heute namentlich über die Interessen der vergewaltigten Völker – stellen und jenen, deren Anschauungen und Politik den nationalistischen Strömungen nicht unterworfen sind, und die sich Sinn für politische Gerechtigkeit erhalten haben.«.9

Nach der militärischen Niederlage des Nationalsozialismus wurden die von den Alliierten besetzten Gebiete in die bis Ende der Achtziger die Weltpolitik dominierende Blockkonfrontation des Kalten Krieges eingegliedert. Die mit der Verdopplung Deutschlands einhergehende Hoffnung, dass zwei Staaten weniger deutsch wären als einer, entpuppte sich als eklatante Fehleinschätzung. Während in der BRD die Verfolgung der Nationalsozialisten peu à peu eingestellt wurde und stattdessen die Partei der KommunistInnen und ihre SympathisantInnen gejagt wurden, verhängte die Staatsführung der DDR ein Verbot der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) und integrierte ehemalige Nationalsozialisten wie Curt-Heinz Merkel in den Staatsapparat. Auf beiden Seiten der Mauer verloren die nationalsozialistischen Verbrechen und ihre Aufarbeitung angesichts der Blockkonfrontation an Bedeutung und spielten nur noch im Kontext einer Delegitimierung der gegenüberliegenden Seite eine Rolle. Jede Seite sah sich als Nachfahr des im Exil entdeckten anderen Deutschlands und wies jede Schuld am Nationalsozialismus von sich. Stattdessen sah man dessen Fortwesen entweder im totalitaristischen Osten oder imperialistischen Westen. Beiden galt die eigene Bevölkerung zügig als demokratisiert, wobei weder Reeducation in der BRD noch der verordnete Antifaschismus in der DDR wirklich Früchte getragen haben.

Weder SED noch SPD setzten sich mit dem Scheitern der deutschen Arbeiterbewegung im Abwehrkampf gegen die Nationalsozialisten auseinander. Der Sozialdemokrat Kurt Schumacher verteidigte die Deutschen vehement gegen eine Kollektivschuld, welche angeblich von den Alliierten kolportiert würde. Wie ein Beserker stand der bekennende Lassalleaner der Bevölkerung in ihren Bemühungen, die eigenen Verstrickung zu leugnen, bei. Anstatt den Kampf vieler SozialistInnen und SozialdemokratInnen in den Vordergrund zu stellen, setzte sich 1951 die Parteiführung um Schumacher bei den Alliierten dafür ein, dass 28 in Nürnberg von den Alliierten zum Tode verurteilten führenden Nationalsozialisten begnadigt werden. Im „besseren“ Deutschland klammerte man sich derweil an antifaschistische Superhelden wie den heimattümelnden Stalinisten Ernst Thälmann, während tatsächlich militante Antifaschisten wie Georg Elser in der Aufarbeitung des Widerstandes keinerlei Rolle spielten. Der systematische Versuch der Vernichtung des europäischen Judentums durch die Nationalsozialisten galt als Kollateralschaden eines aggressiven Nationalismus. Dies spiegelte sich z.B. in der Aufteilung in Kämpfer gegen den Faschismus und Opfer des Faschismus wider. Mitglieder beider Arbeiterparteien und ihrer Vorfeldorganisationen galten als wackere StreiterInnen gegen den Nationalsozialismus. Als Opfer wurden zumeist nur Juden eingeordnet. Mit dieser selektiven Geschichtsschreibung konnte die SED ein weiteres Problem umgehen: Ihr eigenes Versagen als Arbeiterpartei vor 1933, das sinnlose Verheizen von zehntausenden ParteigenossInnen in den ersten beiden Jahren der NS-Herrschaft musste nicht zur Sprache kommen.

Neues Deutschland? Die Berliner Republik

Am 8. Mai 1985 begann mit der Rede von Richard von Weizäcker die Verschiebung der Erinnerung im westlichen Deutschland, die mittlerweile das offizielle Gedenken und die Publikationen des zivilgesellschaftlichen Antifaschismus bestimmt: Der 8. Mai sollte als Tag der Befreiung gewürdigt werden. Es gingen mehrere Jahre ins Land, bis das politische Establishment der Berliner Republik vollends »den Mehrwert des Schuldbekenntnisses«10 erkannt hatte. In dieser Hinsicht überlebte die Bonner Republik – in Gestalt von Helmut Kohl – die DDR um ganze acht Jahre. 1995, zehn Jahre nach der Rede von Weizäckers, erklärte der ewige Kanzler: »Niemand hat das Recht festzulegen, was die Menschen in ihrer Erinnerung zu denken haben«.11 Was der hellsichtige von Weizäcker besser als Kohl verstand und was Alexander Gauland nur mit dem Verrat an seinem Traum von einer Volkssouveränität akzeptieren kann, ist nicht weniger als die Wiedergeburt der deutschen Volksgemeinschaft nach dem Nationalsozialismus. Es war die Rehabilitierung der durch die Geschichte gänzlich verdreckten Ideen von Familie und Heimat als schützende Kollektive. »Beide nämlich«, so Uli Krug, »salviert das geläuterte Deutschland, bereinigt sie vom Makel der Vergangenheit, nicht, indem es sie verschweigt, sondern indem es in ihr schwelgt, narrativiert und personalisiert.«12 Wie sehr die Volksgemeinschaft der Berliner Republik unter etablierten Parteien Konsens geworden war, zeigte nicht zuletzt das Aufkommen einer Partei, die sich, und das für viele Wähler scheinbar glaubwürdig, als fundamentale Alternative gegenüber jenem Konsens präsentieren kann.

Die AfD muss gegen die Berliner Republik und von Weizäcker mobilisieren, weil ihre Konzeption einer Volkssouveränität nicht mit einer postnazistischen Volksgemeinschaft denkbar ist, die in die Institutionen des Parlamentarismus eingehegt wurde. Denn die »Ausstellung der Schande« (Martin Walser), durch die sich die Berliner Republik als geläuterter Global Player inszeniert, belegt, dass das Volk als solches fehlbar ist und eines demokratischen Rahmens bedarf. Genau dieser künstliche Rahmen, das von den Vereinigten Staaten auferlegte System des Rechts, steht über dem Lebhaften des Politischen – wie es von Carl Schmitt und seinen Anhängern gedacht wird. Auch die CDU der Bonner Republik und Helmut Kohl konnten mit der »List der Vernunft« (Hegel), die im Erlangen eines Sieges durch die Akzeptanz einer Niederlage steckt, wenig anfangen. Erkannte sie doch, dass die Erinnerungen der Bevölkerung – insbesondere der eigenen Wählerschaft – an den 8. Mai noch viel zu lebhaft und die erlebte Trauer über die brutale Zerschlagung des eigenen mörderischen Traums zu tiefgreifend war, als sie ernsthaft daran denken konnten, Oma, Opa oder Hans-Peter glauben zu machen, dass man befreit worden wäre. Die CDU der Bonner Republik wusste sehr gut, dass Saul Friedländer mit seinen Beobachtungen aus dem Jahre 1945 Recht hatte. Sie bedienten ihr ex-nazistisches und ihr ins Private gekehrtes Klientel so gut es ging, indem beispielsweise der Traum von der Eroberung Moskaus, eingebettet in das „Sternen und Streifen Banner“, weiterleben konnte.

Als im November 1989 die Mauer fiel und im Schnellverfahren die ehemalige SBZ an die Bundesrepublik angeschlossen wurde, offenbarten sich die unter Westbindung und Sowjettreue fortwesenden Kontinuitäten in Städten wie Solingen, Mölln, Rostock-Lichtenhagen oder Hoyerswerda. Fortan nahm es die radikale Linke selbst in die Hand. Ob in Recherche- oder Sportgruppen, stets wurde dem pädagogischen Verständnis ihre Strategie des Dialogs entgegengehalten: »Was wir reichen sind geballte Fäuste, keine Hände.«13 Die Selbstorganisation jenseits von Parteien wurde durch bundesweite Organisationen und lokale Hochburgen postautonomer Strukturen ermöglicht: ein militantes Netzwerk, das sich erfolgreich dem Zugriff des Staates entzog. Fast ein Jahrzehnt konnte der revolutionäre Antifaschismus sich als linksradikale Praxis abseits von ostalgischem ML-Kitsch und mit explizit artikulierter Staatsferne etablieren, um gegenüber Deutschland und seinen Nazis – im wahrsten Sinne des Wortes – schlagkräftig, autonom und handlungsfähig zu bleiben. Doch alles war, wie so viele linksradikale Bewegungen, nur von kurzer Dauer.

Der Antifa-Sommer 2000 und der damit einhergehenden Etablierung der Berliner Republik als antifaschistischer Gedenkweltmeister, das Aufkommen des Rechtspopulismus und -extremismus in ehemals von Deutschland besetzten Ländern bzw. in Ländern, die gegen den Nationalsozialismus kämpften, führten zu einer Verschiebung der Wahrnehmung. Die gezielte Tötung von Kaukasiern auf offener Straße in Moskau durch russische Neonazis, das Aufkommen des Front National, der Versuch der Islamischen Republik Atombomben herzustellen, die gesellschaftliche Ausgrenzung der Sinti und Roma in Osteuropa, die Wahl von George W. Bush jr. oder die tiefgreifende Ablehnung von Homosexualität im katholischen Polen verführten zur irrigen Annahme, dass zumindest bestimmte Regionen Deutschlands eine Oase des Glücks darstellen, zu dessen Verteidigung die kategorische Staatsferne aufgegeben werden konnte. Dass diese angebliche Liberalität zu einem großen Stück einer wirtschaftlichen Situation geschuldet war, die nur dank der großzügigen Hilfe der US-Amerikaner nach dem Zweiten Weltkrieg ermöglicht wurde und in Krisenzeiten stets als Erstes vom postnazistischem Staat und seinem Volk geopfert würde, wurde verdrängt.

Bereits zwei Jahre nach dem als Aufstand der Anständigen ausgerufenem Antifa-Sommer konstatierte das Antifaschistische InfoBlatt (AIB): »Der rechte Rollback auf allen Ebenen trifft viele unabhängige Antifas unvorbereitet.« Das Fachmagazin, dessen ästhetische Nähe zur Militanz ihm den zivilgesellschaftlichen Erfolg von Der Rechte Rand bis heute verwehrt, sah die antifaschistische Bewegung durch den Zusammenbruch der überregionalen Organisierung als »dramatisch geschwächt« an. Die Redaktion stellte nüchtern fest, dass »subjektive, alle Sicherheitskriterien und Ideen von Kollektivität außer Acht lassende Aktionsbeschreibungen z.B. bei Indymedia ein schlechter Ersatz für gemeinsame, überregionale Diskussionen, Analysen und durchdachte Kampagnen« seien. Vor allem die »Streicheleinheiten der Zivilgesellschaft« und das Offenlegen von Strukturen, »die nicht an die Öffentlichkeit gehören« wurden als Todeskuss einer Bewegung gesehen, deren cleverer Teil das kleine Schwarze nach dem Studienabschluss erfolgreich gegen ein Sakko tauschen konnte und nun erfolgreich in Zivilgesellschaft macht. Die Floskel »Antifa in der Krise«, dass verrät ein kurzer Blick in das Archiv des AIB, ist seitdem in der Publikation häufiger zu finden.14

Das AIB erkannte, anders als es das notwendig falsche Bewusstsein der berufstätigen Ex-Linksradikalen zulassen könnte, dass die Zivilgesellschaft nicht als anti-staatlicher Akteur, Arbeitgeber oder Kooperationspartner einer linksradikalen Bewegung zu sehen ist. Sie ist vielmehr als gegensouveränistische Verlängerung des Staates zu verstehen, die einen Beitrag zur Konstitution der deutschen Souveränität leistet.15 Die Zivilgesellschaft ist selbst verstaatlicht, denkt in den vom Staat gesetzten politischen Kategorien des Rechts und greift dem Staat dort unter die Arme, wo dieser seit der rot-grünen Entschlackungskur selbst nicht mehr aktiv werden kann oder will, was sich besonders im ehrenamtlichen Engagement äußert. Natürlich steht die Zivilgesellschaft nicht Seite an Seite mit dem Verfassungsschutz oder der Polizei, aber gerade durch diesen synthetisierten Widerspruch von Freiheit und Zwang konstituiert sich die deutsche Souveränität und die Legitimation durch Partizipation der Bevölkerung. Wenn sich die Zivilgesellschaft einmal zur Polizeikritik hinreisen lässt, dann bewegt sich diese auf einer rein inhaltlichen Ebene der Ausgestaltung des staatlichen Gewaltmonopols, wodurch die Existenz der Gewalt bereits verdrängt und der Staat fetischisiert wurde. Nicht nur sorgt die Zivilgesellschaft so für ein ruhiges Hinterland, welches ein außenpolitisch umtriebiger deutscher Staat dringend benötigt. Sie leistet auch die Resteverwertung einer sich einst revolutionär gebärdenden Jugendbewegung und ihrer wichtigsten Protagonisten. Die #Antifa ist staatstragend geworden und hat sich mit der Polarisierung der Gesellschaft durch die AfD auf die Seite von Weiszäckers, der Berliner Republik und des postnazistischen Sozialpakts geschlagen. Als Alexander Gauland daran erinnerte, dass das deutsche Volk am 8. Mai eine Niederlage erlangte, wurde dies in den sozialen Medien mehr als deutlich.

Nationalfeiertag oder Staatskritik

Denen, die sich mit diesem Label ins politische Geschäft begeben und mit dem Slogan Wer nicht feiert, hat verloren das Ablassgeschäft mit der deutschen Kollektivschuld ritualisiert haben, kam Gaulands Äußerungen gelegen, um die eigene politische Agenda voran zu treiben. Die Forderung? Der Tag der Befreiung solle zum Nationalfeiertag werden, wodurch sich eine ganze Nation als Gemeinschaft von WiderstandskämpferInnen und ihren Nachfahren inszenieren, gleichzeitig das Erbe des NS auf das dunkle Deutschland und seine blaue Partei abgespalten werden könne. Die Diskrepanz zwischen denen, die 1945 befreit wurden, und denen, die als Teil der deutschen Nation diese Befreiung feiern, ist himmelschreiend. Als Testemonial für diese Kampagne kürten sie die Holocaust-Überlebende und bekennende Antizionistin Esther Bejarano. Der mit dieser Entscheidung einhergehende Verrat an jenem Land, das als einziges der Welt die richtigen Konsequenzen aus dem Nationalsozialismus zog und noch heute dafür sorgt, dass Juden niemals wieder unbewaffnet ihren Peinigern gegenüberstehen sollen, ist den Adepten des deutschen Antifaschismus nicht einmal aufgefallen.

Mit der Forderung eines Nationalfeiertages ist man endgültig erwachsen geworden. Man hat die eigene Militanz als »linksradikale Kinderkrankheit« (Lenin) erfolgreich kuriert. Während der autonome Aktionismus zur Jugendsünde oder dem Erwerb von soft skills herabgewürdigt wird, hat man Staatskritik erfolgreich in eine materialistische Staatstheorie und damit zahnlose akademische Disziplin verwandelt. Der Abgesang auf das Konzept des revolutionären Antifaschismus war die Grundlage für eine erfolgreiche Integration in die wiedergutgewordene Zivilgesellschaft, als deren human ressources und brainpool sich die einstigen Antifas heute sehen.16 Zwang einen die praktische Militanz zur Staatsferne, hat man mittlerweile das Prinzip Georg Elser ausgerechnet gegen den Antifaschismus von KPD und SED getauscht, von dem jener so bitter enttäuscht wurde. Indem man gegen AfD und für Nationalfeiertage breite Bündnisse schmiedet und die Einheit eines aufrechten, guten, anständigen und anderen Deutschlands beschwört, unterscheidet man sich im Konformismus nicht mehr von den marxistisch-lenistischen Traditionslinken, gegen die man als Jugendbewegung aufbegehrte. Letztere übrigens haben in Gestalt der DKP der breitgefächerten Bündnispolitik von einst eine strikte Absage erteilt. Wenn man Nie Wieder sagt, dann dünkt man sich heute noch bedeutend klüger als jene mit ihrem Nie wieder Krieg. Doch wie der Marxismus-Leninismus hat man selbst seinen Frieden mit dem deutschen Staat gemacht. Die #Antifa-Haltung erinnert nur noch vom Namen her an ihren Ursprung. Sie ist notwendig falsches Bewusstsein all jener, die in der Zivilgesellschaft oder den deutschen Parteien ihr Geld verdienen, den karrieretechnischen Bedürfnissen entsprechend zurechtgestutzt worden sind.

Dass die breite Kampagne für den Nationalfeiertag auf wenig bis gar keine Resonanz stieß, zeigt vor allem eins: Der deutsche Staat hat es nach dem Antifa-Sommer 2000 und dem Willkommens-Sommer 2015 längst nicht mehr nötig, international zu Kreuze zu kriechen. Ohne dass es allzu große Aufmerksamkeit erzeugen würde, kann mittlerweile frei von der Leber weg Israel für sein nationalistisches und egoistisches Gedenken an die Shoah kritisiert werden. Ganz so, als wäre die Notwendigkeit eines nationalen Egoismus der Juden nicht die einzig mögliche Antwort auf einen allgegenwärtigen Antisemitismus in einer Welt von Staat und Kapital. Dieser Aufstieg Deutschlands, vom Juniorpartner der USA zum Hegemonen innerhalb Europas, verlief nicht gradlinig, erst recht nicht reibungslos, führte letztlich aber zum Erfolg. Der dritte Griff zur Weltmacht der vor 75 Jahren besiegten Volksgemeinschaft wird kaum auf militärische Mittel zurückgreifen.17 Niemand begeht dreimal denselben Fehler. Der Krieg der deutschen »Anti-Nazis«, von dem Walter Loeb im Eingangszitat sprach, wird mit friedlichen Mitteln geführt. Er zielt direkt auf das Herz der Bestien. Im Bündnis mit Schurkenstaaten wie der Islamischen Republik Iran, autoritären Regimen wie Russland und atheistischen Diktaturen wie der Volksrepublik China robbt sich Old Europe unter Führung Deutschlands langsam, aber sicher an der Hegemonialmacht USA vorbei.

1 Walter Loeb: Deutsche Propagandisten in Curt Geyer, Walter Loeb u.a. : Fight for Freedom – die Legende vom anderen Deutschland. Freiburg, 2009, 95-104, hier 103.
2 Ausführlicheres zum staatstragenden Antifaschismus siehe: Redaktion Antideutsch.org: Antifa heißt nicht Zivilgesellschaft in Jungle World 2020/26.
3 In der Regierungsperiode von Rot-Grün 1998-2005 betrifft dies verschiedene Generation des linksradikalen Protestes. Neben den ehemaligen Spontis, die nun auf den Regierungsbänken Platz nahmen, waren es ehemalige Antifas und Autonome, die die neugeschaffenen Stellen innerhalb der Zivilgesellschaft annahmen. Beide Generationen folgten so dem unsäglichen Diktum: Wer mit 19 kein Revolutionär ist, hat kein Herz. Wer mit 40 immer noch ein Revolutionär ist, hat keinen Verstand.
4 Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte (Werke und Nachlass Band 19), Berlin, 2010, 96.
5 Siehe dazu: The Future is Unwritten: Gestern radikal – heute Landtagswahl in konkret2019/09. Online: https://www.unwritten-future.org/index.php/gestern-radikal-heute-landtagswahl/
6 Mit Willy Huhn ließe sich argumentieren, dass in der deutschen Sozialdemokratie 1918 gar kein Umschwung gegen die Revolution stattgefunden habe und die Parteielite weder ein ernsthaftes Interesse an der Marxschen Kritik noch an revolutionären Erhebungen hatte. Als Belege führt er dazu nicht nur die nationalistische Positionierung 1914 an, sondern deren generelle auf die staatliche Politik ausgerichtete Struktur. Siehe dazu: Willy Huhn: Der Etatismus der Sozialdemokratie – Zur Vorgeschichte des Nazifaschismus. Freiburg, 2003.
7 Näheres zur Rolle von Beneš im Londoner Exil: Florian Ruttner: Pangermanismus – Edvard Benes und die Kritik des Nationalsozialismus. Freiburg, 2019.
8 Zur FightForFreedom-Gruppe siehe: Geyer et al. 2009. Darin befindet sich auch eine historische Einordnung durch Jan-Georg Gerber und Anja Worm.
9 Fritz Bieglik, Curt Geyer, Carl Herz, Walter Loeb, Kurt Lorenz & Bernhard Menne: Der Kampf gegen den Nationalismus in der deutschen Arbeiterbewegung muß von vorne begonnen werden. Erklärung der Fight-for-Freedom-Gruppe vom 2. März 1942 in: Geyer et al. 2009, 65-70, hier 67.
10 Uli Krug: Böser Adolf, guter Richard in Bahamas 71/Sommer 2015.
11 Zitiert nach: ebenda.
12 Ebenda.
13 Brothers Keepers: Adriano (Letzter Warnung).
14 Alle Zitate im vorherigen Absatz aus: Antifa in Bewegung. In Antifaschistisches Infoblatt 56/02.2002. Online: https://www.antifainfoblatt.de/artikel/antifa-bewegung
15 Hier ist der aktuellen Blattlinie der Bahamas explizit zu widersprechen, wenn sie die Zivilgesellschaft für ein Untergraben der Souveränität kritisiert und sich im politischen Spiegelspiel auf die Seite des Souveränismus schlägt. Ausführlicheres dazu: Redaktion Antideutsch.org: Clash of what…? Online: https://antideutschorg.wordpress.com/2019/05/21/europwahl/
16 Wie sehr ehemalige AntifaschistInnen in der Zivilgesellschaft angekommen sind, zeigt sich, wenn in öffentlich-rechtlichen Medien über Antifa gesprochen wird und dabei Beschäftigte des akademischen Betriebs zu Wort kommen, deren Themenwahl und Alter zumindest Berührungspunkte mit dem militanten Antifaschismus der Neunziger nahelegen. Beim Deutschlandfunk wird zum Beispiel offen ausgesprochen, was hier polemisch formuliert wurde: »Viele professionell und halbprofessionell arbeitende Fachjournalistinnen texten für Internetseiten und soziale Medien. Es gibt etablierte Archive, Vereine, die aus antifaschistischen Strukturen hervorgegangen sind.« (Schnee, Philipp: Zwischen Engagement und Gewalt. Online: https://www.deutschlandfunk.de/mythos-antifa-zwischen-engagement-und-gewalt.724.de.html?dram:article_id=463089 )
17 Lesenswert dazu: Ilka Schröder (Hg.): Weltmacht Europa – Hauptstadt Berlin? Hamburg, 2004.

75 Years: Antifa-Infopodcast

„Zunächst möchten wir uns klar von anderen Formen des Gedenkens abgrenzen. Wir finden, dass dies zu wenig innerhalb der radikalen Linken und im Besonderen in der antideutschen Szene passiert ist. Gerade in Deutschland, wo das Gedenken zur ideologischen Legitimation des staatlichen Handelns dient, muss man sich in fundamentale Opposition gegenüber jeder offiziellen Form des Gedenkens begeben, wenn man sich nicht von der staatstragenden Zivilgesellschaft der Berliner Republik vereinnahmen lassen möchte.“
– Solarium (Im Gespräch mit uns)

Anlässlich des 75jährigen Jubiläums der militärischen Zerschlagung des Nationalsozialismus haben wir damit begonnen, gemeinsam mit unseren GenossInnen von Solarium (kommunistische Gruppe Bremen), einige Texte aus den Broschüren der 70Years-Kampagne zu vertonen. Die 70Years-Kampagne war eine an Jugendliche gerichtete Antifa-Infokampagne mit dem Ziel den deutschen Umgang mit dem Nationalsozialismus der Widerwärtigkeit zu überführen und ihm einen antifaschistischen, antideutschen und ideologiekritischen (damit auch kommunistischen) Umgang mit der Geschichte entgegen zu halten. Dies knüpft sowohl an das Projekt dieser Website an, als auch an einige Aktivitäten unsere GenossInnen aus Bremen.

Alle drei Broschüren der 70Years-Kampagne lassen sich Online abrufen, die dritte kann über uns oder bei Solarium (solariumkgb at riseup dot net) bestellt werden.
1) D-Day: https://issuu.com/70years/docs/brosch__re
2) Victory Day: https://issuu.com/70years/docs/brosch__re_dina5
3) The Aftermath: https://issuu.com/antideutscheaktionberlin/docs/the_aftermath_of_the_allied_triumph

Ilja Ehrenburg: es reicht.

Am 11ten April erschien der letzte Kriegsartikel des jüdischen und sowjetischen Antifaschisten Ilja Ehrenburg. Weil der „größte antideutsche Hetzer von allen“ (dein Weckruf) – wieder mal – in Konflikt mit der sowjetischen Führung geriert, wurde im danach bis Kriegsende das Publizieren in der ‚Prawda‘ untersagt. Auch das von ihm, als Beitrag im Kampf gegen den sowjetischen Antisemitismus, geplante ‚Schwarzbuch über den Genozid an den sowjetischen Juden‘ konnte nie in der Sowjet Union erscheinen. Mit seinen Kriegsartikel wollte er vor allem die Soldaten und Soldatinnen der roten Armee über die Verbrechen der deutschen Aufklären und ihnen die Notwendigkeit der militärischen Zerschlagung Deutschlands deutlich machen, aber auch außerhalb der Sowjet Union fanden sie innerhalb der Anti-Hitler-Koalition begeisterte Leser. Charles de Gaulle verlieh im 1945 den Offiziersorden der Ehrenlegion für seine Kriegsartikel. Anlässlich des Jahrestages der Befreiung von Auschwitz durch die Rote Armee dokumentieren wir hier den letzten Kriegsartikel Ehrenburgs.

Ge­fal­len ist das un­ein­nehm­ba­re Kö­nigs­berg, ge­fal­len zwölf Stun­den nach den Be­teue­run­gen des Ber­li­ner Ra­di­os, dass die Rus­sen nie in Kö­nigs­berg sein wür­den. Die Feder des Chro­nis­ten bleibt hin­ter der Ge­schich­te zu­rück. Die Rote Armee steht im Zen­trum von Wien. Die ver­bün­de­ten Trup­pen sind bis Bre­men und Braun­schweig vor­ge­rückt. Die Frit­ze, die in Hol­land ste­cken ge­blie­ben sind, wer­den dort nicht mehr her­aus­kom­men. Auch aus dem Ruhr­ge­biet wer­den die Frit­ze nicht mehr herauskommen.​Vor einer Woche haben die Deut­schen von der „Elb­gren­ze“ ge­spro­chen. Noch vor kur­zem hat Hit­ler daran ge­dacht, in Ös­ter­reich Schutz zu su­chen, jetzt schaut er vol­ler Ent­set­zen nach Süden. Es ist schwer auf­zu­zäh­len, was er ver­lo­ren hat: die Ost­see­küs­te von Til­sit bis Stet­tin, alle In­dustrie­ge­bie­te – Schle­si­en, das Saar­land, das Ruhr­ge­biet, die Korn­kam­mern Preu­ßens und Pom­merns, das un­er­mess­lich rei­che Frank­furt, Ba­dens Haupt­stadt Karls­ru­he, große Städ­te – Kas­sel, Köln, Mainz, Müns­ter, Würz­burg, Han­no­ver. Ame­ri­ka­ni­sche Pan­zer­sol­da­ten haben eine Ex­kur­si­on durch den ma­le­ri­schen Harz be­gon­nen. Bald wer­den sie den Bro­cken sehen, auf dem es der Über­lie­fe­rung nach Hexen gibt. Die­ser An­blick wird sie kaum ver­wun­dern: In den deut­schen Städ­ten haben sie ganz reale Hexen ge­se­hen. Eine an­de­re ame­ri­ka­ni­sche Ab­tei­lung ist bis zu der baye­ri­schen Stadt vor­ge­rückt, die ich schon mehr­mals in mei­nen Ar­ti­keln er­wähnt habe, be­zau­bert von ihrem me­lo­di­schen Namen – Schwein­furt (über­setzt „Furt für Schwei­ne“).

Es gibt Ago­ni­en, die vol­ler Größe sind. Deutsch­land geht jäm­mer­lich unter – kein Pa­thos, keine Würde. Den­ken wir an die üp­pi­gen Pa­ra­den, den Ber­li­ner „Sport­pa­last“, wo Adolf Hit­ler so oft ge­brüllt hat, dass er die Welt er­obern wird. Wo ist er jetzt? In wel­cher Ritze? Er hat Deutsch­land an den Ab­grund ge­führt und zieht es jetzt vor, sich nicht zu zei­gen. Seine Hel­fer sind nur um das eine be­sorgt: wie sie ihre Haut ret­ten kön­nen. Die Ame­ri­ka­ner haben die Gold­re­ser­ven Deutsch­lands ge­fun­den; die Ban­di­ten haben Reiß­aus ge­nom­men und sie im Stich ge­las­sen. Nun ja, die deut­schen Frau­en ver­lie­ren ihre ge­stoh­le­nen Pelze und Löf­fel und die Herr­scher des Deut­schen Rei­ches ver­lie­ren Ton­nen von Gold. Und alle lau­fen, alle ren­nen umher, alle tre­ten ein­an­der auf die Füße bei dem Ver­such, sich zur schwei­ze­ri­schen Gren­ze durch­zu­schla­gen. „Das Jahr 1918 wird sich nicht wie­der­ho­len“, hat Go­eb­bels hoch­mü­tig ver­kün­det; das war vor ein paar Mo­na­ten. Jetzt dür­fen die Deut­schen nicht ein­mal mehr davon träu­men, dass sich das Jahr 1918 wie­der­holt. Nein, das Jahr 1918 wird sich nicht wie­der­ho­len. Da­mals stan­den an der Spit­ze Deutsch­lands Po­li­ti­ker, wenn auch be­schränk­te, Ge­ne­rä­le, wenn auch ge­schla­ge­ne, Di­plo­ma­ten, wenn auch schwa­che. Jetzt ste­hen an der Spit­ze Deutsch­lands Gangs­ter, ein ge­müt­li­cher Freun­des­kreis von Kri­mi­nel­len. Und die pro­mi­nen­ten Ban­di­ten den­ken nicht an das Schick­sal des klei­nen Diebs­ge­sin­dels, das sie um­gibt, die Ban­di­ten sind nicht mit der Zu­kunft Deutsch­lands be­schäf­tigt, son­dern mit ge­fälsch­ten Päs­sen. Ihnen ist nicht nach Staats­ge­spräch und Staats­streich: Sie las­sen sich Bärte wach­sen und fär­ben ihre Haar­schöp­fe. Die aus­län­di­sche Pres­se hat ein gutes Jahr lang den Ter­mi­nus „be­din­gungs­lo­se Ka­pi­tu­la­ti­on“ dis­ku­tiert. Aber die Frage ist nicht, ob Deutsch­land ka­pi­tu­lie­ren will. Es ist nie­mand da zum Ka­pi­tu­lie­ren. Deutsch­land ist nicht da: Da ist eine ko­los­sal große Rotte, die aus­ein­an­der­läuft, wenn die Rede auf Ver­an­wor­tung kommt. Es ka­pi­tu­lie­ren Ge­ne­rä­le und Frit­ze, Bür­ger­meis­ter und stell­ver­tre­ten­de Bür­ger­meis­ter, es ka­pi­tu­lie­ren Re­gi­men­ter und Kom­pa­ni­en, Städ­te, Stra­ßen, Woh­nun­gen. In an­de­ren Kom­pa­ni­en, in den Nach­bar­häu­sern oder -​woh­nun­gen wie­der­um sträu­ben sich die Ban­di­ten noch und ver­ste­cken sich hin­ter dem Namen Deutsch­land. So ist es mit dem Ein­fall der kul­tur­lo­sen und blut­dürs­ti­gen Fa­schis­ten, die Welt un­ter­wer­fen zu wol­len, zu Ende ge­gan­gen.

Die „Deut­sche All­ge­mei­ne Zei­tung“ ver­si­chert ihren Le­sern (gibt es sie noch? Den Deut­schen ist schließ­lich jetzt nicht nach Zei­tun­gen), dass die deut­schen Sol­da­ten „fa­na­tisch so­wohl gegen die Bol­sche­wi­ken als auch gegen die Ame­ri­ka­ner kämp­fen“. Un­se­re Ver­bün­de­ten kön­nen über diese Worte la­chen: An einem Tag haben sie fast ohne Kämp­fe vier­zig­tau­send Deut­sche ge­fan­gen ge­nom­men. Die Kor­re­spon­den­ten er­zäh­len, dass die Ame­ri­ka­ner bei ihrem Vor­rü­cken nach Osten immer auf ein Hin­der­nis tref­fen: Mas­sen von Ge­fan­ge­nen, die alle Stra­ßen ver­stop­fen. Beim An­blick der Ame­ri­ka­ner be­ge­ben sich die Deut­schen wahr­haf­tig mit fa­na­ti­scher Hart­nä­ckig­keit in Ge­fan­gen­schaft. Die Ge­fan­ge­nen be­we­gen sich ohne Kon­voi, und die Pos­ten an den La­gern sind nicht dazu auf­ge­stellt, die Ge­fan­ge­nen beim Weg­lau­fen zu stö­ren, son­dern damit die sich er­ge­ben­den Frit­ze, die in die Lager drän­gen, ein­an­der nicht er­drü­cken. Ver­ges­sen sind so­wohl Gott Wotan als auch Nietz­sche als auch Adolf Hit­ler alias Schick­lgru­ber – die Über­men­schen mun­tern ein­an­der mit den Wor­ten auf: „Halt aus, Ka­me­rad, die Ame­ri­ka­ner sind nicht mehr weit …“.

Der aus­län­di­sche Leser wird fra­gen: Warum haben denn die Deut­schen mit einer sol­chen Hart­nä­ckig­keit ver­sucht, Küstrin zu hal­ten? Warum schla­gen sie sich ver­bis­sen in den Stra­ßen Wiens, um­ge­ben von der Feind­se­lig­keit der Wie­ner? Warum haben die Deut­schen ver­zwei­felt Kö­nigs­berg ver­tei­digt, das Hun­der­te Ki­lo­me­ter von der Front an der Oder ent­fernt ist? Um auf diese Fra­gen zu ant­wor­ten, muss man sich an die furcht­ba­ren Wun­den Russ­lands er­in­nern, von denen viele nichts wis­sen wol­len und die viele ver­ges­sen wol­len.

Am 1. April 1944 er­mor­de­ten die Deut­schen 86 Ein­woh­ner der fran­zö­si­schen Ge­mein­de Asque. Der deut­sche Of­fi­zier, der den Mord lei­te­te, er­klär­te, als man ihn nach den Grün­den für die Er­schie­ßung frag­te, er habe „irr­tüm­lich einen Be­fehl an­ge­wandt, der sich auf das ok­ku­pier­te so­wje­ti­sche Ter­ri­to­ri­um bezog“. Ich rede die Qua­len, die Frank­reich durch­ge­macht hat, nicht klein; ich liebe das fran­zö­si­sche Volk und ver­ste­he sein Leid. Aber mögen alle über die Worte die­ser Men­schen­fres­ser nach­den­ken. Ge­ne­ral de Gaul­le reis­te kürz­lich zu dem Asche­h­au­fen, der von dem Dorf Ora­dour übrig ge­blie­ben ist; die Deut­schen haben alle seine Ein­woh­ner ge­tö­tet. Von sol­chen Dör­fern gibt es in Frank­reich vier. Wie viele von sol­chen Dör­fern gibt es in Bel­o­russ­land?

Ich will an die Dör­fer des Le­nin­gra­der Ge­biets er­in­nern, wo die Deut­schen die Hüt­ten zu­sam­men mit den Men­schen ver­brannt haben. Ich will an die Stre­cke Gs­hatsk – Wilno er­in­nern: daran, wie sorg­fäl­tig, ak­ku­rat die Sol­da­ten der deut­schen Armee, nicht Ge­sta­po­leu­te, nicht ein­mal SS-​Leu­te, nein, ganz ge­wöhn­li­che Frit­ze, Orjol, Smo­lensk, Wi­tebsk, Pol­ta­wa, hun­der­te an­de­rer Städ­te nie­der­ge­brannt haben. Als die Deut­schen ei­ni­ge eng­li­sche Kriegs­ge­fan­ge­ne er­mor­de­ten, schrie­ben die aus­län­di­schen Zei­tun­gen zu Recht von einer un­er­hör­ten Bar­ba­rei. Wie viele so­wje­ti­sche Kriegs­ge­fan­ge­ne haben die Deut­schen er­schos­sen, er­hängt, mit Hun­ger zu Tode ge­quält? Wenn die Welt ein Ge­wis­sen hat, muss die Welt Trau­er­klei­dung an­le­gen, wenn sie auf das Leid Bel­o­russ­lands sieht. Denn man trifft nur sel­ten einen Bel­o­rus­sen, des­sen Nächs­te die Deut­schen nicht er­mor­det haben. Und Le­nin­grad? Kann man mit Ge­las­sen­heit an die Tra­gö­die den­ken, die Le­nin­grad durch­lebt hat? Wer so etwas ver­gisst, ist kein Mensch, son­dern ein schä­bi­ges In­sekt.

Es gab Zei­ten, da er­schüt­ter­te die Not eines ein­zi­gen Be­lei­dig­ten das Ge­wis­sen der gan­zen Mensch­heit. So war es mit der Drey­fus-​Af­fä­re: Ein un­schul­di­ger Jude wurde zu Fes­tungs­haft ver­ur­teilt, und das brach­te die Welt auf, Emile Zola ent­rüs­te­te sich, Ana­to­le Fran­ce und Mir­beau und mit ihnen die bes­ten Köpfe ganz Eu­ro­pas. Die Hit­ler­leu­te haben bei uns nicht einen, son­dern Mil­lio­nen un­schul­di­ger Juden er­mor­det. Und es haben sich im Wes­ten Leute ge­fun­den, die un­se­re tro­cke­nen, be­schei­de­nen Be­rich­te der „Über­trei­bung“ be­zich­ti­gen. Ich hätte gern, dass diese aus­län­di­schen Be­sänf­ti­ger bis ans Ende ihrer Tage von den Kin­dern in un­se­ren Grä­ben träu­men, den noch halb Le­ben­di­gen mit ihren zer­stü­ckel­ten Kör­pern, die vor dem Tod nach ihren Müt­tern rufen.

Leid un­se­rer Hei­mat, Leid aller Wai­sen, unser Leid – du bist mit uns in die­sen Tagen der Siege, du fachst das Feuer der Un­ver­söhn­lich­keit an, du weckst das Ge­wis­sen der Schla­fen­den, du wirfst einen Schat­ten, den Schat­ten der ver­stüm­mel­ten Birke, den Schat­ten des Gal­gens, den Schat­ten der wei­nen­den Mut­ter auf den Früh­ling der Welt. Ich be­mü­he mich, mich zu­rück­zu­hal­ten, ich be­mü­he mich, so leise wie mög­lich, so streng wie mög­lich zu spre­chen, aber ich habe keine Worte. Keine Worte habe ich, um die Welt noch ein­mal daran zu er­in­nern, was die Deut­schen mit mei­nem Land ge­macht haben. Viel­leicht ist es bes­ser, nur die Namen zu wie­der­ho­len: Babi Jar, Trost­ja­nez, Kertsch, Pona­ry, Bels­hez. Viel­leicht ist es bes­ser, kühle Zah­len an­zu­füh­ren. In einem Trup­pen­ver­band wur­den 2103 Per­so­nen be­fragt. Hier die Sta­tis­tik des Blu­tes und der Trä­nen:

Ver­wand­te an den Fron­ten ge­fal­len – 1288.
Frau­en, Kin­der, Fa­mi­li­en­mit­glie­der er­schos­sen und er­hängt – 532.
Mit Ge­walt nach Deutsch­land ge­schickt – 393.
Ver­wand­te aus­ge­peitscht – 222.
Wirt­schaf­ten aus­ge­plün­dert und ver­nich­tet – 314.
Häu­ser nie­der­ge­brannt – 502.
Kühe, Pfer­de und Klein­vieh fort­ge­nom­men – 630.
Ver­wand­te als In­va­li­den von der Front zu­rück­ge­kehrt – 201.
Per­sön­lich auf dem ok­ku­pier­ten Ter­ri­to­ri­um aus­ge­peitscht wor­den – 161.
An den Fron­ten ver­wun­det – 1268.

Aber wenn die Zah­len ihre Macht über die Her­zen ver­lo­ren haben, fragt vier Pan­zer­sol­da­ten, warum sie es eilig haben, nach Ber­lin zu kom­men. Leut­nant Wdo­wit­schen­ko wird er­zäh­len, wie die Deut­schen im Dorf Pe­trow­ka seine Fo­to­gra­fie fan­den; sie fol­ter­ten die Schwes­ter des Leut­nants, Anja, mit glü­hend ge­mach­tem Eisen – „wo ist der rus­si­sche Of­fi­zier?“ – , dann ban­den sie die win­zi­ge Al­lot­sch­ka an zwei klei­ne Ei­chen­bäu­me und zer­ris­sen das Kind in zwei Teile, die Mut­ter muss­te zu­se­hen. Ser­geant Ze­lo­wal­ni­kow wird ant­wor­ten, dass die Deut­schen in Kras­no­dar sei­nen Vater, seine Mut­ter und seine Schwes­tern ver­gast haben. Alle Ver­wand­ten von Ser­geant Schand­ler wur­den von den Deut­schen in Welish ver­brannt. Die Fa­mi­lie von Haupt­feld­we­bel Smirnow kam wäh­rend der Ok­ku­pa­ti­on in Pusch­kin um. Das ist das Schick­sal von vier Pan­zer­sol­da­ten, die zu­sam­men kämp­fen. Von sol­chen gibt es Mil­lio­nen. Darum haben die Deut­schen sol­che Angst vor uns. Darum ist es leich­ter, ganze Städ­te in West­fa­len zu neh­men, als ein Dorf an der Oder. Darum schickt Hit­ler, ent­ge­gen allen Ar­gu­men­ten der Ver­nunft, seine letz­ten Di­vi­sio­nen nach Osten.

Im Wes­ten sagen die Deut­schen: „Nicht an­fas­sen“, sie spie­len so­zu­sa­gen nicht mehr mit. Sie waren ja nicht in Ame­ri­ka. Oh, selbst­ver­ständ­lich hat vor drei Jah­ren ein fre­cher Fritz in mei­ner Ge­gen­wart zu mei­nem ame­ri­ka­ni­schen Freund Le­land Stowe ge­sagt: „Wir kom­men auch nach Ame­ri­ka, ob­wohl das weit ist.“ Aber von Ab­sich­ten bren­nen keine Städ­te und ster­ben keine Kin­der. Diese un­ver­schäm­ten Deut­schen be­neh­men sich den Ame­ri­ka­nern ge­gen­über wie ir­gend­ein neu­tra­ler Staat. Eng­li­sche und ame­ri­ka­ni­sche Kor­re­spon­den­ten füh­ren dut­zen­de pit­to­res­ker Bei­spie­le an. Ich ver­wei­le vor allem bei einem nam­haf­ten Ex­em­plar: dem Erz­bi­schof von Müns­ter, Galen. Er weiß zwei­fel­los, dass in Ame­ri­ka der Füh­rer* der deut­schen Ka­tho­li­ken, Brü­ning, lebt, um­ge­ben von jeg­li­cher Für­sor­ge. Und der Erz­bi­schof be­eilt sich, zu ver­si­chern: „Ich bin auch gegen die Nazis.“ Dar­auf legt der Erz­bi­schof sein Pro­gramm dar: a) die Deut­schen sind gegen Aus­län­der; b) die Al­li­ier­ten müs­sen den Scha­den er­set­zen, der den Deut­schen durch die Bom­bar­de­ments zu­ge­fügt wurde; c) die So­wjet­uni­on ist ein Feind Deutsch­lands, und man darf die Rus­sen nicht nach Deutsch­land las­sen; d) wenn das oben Ste­hen­de er­füllt wird, dann „wird etwa in 65 Jah­ren in Eu­ro­pa Frie­den herr­schen“. Bleibt zu er­gän­zen, dass die ka­tho­li­schen Zei­tun­gen Ame­ri­kas und Eng­lands voll­auf be­frie­digt sind von dem Auf­bau­pro­gramm die­ses erz­geist­li­chen Men­schen­fres­sers. Gehen wir zu den Ge­mein­de­mit­glie­dern über, die sind auch nicht bes­ser.

Ein Kor­re­spon­dent des „Daily He­rald“ be­schreibt, wie sich in einem Städt­chen die Ein­woh­ner an die Al­li­ier­ten wand­ten „mit der Bitte, die ent­flo­he­nen rus­si­schen Kriegs­ge­fan­ge­nen ein­zu­fan­gen zu hel­fen“. Alle eng­li­schen Zei­tun­gen mel­den, dass in Os­na­brück die Al­li­ier­ten einen hit­ler­schen Po­li­zis­ten auf sei­nem Pos­ten ge­las­sen hat­ten; die­ser Letz­te zün­de­te ein Haus an, in dem sich rus­si­sche Frau­en be­fan­den. Der Kor­re­spon­dent des „Daily He­rald“ schreibt, ein deut­scher Bauer habe ge­for­dert: „Die rus­si­schen Ar­bei­ter müs­sen blei­ben, sonst kann ich nicht mit den Früh­jahrs­ar­bei­ten be­gin­nen.“ Wobei der eng­li­sche Jour­na­list sich be­eilt, hin­zu­zu­fü­gen, dass er völ­lig ein­ver­stan­den ist mit den Ar­gu­men­ten die­ses Skla­ven­hal­ters. Er ist nicht al­lein: Die Mi­li­tär­be­hör­de hat ein Flug­blatt in fünf Spra­chen her­aus­ge­ge­ben, das die be­frei­ten Skla­ven ein­lädt, zu­rück auf die Güter zu ihren Skla­ven­hal­tern zu kom­men, „um die Feld­ar­bei­ten des Früh­lings durch­zu­füh­ren“.

Warum sind die Deut­schen an der Oder nicht so wie die Deut­schen an der Weser? Weil nie­mand sich fol­gen­des Bild vor­stel­len kann: In einer von der Roten Armee ein­ge­nom­me­nen Stadt ver­brennt ein Hit­ler­po­li­zei­be­am­ter, den man auf sei­nem Pos­ten be­las­sen hat, Ame­ri­ka­ner, oder Deut­sche wen­den sich an die Rot­ar­mis­ten mit der Bitte, ihnen zu hel­fen, die ge­flo­he­nen eng­li­schen Kriegs­ge­fan­ge­nen wie­der ein­zu­fan­gen, oder die Deut­schen wen­den sich an die Rus­sen mit der Bitte, ihnen noch ein-​zwei Mo­na­te die fran­zö­si­schen Skla­ven zu las­sen, oder Ilja Eh­ren­burg schreibt, dass es „not­wen­dig ist, die hol­län­di­schen Ar­bei­ter auf den deut­schen Gü­tern zu be­las­sen, auf dass die Land­wirt­schaft Pom­merns nicht er­schüt­tert werde“. Nein, Men­schen­fres­ser su­chen bei uns keine Le­bens­mit­tel­kar­ten auf Men­schen­fleisch, Skla­ven­hal­ter hof­fen nicht, von uns Skla­ven zu be­kom­men, Fa­schis­ten sehen im Osten keine Schirm­her­ren. Und darum haben wir Kö­nigs­berg nicht per Te­le­fon ge­nom­men. Und darum neh­men wir Wien nicht per Fo­to­ap­pa­rat.

Heute mel­den die Ver­bün­de­ten, dass ihre Pan­zer sich den Gren­zen Sach­sens nä­hern. An den Ost­gren­zen Sach­sens ste­hen Ab­tei­lun­gen der Roten Armee. Wir wis­sen, dass wir die deut­sche Ver­tei­di­gung durch­bre­chen müs­sen: Die Ban­di­ten wer­den sich weh­ren. Aber die Rote Armee hat sich daran ge­wöhnt, sich mit den Deut­schen mit Hilfe von Waf­fen zu un­ter­hal­ten: So wer­den wir das Ge­spräch mit ihnen auch be­en­den. Wir be­ste­hen auf un­se­rer Rolle nicht des­halb, weil wir ehr­süch­tig sind: Zu viel Blut ist an den Lor­bee­ren. Wir be­ste­hen auf un­se­rer Rolle des­halb, weil die Stun­de des Jüngs­ten Ge­rich­tes naht, und das Blut der Hel­den, das Ge­wis­sen So­wjet­russ­lands ruft: Be­deckt die scham­lo­se Blöße des Erz­bi­schofs von Müns­ter! Die Hit­ler­po­li­zis­ten setzt hin­ter Schloß und Rie­gel, ehe sie neue Un­ta­ten voll­brin­gen! Die Deut­schen, die „Rus­sen fan­gen“, bringt zur Ver­nunft, bevor es zu spät ist – bevor die Rus­sen an­ge­fan­gen haben, sie zu fan­gen! Die Skla­ven­hal­ter schickt zur Ar­beit, sol­len sie ihre fre­chen Rü­cken krüm­men! Strebt nach einem wirk­li­chen Frie­den, nicht in 65 Jah­ren, son­dern jetzt, und nicht nach einem von Mün­chen oder Müns­ter, son­dern nach einem ehr­li­chen, mensch­li­chen.

In un­se­rer Em­pö­rung sind alle Völ­ker mit uns, die den Stie­fel­ab­satz der deut­schen Er­obe­rer er­fah­ren haben – Polen und Ju­go­sla­wen, Tsche­cho­slo­wa­ken und Fran­zo­sen, Bel­gi­er und Nor­we­ger. Die einen hat­ten es bit­te­rer als die an­de­ren, aber alle hat­ten es bit­ter, und alle wol­len eines: Deutsch­land bän­di­gen. Mit uns sind die Sol­da­ten Ame­ri­kas und Groß­bri­tan­ni­ens, die jetzt die Grau­sam­keit und die Nie­der­tracht der Hit­ler­leu­te sehen. Ein Kor­re­spon­dent der As­so­cia­ted Press schreibt, dass die Sol­da­ten der 2. Pan­zer­di­vi­si­on, als sie ge­se­hen hat­ten, wie die Deut­schen die rus­si­schen Kriegs­ge­fan­ge­nen und die jü­di­schen jun­gen Frau­en ge­quält hat­ten, sag­ten: „Das Schlimms­te, was wir mit den Deut­schen ma­chen kön­nen, wird noch viel zu gut für sie sein.“ Und in einem an­de­ren deut­schen Lager ver­sam­mel­te der ame­ri­ka­ni­sche Oberst die Deut­schen vor den Lei­chen der Men­schen aller Na­tio­na­li­tä­ten und sagte: „Dafür wer­den wir euch bis ans Ende un­se­rer Tage has­sen.“

Näher rückt der Tag, an dem wir un­se­re Freun­de tref­fen wer­den. Wir kom­men stolz und froh zu die­sem Tref­fen. Wir wer­den dem ame­ri­ka­ni­schen, dem eng­li­schen und dem fran­zö­si­schen Sol­da­ten fest die Hand drü­cken. Wir wer­den allen sagen: Genug. Die Deut­schen haben sich selbst Wer­wöl­fe ge­nannt. Aber die Treib­jagd wird echt sein. Die Freun­de des Erz­bi­schofs Galen, Lady Gibb, Do­ro­thy Thomp­son und an­de­re Schirm­her­ren die­ser Mör­der wer­den ge­be­ten, sich nicht zu be­un­ru­hi­gen. Wer­wöl­fe wird es nicht geben: Jetzt ist nicht das Jahr neun­zehn­hun­dert­acht­zehn, es reicht! Dies­mal wer­den sie sich nicht ver­wan­deln und nicht wie­der­keh­ren.

9. April 1945

* im Ori­gi­nal deutsch – Anm. d. Übers.

Über­set­zung aus dem Rus­si­schen: C. Man­ne­witz
[erst­mals in „Praw­da“, 9. April 1945]