Der linke Kompromiss mit der Herrschaft

Antizionismus als linker Kompromiss mit der Herrschaft.

„In Wirklichkeit spekuliert diese Behauptung mit der Tatsache, daß der historische Ursprung des Antisemitismus im Herzen der westlichen Zivilisation liegt, um zu suggerieren, seine Geltung beschränke sich darauf. Aber die Gefahr besteht viel mehr darin, daß er alle ansteckt, die dem Einfluß dieser Zivilisation unterliegen.“
– Leon Poliakov 1


Der folgende Text ist der Versuch damit zu beginnen, die antisemitischen Ereignisse und das Verhalten der Linken hierzulande einzuordnen. Dabei werden viele Gedanken aufgegriffen, die wir an anderer Stelle bereits geäußert haben oder auch Andeutungen auf andere Autor:innen gemacht, die wir nicht in Gänze ausführen können, ohne dass der Text völlig überladen wird. Wir haben uns deshalb dafür entschieden, mit einem Fußnotenapparat zu arbeiten und so diverse Ergänzungen, Vertiefungen und Erklärungen einzuarbeiten. Wir wollen versuchen, unsere Texte durch diese Methode Leser:innen mit verschiedenen Hintergründen zugänglich zu machen.


Im Mai 2021 fanden die schwerwiegendsten Raketenbeschüsse in der Geschichte Israels statt. Wie immer, wenn Israel angegriffen wird, wurde auch dies von Demonstrationen und einigen antisemitischen Attacken in Deutschland begleitet. Trotz zahlreicher Lippenbekenntnisse gegen Antisemitismus – wobei die (radikale) Linke Bremens auffallend schweigsam war2 – wird gerne außer Acht gelassen, welche radikalen Ausmaße der Antisemitismus in der Gesellschaft annimmt. Dass Juden:Jüdinnen vor Synagogen angegriffen werden, ist leider nichts Neues. Die Aggressionen der Gleichsetzung von Juden:Jüdinnen mit dem Staat Israel, die exemplarisch in Gelsenkirchen zutage traten, lassen allerdings die oft vorgenommene Schlussfolgerung, dass Antisemitismus und sein gesellschaftlich anerkannter Bruder Antizionismus nur von sogenannten ewiggestrigen Heimatverliebten (und solchen, die sich dazuzählen) ausgehen, nicht zu.3 Denn auch auf einer sich als links definierenden Demo am Bremer Osterdeich wurde hemmungslos die Sehnsucht nach einem Nahen Osten ohne jüdischen Selbstschutz propagiert.4  Die Tragweite der Ideologie der islamischen Rechten wird in dieser einseitigen Debatte gerne einfach vergessen.5 Außerdem wird außer Acht gelassen, welche Kontinuitäten und Einflüsse diese Ideologie abseits fundamentalistischer Milieus bereits jetzt besitzt.6 Die im Minutentakt erfolgende Propaganda der „digitalen Intifada“ (Ben Salomo) und die daraus resultierenden Erklärungen, in denen der Nahostkonflikt mal eben in 5 Minuten gelöst wird, ist nur eine von vielen Begleiterscheinungen. Beispielsweise wird Tarek Baé als populärer Antirassist gefeiert. Baé, der ehemalige SETA- und heutige TRT-Mitarbeiter7 , der unter anderem berechtigte Kritik an den organisatorischen Verstrickungen des Zentralrats der Muslime in Deutschland mit türkischen Nationalisten als islamophob denunzierte, wird wie ein unabhängiger Qualitätsjournalist im Kontext des Nahostkonflikts zitiert und geteilt. Bevorzugt wird er dabei als Gegenspieler der als zionistisch imaginierten bürgerlichen Presse inszeniert.

Oft wird darauf verwiesen, dass diese Ideologeme der islamischen Rechten neue, isolierte Phänomene des rechten Rands seien, mit denen es bislang kaum Berührungspunkte gab. Dagegen spricht zum Beispiel in Bremen, dass es bereits 2017 Kontakte von muslimischen Gemeinden zur libanesischen Terrorzelle Hisbollah gab.8 Ein Reportagebeitrag der ARD von 2018 zeigt, dass der lange Arm des autoritären iranischen Regimes, dessen Ideologie inhärent die Vernichtung des Staates Israel fordert,9 bis nach Delmenhorst reicht. Aktueller lässt sich der Al-Quds-Tag nennen, der alljährlich die Vernichtung des israelischen Staates fordert und am 8. Mai in Bremen in Form eines Autokorsos begangen wurde. Doch nicht nur hier lässt sich erkennen, welche einfachen Erklärungen den Menschen nutzen, um dem Juden unter den Staaten das Existenzrecht abzuerkennen. Ebenfalls fand auf dem Bremer Domshof eine antizionistische Demonstration statt, auf der sich ein bekanntes Gesicht der Bremer Linkspartei und die Träger:innen mindestens einer Antifa-Fahne gemeinsam mit türkischen Nationalisten unter den Teilnehmenden einreihten.

Der sich auf Demonstrationen und in Aufrufen artikulierende Antizionismus geriert sich dabei als antikoloniales, ergo antirassistisches Unterfangen, das seinem Bestreben nach fortschrittlich und demnach über regressive Tendenzen wie Antisemitismus erhaben ist. Dieses Narrativ wird zum einen durch die demagogische Konstruktion Israels als koloniales Projekt des Imperialismus und zum anderen durch die stetige Abgrenzung von eindeutig antisemitischen Akteur:innen der islamischen wie deutschen Rechten gestützt. Zurückzuführen ist diese Tendenz auf den zunehmenden Einfluss der gegenwärtigen intersektionalen Ansätze, die Antisemitismus als bloße Herrschafts- und Unterdrückungsform begreifen. So können Unterdrückte – und jene, die als solche betrachtet werden – nicht selbst unterdrückenden Ideologien anhängen. Sie werden zu unmündigen Subjekten, denen die Möglichkeit, selbst zu unterdrücken, abgesprochen wird. Es fehlt ein Begriff davon, dass sich Antisemit:innen etwa in ihrem Hass auf „die da oben“ selbst als Unterdrückte wahrnehmen. Dieser Ansatz kann wesentliche Spezifika des Antisemitismus nicht erfassen und ist daher in seiner Analyse zwangsläufig verkürzt.10 Der Antisemitismusbegriff der pro-palästinenischen, woken Linken geht so in einem Gros der Fälle nicht über eine Form des Rassismus, die sich explizit gegen Juden und Jüdinnen richtet, hinaus. Dadurch verkommt die Antisemitismuskritik zu einem Lippenbekenntnis, das nur der Festigung der eigenen Position dient und keinerlei Widerspruch darin sieht, auf Demonstrationen implizit und explizit die Vernichtung des jüdischen Staates und seiner Bewohner:innen zu fordern.11 

Emanzipatorische Kritik an diesen Zuständen aus vorgeblich antideutschen Kreisen wird dabei allein mit Verweis auf die verortete Gesinnung der Kritiker:innen bestenfalls ignoriert, im Zweifelsfall aber diffamiert. Die explizite Abgrenzung sowohl gegenüber offen antisemitisch auftretenden Antiimperialist:innen als auch vermeintlich rassistischen bzw. „islamophoben“12 Antideutschen erinnert dabei partiell an eine innerlinke Adaption der Hufeisentheorie, als deren gesellschaftliche Mitte sich die Vertreter:innen des antizionistischen Antirassismus wähnen. Parallel zur herkömmlichen Hufeisentheorie werden auch hier Extreme konstruiert, die ohne weitere argumentative Grundlage aus dem konsensbedürftigen Diskurs ausgeschlossen werden können. Gleich der bürgerlichen Mitte ist allerdings auch die linksradikale Mitte nicht über regressive Tendenzen erhaben. Die äußerliche Distanzierung von offen zur Schau getragenem Antisemitismus bedeutet noch keine Absage an israelbezogenen Antisemitismus, Schuldabwehrantisemitismus oder die Relativierung der Shoah.  Die Stigmatisierung der Extrempole – Antideutsche und Antiimperialist:innen – erschwert eine solidarische, innerlinke Kritik an diesen Zuständen. Gerade die Linke, die vermittels der bürgerlichen Hufeisentheorie selbst diffamiert und marginalisiert wird, sollte derlei Immunisierungsstrategien wachsam und kritisch gegenüberstehen. Die aktuellen Entwicklungen weisen jedoch eher in eine gegenläufige Richtung.13

Allerdings wird das Narrativ der rassistischen Antideutschen und die damit verbundene Karte, Antisemitismus und Rassismus gegeneinander auszuspielen, durch Post-Antideutsche, die sich selbst als Rechtsantideutsche sehen, aktuell bestärkt. So gab es Stimmen aus diesem Umfeld, die sich nicht entblödeten, mit der Parole „Antifa heißt Abschiebung“ auf die antisemitischen Vorfälle zu reagieren und so implizit eine antisemitismusfreie westliche Gesellschaft zu proklamieren, anstatt Judenhass in all seinen Facetten als globales Phänomen zu begreifen. Sie reagieren so mit einer rassistischen Logik auf Antisemitismus. Wie nationalistisch und darüber hinaus fatal für Israel diese Logik ist, haben die Genoss:innen von antideutsch.org aufgezeigt: „Hypothetisch angenommen, man könnte überhaupt Antisemiten einfach so abschieben. Ignorieren wir einfach mal, dass Antisemitismus in Deutschland zu Hause ist und die Regierung mit dem Iran Deals macht, der Israel auslöschen will. Was dann? Man schiebt Menschen ab – was ohnehin eine Praxis ist, die kein Kommunist gut finden kann -, die ihren Vernichtungswunsch gegenüber Juden artikulieren und schickt sie in den Libanon oder Gaza-Streifen oder das West-Jordanland? Was tuen sie wohl dort? Man muss schon sehr national gesinnt sein und sich einen Scheiß für die Situation von Juden außerhalb Schlands interessieren, um so etwas zu fordern. Und dazu kommt nun noch all das, was zu recht seit Jahrzehnten von der radikalen Linken an Abschiebungen kritisiert wird.“14

Diese oben beschriebenen Post-Antideutschen sind wesensverwandt mit sich als antikolonial bezeichnenden Antisemiten. Wo sich bei den einen den Jüdinnen:Juden und dem „Jude[n] unter den Staaten“ (Hans Meyer) bedient wird und er zum nutzbaren Objekt gemacht wird, um dem eigenen Hass auf Rassifizierte ein Ventil zu geben, sind es bei den sich als antikolonial verstehenden Linken die fremden, urtümlichen Völker in der Peripherie der Welt, die gerecht und voller Ehrlichkeit ihren Kampf gegen den abstrakten jüdischen Staat und den „großen Satan“ in Form der Vereinigten Staaten von Amerika führen. Beide Logiken ergänzen sich so und nehmen in ihrer rassistischen Kritik des Antisemitismus Elemente antisemitischen Denkens auf, ebenso wie die antisemitische Kritik des Rassismus rassistische Elemente bedient.

Hier deuten sich zwei Seiten derselben Medaille an. Beide Weltbilder sind sich ähnlicher, als sich die sich vermeintlich unversöhnlich gegenüberstehenden Parteien je eingestehen würden. Bei den Post-Antideutschen und bei Teilen der „antikolonialen“ Linken sind die gesellschaftlich Rassifizierten bloße Objekte Weder Juden:Jüdinnen noch Rassifizierte kommen in dieser Logik als selbständige Subjekte vor, sondern bloß als politische Verhandlungsmasse, die die eigenen Herrschaftsvorstellungen legitimiert.. Ob man nun den Jihadisten, der in Gaza nicht in die Norm passende Menschen verbrennt, als Freiheitskämpfer verklärt oder den vor dem Krieg Geflüchteten mit ebenjenen Jihadisten gleichsetzt, um seinem Verlangen nach Rassimus nachgehen zu können -das „Fremde“ ist für beide eine homogene Masse, an der sich eigene Wünsche und Triebregungen entladen können.15 

Der rechtsantideutsche Philozionismus ist nichts anderes als ein Spiegelbild anstelle der notwendigen Überwindung des Antizionismus. Dieser Antizionismus, der sich gegen den jüdischen Agenten der Herrschaft von Staat und Kapital richtet, ist eine konformistische Rebellion, die am Ende die tatsächliche Rebellion gegen die Herrschaft verhindert. Solange Israel existiert, kann die Hamas ihre Herrschaft legitimieren und die notwendig gewalttätigen Anteile dieser Herrschaft auf Israel abspalten. Linke in Deutschland beteiligen sich daran ideologisch, weil auch sie gedanklich den Frieden mit der Herrschaft gemacht haben, wenn sie verlangen, dass sich der Mensch unter irgendein über den Menschen stehendes Konstrukt – wie Kultur, Ethnizität oder Identität – einzuordnen hat. In einem Kollektiv gibt es stets Differenzen, wenn das Kollektiv gemeinsam etwas untergeordnet ist – selbst wenn es nur eine Idee ist – muss es diese Differenzen abspalten können, um handlungsfähig zu bleiben.16 Dass Rechte Antisemit:innen sind, erachten wir im Übrigen nicht weiter für erwähnenswert, erklärt es sich doch von selbst, dass Kollektive von Menschen, die der Herrschaft affirmativ gegenüberstehen, auch kein Problem mit herrschaftslegitimierenden Ideologien haben. Doch dass Linke, die wir eigentlich als Genoss:innen im Kampf gegen Herrschaft sehen, in ihrem Denken einen Kompromiss mit der Herrschaft gemacht haben, können wir nicht so einfach akzeptieren – schließlich brauchen wir die Bundesgenossenschaft mit ihnen im Kampf gegen Staat, Kapital und ihre rechten Verteidiger.

Die Theorien des Anti- und Postkolonialismus versagen in ihrem Versuch, die Problematik des Antizionismus zu verstehen. Das hat einerseits damit zu tun, dass der Antikolonialismus historisch – so gerechtfertigt er im konkreten Moment sicherlich auch war – kein Angriff gegen die Herrschaft als solche ist, sondern der Versuch, die Herrschaft in die Hände des eigenen Volkes zu legen. Daraus resultieren tendenziell die oben beschriebenen Abspaltungsmechanismen. Vor allem aber liegt es oft daran, dass Kolonialismus als Erklärung nicht weiter in historische Entwicklungen eingebettet wird und Europa als ein kolonisierender Block verstanden wird. So fällt etwa unter den Tisch, dass kolonialistische Bewegungen überhaupt Juden:Jüdinnen aus dem heutigen Israel vertrieben, dass Osteuropa, die neue Heimat vieler Juden:Jüdinnen, selbst wiederum koloniale Spielfläche dreier imperialer Großmächte war und nicht zuletzt, dass die koloniale Expansion sehr häufig mit Versuchen einer antisemitischen Homogenisierung im Inneren einherging: 1492, das Jahr, in dem Kolumbus die Kolonisierung der Amerikas einleitete, war auch das Jahr, in dem Juden aus Spanien vertrieben wurden.

Kapitalismus – als dessen immanente Bestandteile Kolonialismus und Imperialismus verstanden werden müssen – lässt sich spätestens seit dem historischen Moment, in dem Herrschende und Beherrschte sich kollektiv zum Judenmord zusammenschlossen, nicht auf ein einfaches Herrscher versus Beherrschende-Schema reduzieren17. Der antikoloniale Befreiungskampf, der sich gegen koloniale Herrschaft auflehnt, schafft es nicht aus dem kapitalistischen System herauszutreten und fällt selbst in kapitalistische Muster zurück, wenn er etwa einen Staat errichtet. Zugleich wird die für den antikolonialen Befreiungskampf notwendige Kollektivierung selbst repressiv nach innen, weil auch sie eine Triebunterdrückung von ihren Mitgliedern verlangt. Antizionismus und Antisemitismus können die hier nötige Abfuhr angestauter Triebe und zugleich eine Legitimation des Verzichts liefern. Diese Mechanismen werden jedoch von einer Kritik des Kolonialismus, die sich einer dialektischen Betrachtung des Kapitalverhältnisses verweigert, nicht erfasst. Im Gegenteil, sie werden sogar reproduziert.

Das in postkolonialen Zusammenhängen verbreitete Narrativ der weißen und rassistischen Antideutschen wiederum erfüllt das, was Sartre als Tatbestand des Antisemitismus definiert: die totale Wahl. Die eigene Anschauung wird unangreifbar, indem Kritiker:innen des Antisemitismus als Rassisten betrachtet und so aus der Linken ausgeschlossen werden. Mit Verweis auf psychoanalytische Theorien des Antisemitismus kann man davon ausgehen, dass, je vehementer das Narrativ bedient wird, desto mehr die antisemitischen Individuen selbst eine Ahnung davon besitzen, dass sie antisemitisch agieren oder sich in ihrem Denken noch längst nicht frei von den Denkformen des Kapitals gemacht haben. Eine Ahnung, die sie sich nicht eingestehen können, sehen sie sich doch als Postkoloniale im essentialistischen Antagonismus zur gesellschaftlichen Herrschaft. Die antisemitische Projektion ist das bewährteste Mittel, um dieses fetischisierte Denken – die immer nur relativ mögliche Rebellion wird in das Individuum hineingelegt – aufrechtzuerhalten: Das Festhalten am Antisemitismus und die Verdrängung der schmerzhaften Einsicht der eigenen Verstrickung erfüllt so die Funktion von „self care“.18 Wir haben am eigenen Leib erfahren, wie sich antisemitische Narrative materialisieren und wie kollektiv die ausgeübte Gewalt rationalisiert wird, um jede schmerzhafte Selbsterkenntnis im Keim zu ersticken.

Den hier angedeuteten antisemitischen Angriff haben wir in zwei früheren Texten mehrfach analysiert und Falschbehauptungen richtig gestellt.19 Dennoch scheint es angesichts der sich hartnäckig haltenden Lügen relevant zu sein, zumindest den Versuch zu wagen, diesen entgegenzutreten. Trotz unseres Bewusstseins, dass die Personen, welche die Wahl getroffen haben, Antisemit:innen zu sein, sich von einer weiteren Darstellung wenig beeindrucken lassen, hoffen wir zumindest darauf, dass diesen Antisemit:innen und ihren Falschbehauptungen künftig mehr Gegenwind anstelle von unkritischer Zustimmung und Verbreitung entgegenschlägt.

Nach der Ermordung von Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar, Kaloyan Velkov und Gabriele Rathjen20 am 19. Februar in Hanau durch einen faschistischen Terroristen gab es in vielen Städten Gedenkveranstaltungen für die Ermordeten. So wurde auch in Bremen ein Gedenkspaziergang durch das Viertel in Richtung Innenstadt veranstaltet, der bereits zuvor als Demo nach einem rechten Brandanschlag auf die Friese angemeldet war. Zu dieser Demonstration trafen sich viele über die Anschläge Erschütterte zum gemeinsamen Gedenken, so auch unsere Gruppe. Da wir auf diesem Gedenkspaziergang auf den antisemitischen Hintergrund des Täters aufmerksam machen wollten, nahmen wir uns zwei (ca. 20x15cm große) Israelfähnchen mit. Getroffen wurde zwar kein Jude* und keine Jüdin* dennoch waren auch sie mit dem Angriff gemeint.21 Nach Erreichen des Versammlungsorts entdeckten wir weitere Nationalflaggen, unter anderem kubanische und kurdische, welche offensiv geschwungen wurden.22 Dieser Eindruck verleitete uns zu dem Trugschluss, dass unsere im Vergleich winzigen Flaggen mit dem Davidstern kein großes Aufsehen erregen würden.

Nach einem erfreulichen Kommentar zu den israelischen Fähnchen und zwei irritierenden Gesprächen setzte sich der Zug in Bewegung. Nach ein paar Minuten zerstreute sich unsere Gruppe, da wir nicht mit Bedrohungen auf einer Gedenkveranstaltung rechneten. Als zwei Gruppenmitglieder mit den Fähnchen an einer ca. 10-15 Personen umfassenden Gruppe vorbeilief, erfolgte der antisemitische Angriff. Aus dieser großen Gruppe heraus löste sich zuerst ein (mittlerweile in Hamburg lebender) stadtbekannter Antisemit und versuchte lautstark und aggressiv, einem erschrockenen Gruppenmitglied die Flagge mit dem Davidstern zu entreißen. Das besagte Gruppenmitglied suchte Schutz am Rande der Demo, doch der Aggressor, angestachelt von der tatkräftigen Unterstützung seiner Gruppe, versuchte weiterhin uns die Flaggen zu entreißen. Nur durch das beherzte Eingreifen weiterer Demoteilnehmer:innen konnte der Angriff auf unsere bei weitem unterlegene Gruppe abgewendet werden. Im Nachgang wurden wir noch bespuckt und verängstigt und gedemütigt von den Angreifer:innen zurückgelassen. Diese konnten trotz unserer Berichterstattung den Anmelder:innen gegenüber weiter an der Demo teilnehmen und uns noch ein weiteres Mal verbal bedrohen, bis wir die Demo verließen. Später durften wir mehrfach lesen, dass wir nicht Opfer eines antisemitischen Angriffes gewesen seien, sondern rassistische Aggressoren.23

Die im Nachgang immer wieder ins Gespräch gebrachte Kategorisierung um den Begriff Rassismus zeugt im Kontext des Antisemitismus von einer unzureichenden Analyse des Nationalsozialismus. Das Verständnis von Nationalsozialismus als kolonialistisch-imperialistisches Phänomen, also als Symptom des Kapitalismus, verkennt, dass die nationalsozialistische Volksgemeinschaft die negative Aufhebung des Widerspruchs von Kapital und Arbeit war, die zum kollektiven Massenmord der Shoah führte. Die Shoah wurde nicht aus wirtschaftlichem Interesse begangen, sondern um die als übermächtig imaginierten Juden:Jüdinnen auszulöschen. Hier zeigt sich auch der bereits zuvor angesprochene Unterschied zwischen Rassismus und Antisemitismus, den viele Postmoderne und Antiimperialist:innen oftmals ignorieren. Rassismus geht von den minderwertigen Anderen aus, während Antisemitismus von den übermächtigen Juden und Jüd:innen ausgeht, die wegen ihrer Übermacht umso konsequenter vernichtet werden müssen, denn der/die Antisemit:in geht von der drohenden eigenen Vernichtung aus. Deswegen wurden auch vor allem Osteuropäer:innen zur Zwangsarbeit eingesetzt, während Juden und Jüd:innen primär vernichtet wurden. Die postmoderne Faschismustheorie begreift den Nationalsozialismus zwar nicht nur als kolonialistisch bzw. imperialistisch, wie im antiimperialistischen Verständnis, sondern auch als weiß. Jedoch bezog sich die nationalsozialistische Rassenideologie – zumindest in erster Linie – auf andere Kriterien als dem der Hautfarbe, mit denen die Grenze zwischen Volksgemeinschaft und den zu versklavenden Osteruopäer:innen, den Sinti und Roma und den zu vernichtenden Juden und Jüd:innen gezogen wurde. 

Die Außenpolitik des Deutschen Reiches war unter anderem weniger weiß im postmodernen Sinne und vielleicht sogar antikolonial in den Augen einiger postkolonialen Antizionist:innen.24 Mit einem arabischsprachigen Propaganda-Sender wurde antisemitische Propaganda mit islamistischem Kitsch aus Zeesen bei Königs Wusterhausen nach Jerusalem gesendet. Das Narrativ von Großbritannien und den USA als jüdisch kontrolliert und nach der Vernichtung des Islams strebend kombiniert mit der historischen Tatsache, von diesen Kolonialmächten besetzt und ausgebeutet worden zu sein, bot einen verlockenden Anreiz, um der antisemitischen Ideologie zu verfallen und auf ihr das eigene homogenisierte und ideologisch mobilisierte nationale Projekt aufzubauen. Auch wenn Hitler in „Mein Kampf“ über Araber:innen herzieht25, versuchte er sie als Teil eines antisemitischen Zweckbündnisses zu mobilisieren, um die Gründung eines jüdischen Staates zu verhindern.26 Im Zweifel überwindet die Volksgemeinschaft ihren Rassismus, solange der Antisemitismus eint.

Die Zusammenarbeit und Propaganda blieb nicht folgenlos. 1945 lebten 900 000 Juden und Jüdinnen in den arabischen Staaten. Aktuell sind es 4500.27 Juden sind zwischen die Fronten im ungleichen Krieg zwischen Orient und Okzident geraten, den postkoloniale Theoretiker:innen und Aktivist:innen zu Recht untersuchen und kritisieren.28 Israel, der Schutzraum der Juden:Jüdinnen, war und ist kein kolonialer Staat, auch wenn er heute diverse Institutionen der westlichen Staaten übernommen hat.29 Doch waren die ersten strategischen Partner Israels nicht westliche Staaten, sondern die Sowjetunion und die slawischen Staaten, deren Bewohner:innen die Opfer des innereuropäischen Kolonialismus und Nationalsozialismus waren. Eigentlich ist Israel ein antikoloniales Projekt, weil es den im Kolonialismus Entwurzelten – europäischer wie arabischer Provenienz – eine Heimat bietet, da in der Frontstellung, die der Antikolonialismus produziert, Juden nirgends dazugehören. Doch genau diese Erkenntnis geht im Zuge der einseitigen Betrachtung verloren, ebenso wie die historische Tatsache, dass im Antisemitismus Herrschende (deutsches Bürgertum bzw. Europa) und Beherrschte (deutsches Proletariat bzw. arabische Welt) sich gegen die Juden zusammentun.

Dies alles kann nur eine erste Skizzierung der Problemkonstellation sein. Wir hoffen jedoch, dass sie zumeist die Grundlage für eine dringend notwendige Debatte schafft, die im Mai ausgeblieben ist. Uns geht es hier wie anderswo darum, aufzuzeigen, wie sich Denkformen der Herrschaft des Kapitals auch in den Köpfen derer niedergeschlagen haben, die nicht selbst herrschen oder die Herrschaft gutheißen. Wir werden uns in den nächsten Monaten weiter mit den hier angeschnittenen Themen beschäftigen und dazu auch einige Diskussionsveranstaltungen organisieren.

In diesem Sinne,
Nie wieder Deutschland,
Solidarität mit Israel,
& für den Kommunismus,
Solarium.

1 Weiter schreibt Poliakov, Shoah-Überlebender und Autor der umfangreichen Studie „Geschichte des Antisemitismus“, in seiner Polemik „Vom Antizionismus zum Antisemitismus“: „So tritt etwa im 19. Jahrhundert das facettenreiche Phänomen des jüdischen Antisemitismus auf. Und in den USA hat sich in jüngster Zeit gezeigt, daß Schwarze den besten Nährboden für den Antisemitismus abgeben. Soll man da wirklich glauben, dass einzig und allein die Araber sich einer Immunität oder gar einer besonderen Allergie gegen den Antisemitismus erfreuen?“ Mehr zum Antisemitismus der US-amerikanischen Black Panther Bewegung: : https://monde-diplomatique.de/artikel/!5568215

2 Als Ausnahme ist hier das Bremer Bündnis gegen Rechts zu nennen, das auf Twitter ein Statement veröffentlichte: https://twitter.com/bgrBremen/status/1400725367195906049

3 Als solch vermeintlich „Ewiggestrige“ können sowohl klassische Neonazis wie die NPD als auch nicht-autochthone Autoritäre wie die Grauen Wölfe verstanden werde. Beide sind als Teil einer globalen Rechtsradikalen offen antisemitisch und auch antizionistisch.

4 Wie AfD-Watch Bremen berichtet – und dafür durchaus Kritik erntet – wurde auf dieser Demo, die sich von Antisemitismus distanzierte, die Parole „From the river to the sea – Palestine will be free“ gerufen. Diese Parole imaginiert ein Palästina, das vom Fluss Jordan bis zum Mittelmeer reicht und impliziert die Vision eines Nahen Ostens ohne Israel. Dass dieser Nahe Osten ohne Israel auch ein Naher Osten ohne Juden wäre, zeigt die Geschichte des Ausschlusses – zumeist antizionistischer – Juden aus der palästinensischen und anderen arabischen Nationalbewegungen, die der Staatsgründung vorausging und maßgeblich zur Verbreitung der zionistischen Idee unter den Juden der arabischen Welt beitrug. Lesenswert dazu: Nathan Weinstock – Der zerrissene Faden, besonders das Kapitel: „Das heilige Land“.

5 Weil sich die Demo am Osterdeich von dieser „islamischen Rechten“ distanzierte, meinten Teilnehmende in mehreren Diskussionen, dass diese Demo auch frei von derartigen Ideologien wäre. Eine Reflexion darüber, wie weit diese Ideologien bereits in der positiven Bezugnahme auf die palästinensische Nation (und die Akzeptanz des von ihr definierten Ausschlusses von Juden:Jüdinnen) stecken, fand nicht statt. Stattdessen wehte die palästinensische Fahne als einzige auf der Demonstration, weder die rote noch die Antifa-Fahne oder sonstige über die Nation hinausweisende Fahne waren zu sehen.

6 Der Begriff des Volkes (oder auch der Nation) ist ein hervorragendes Beispiel dafür, wie rechte Ideologien es – nicht nur in diesem Fall – in linke Mobilisierungen und Gedanken hineingeschafft haben. Eine Nation ist nie etwas anderes als die kulturelle Homogenisierung eines Staatsvolkes und somit notwendigerweise affirmativ gegenüber den bestehenden Verhältnissen. Ihr wohnt immer ein Moment des Abschlusses inne. Auch Israel ist hier keine Ausnahme, sondern bloßer Beweis der Macht dieser Verhältnisse, in denen Juden:Jüdinnen gezwungen sind, auf ebenjene Homogenisierung zurückzugreifen, um nicht selbst vernichtet zu werden. Der Staatsgründung Israels gingen zwei an dieser Homogenisierung gescheiterte jüdische Emanzipationen voraus: die der Juden:Jüdinnen zum Staatsbürger und die zum Sowjet, da sowohl die bürgerlichen Staaten des Westens als auch die Sowjetunion ihre staatliche Homogenisierung – ergo Machtstabilisierung – auf dem Rücken der jüdischen Gemeinschaft ihrer jeweiligen Länder ausübten. In einem Redebeitrag haben wir dazu mal gesagt: „Es geht nicht darum, dass Israel im Gegensatz zu anderen Staaten irgendwie humaner wäre, sondern darum, dass Israel durch die Inhumanität der anderen Staaten zur einzig möglichen Verteidigung der Jüdinnen und Juden geworden ist.“ Siehe: https://antideutschorg.wordpress.com/2020/01/30/im-eingedenken-an-die-opfer-des-nationalsozialismus-2/

7 SETA ist eine wissenschaftliche Stiftung, die dem Erdogan-Regime nahesteht. TRT ist das türkische Pendant zu Russia Today, also ein Propaganda-Instrument des Erdogan-Regimes. Es wundert also nicht, dass Baé keine Probleme mit dem Einfluss türkischer Nationalisten im Zentralrat der Muslime hat.

8 Siehe: https://www.mena-watch.com/deutsches-islam-zentrum-sammelt-geld-fuer-die-hisbollah/]

9 Zur antisemitischen Ideologie des iranischen Regimes ist das Buch „Suicide Attack“ von Gerhard Scheit zu empfehlen, der zum Thema auch diverse Vorträge gehalten hat, die auf YouTube zu finden sind: https://www.youtube.com/watch?v=On1VWbKjaa8 & https://www.youtube.com/watch?v=pmwEnnHAr44

10 Es verwundert nicht, dass der Antisemitismus – anders als der Rassismus – das Anti bereits im Namen trägt und auch in seinem Selbstverständnis diese gefühlte Rebellion trägt. Während der Rassismus die Höherwertigkeit einer ethnischen Gemeinschaft postuliert und so ihre Herrschaft positiv stützt, imaginiert der Antisemitismus die Herrschaft einer Elite, gegen die er sich positioniert. Näheres zum Verhältnis von Rassismus und Antisemitismus hat Joachim Bruhn geschrieben, der im Antisemitismus den Hass auf die vermeintlichen Übermenschen und im Rassismus den Hass auf die vermeintlichen Unmenschen sieht: https://www.ca-ira.net/wp-content/uploads/2018/06/bruhn-deutsch_lp.pdf

11 Dadurch ergibt sich auch eine Gemengelage, in der sich ein antisemitischer Antirassismus artikuliert, den wir an anderer Stelle bereits kritisiert haben: https://antideutschorg.wordpress.com/2020/03/28/die-provokation-der-juedischen-existenz-reloaded/. Siehe auch https://taz.de/Autorin-ueber-modernen-Antisemitismus/!5784415/

12 Wir haben den Begriff in Anführungszeichen gesetzt, weil er unserer Meinung nach fälschlicherweise einen Rassismus – der die Religion lediglich als Mittel zum Zweck, als inhaltliche Ausgestaltung seines Ressentiments sieht – mit einer Kritik an einer Religion in einen Topf wirft. Es ist kein Zufall, dass der Begriff vom iranischen Regime, dem die islamische Religion zur Legitimation ihrer Herrschaft dient, popularisiert wurde. In der Taz konnte man dazu bereits 2010 lesen: „Wenn man sich die Entstehungsgeschichte des Wortes anschaut, muss man an dessen Tauglichkeit und begrifflicher Trennschärfe zweifeln. Glaubt man den Publizistinnen Caroline Fourest und Fiammetta Venner, dann kam das Wort erstmals im Iran nach der Islamischen Revolution von 1979 auf: Den Mullahs diente er als politischer Kampfbegriff, um ihre Gegner zu diffamieren.

Bis in die Gegenwart wird der Begriff in diesem Sinne durch islamische und islamistische Organisationen wie die Islamic Human Rights Commission in Großbritannien instrumentalisiert, die fast jede kritische Stimme mit diesem Schlagwort belegt. Zum anderen steht „Phobie“ von der Wortbedeutung her für ein besonders ausgeprägtes Gefühl der Angst, das über ein vertretbares Maß hinausweist. Es soll hier aber nicht um individuelle Emotionen, sondern um reale Diskriminierung gehen und um eine Feindseligkeit, die sich gegen Muslime als Muslime richtet.“ Siehe: https://taz.de/Debatte-Islamophobie/!5135490/

13 Auch das ist ein Beispiel für die linke Übernahme eines rechten Ideologems. Der Rechten dient die Hufeisentheorie dazu, sich einerseits des eigenen antisemitischen NS-Erbes zu entledigen, während man zugleich jede Form linker Gesellschaftskritik, die nach den Ursprüngen der NS-Ideologie und ihrer Massenbasis in der Mitte fragt, diffamiert. Die Übernahme dieser Denkstruktur in der Linken hat den gleichen Effekt: das antisemitische Erbe, das über Stalinismus und Maoismus bis hin zur postkolonialen Theorie Edward Saids reicht, wird verdrängt, während zugleich die grundlegende Kritik am Antisemitismus diffamiert wird.

14 Siehe: https://twitter.com/antideutsch_org/status/1394712751587594248

15 Projektionen wie die hier dargelegten verraten einem nie etwas über den Gegenstand, aber immer viel über jene, die von ihm sprechen. Wer im Jihadismus einen Freiheitskampf sieht, der träumt von einer Welt, in der jede Form der bürgerlichen Vermittlung von Herrschaft aufgehoben ist, gerade weil man selbst dermaßen in diesen verstrickt ist. Wer den Geflüchteten per se als Jihadisten sieht, der weiß um die eigenen Triebregungen, die der bürgerlichen Vermittlung im Weg stehen und spaltet sie so auf das rassifizierte Objekt ab.

16 Hier sind wir wieder beim Punkt der Homogenisierung. Dazu haben wir an anderer Stelle geschrieben: „1998 erschien Leah C. Czolleks Text Sehnsucht nach Israel, in dem sie sich mit der Allgegenwart eines linken und feministischen Antisemitismus beschäftigte, die Weigerung der deutschen Linken, das Problem des Antisemitismus ernst zu nehmen, scharf kritisierte und ihre eigene Erfahrung als Jüdin innerhalb dieser Gruppen durchzuarbeiten versuchte. Der Text ist getragen von der Enttäuschung einer linken und feministischen Jüdin, dass ausgerechnet ihre Genoss*innen, mit denen sie gegen die herrschende Gesellschaft kämpfen möchte, den Antisemitismus der herrschenden Gesellschaft selbst reproduzieren. 18 Jahre später reflektierte sie erneut diesen Text und stellte erschüttert fest: „Solidarität haben Juden und Jüdinnen in der feministischen und antirassistischen Szene nicht zu erwarten.“7 Die Überlegungen, die sie zu diesem Urteil kommen lassen, können einiges zum Verständnis der hier behandelten Debatte beitragen. Für Czollek beginnt das Problem bereits in der geforderten Positionierung, welche die Illusion beinhaltet, eine gesellschaftliche Position ließe sich auf einen klaren Nenner bringen, gewissermaßen essentiell im Individuum fixieren.8 „Jede Irritation“, schreibt sie, „soll vermieden werden. Auf irgendeine Art soll die Unberechenbarkeit der Pluralität, die Unübersichtlichkeit der Pluralität, das Chaos der Pluralität gebannt werden.“9 In diesem Zwang zur Positionierung – auf den wir bereits im letzten Statement mit dem Begriff Zwangs-Outing eingegangen sind – manifestiert sich ein Streben nach „Reinheit und Einfachheit. Es sollen sichere Orte geschaffen werden, indem alles draußen zu bleiben hat und jene vor der Tür bleiben müssen, die die Reinheit stören.“10 Die Reinheit der Allianz gegen Diskriminierung wird dabei jedoch nicht dadurch gestört, dass Antisemit*innen im Block mitlaufen, sondern einzig und allein durch zwei israelische Flaggen, die diesen Zustand erst deutlich machen und deshalb als Eindringlinge ausgemacht und mit aller Macht abgewehrt werden müssen.“ Siehe: https://antideutschorg.wordpress.com/2020/03/28/die-provokation-der-juedischen-existenz-reloaded/

17 Genau darin liegt für Kommunist:innen die Besonderheit von Auschwitz. In der antisemitischen Massenvernichtung wurden die Unterschiede zwischen Herrschenden und Beherrschten, Arbeiter:innen und Kapitalist:innen aufgehoben. Es waren nur noch Deutsche, die gemeinsam die Endlösung anstrebten. Genau diese Möglichkeit der absoluten Vereinigung der Klassen – ohne sie abzuschaffen – bietet der Antisemitismus noch heute.

18 In dem die Unterdrückungserfahrung nicht mehr als Produkt gesellschaftlicher Verhältnisse gesehen wird, sondern in die Körper der Unterdrückten selbst hineingelegt wird, wird sie fetischisiert. Anstatt zu erkennen, dass Unterdrückte in bestimmten Situationen selbst unterdrücken, müssen Opfer des Antisemitismus der Unterdrückten zu Weißen und damit per se zu Tätern gemacht werden. Die eigene Verstrickung in Herrschaft kann so abgespalten werden.

19 Siehe: https://antideutschorg.wordpress.com/2020/02/22/die-provokation-der-juedischen-existenz/ & https://antideutschorg.wordpress.com/2020/03/28/die-provokation-der-juedischen-existenz-reloaded/

20 Auch die Mutter des Täters war ein Opfer. Dieser Femizid darf in der Betrachtung des Attentates nicht unter den Tisch fallen gelassen werden,

21 Ein Blick in das Manifest des Attentäters zeigt diese Verstrickung von Antisemitismus und Rassismus sehr deutlich.

22 Die Behauptung, dass nicht die Israelfahne, sondern generell das Tragen einer Nationalfahne der Grund für den Angriff – der gerne als Intervention abgetan wird – war, ist und bleibt eine Verdrehung der Tatsachen. Wie wir bereits in der Antwort auf ein Statement der Administratoren der Telegram-Gruppe Hütbürger:innen Watch klargestellt haben: „Das Statement schließt damit, dass erneut Falschaussagen über den antisemitischen Angriff auf unsere Gruppe Anfang des Jahres 2020 verbreitet werden, um uns als „Wiederholungstäter:innen“ darstellen zu können. Das Narrativ, dass wir „als weiß männlich dominierte Gruppe“ auf der Demo aggressiv eine Eskalation erzwingen wollten und dabei für „Faschos“ gehalten wurden, ist dabei ebenso an den Haaren herbeigezogen wie das angebliche Verbot von Nationalflaggen, über das wir uns hinweggesetzt hätten. Es gibt ein Video, das deutlich zeigt, dass wir mit zwei kleinen Israelfähnchen versuchten, den BIPoC-Block zu passieren, um in den vorderen Bereich der Demo zu gelangen. Dabei wurden wir von einem – nicht nur uns bekannten Antisemiten – als Hurensöhne beleidigt und angespuckt. Im danach entstehenden Tumult konnten wir nur durch die Hilfe von uns Unbekannten unbeschadet aus der Situation herauskommen. Hätten wir provozieren wollen und die Auseinandersetzung gesucht, wären wir sicherlich besser auf derartige Reaktionen vorbereitet gewesen. Der Angreifer trug übrigens eine Kuba-Fahne, was ebenso wenig wie sein antisemitischer Angriff als Grund gesehen wurde, ihn von der Demo zu verweisen. Wir haben uns in zwei Texten ausführlich zu diesen Vorwürfen geäußert und werden auch in naher Zukunft die Beweislage in Gänze veröffentlichen, um derartige Mythenbildung und Täter/Opfer-Umkehr als das zu entlarven, was sie sind: antisemitische Propaganda. Diese Propaganda wird von dem Statement von „Hutbürger:innenwatch Bremen“ erneut verbreitet, was die zahlreichen Bekenntnisse gegen Antisemitismus in etwa so glaubwürdig erscheinen lassen wie die eines Heiko Maas.“ Siehe: https://antideutschorg.wordpress.com/2021/05/13/statement-zu-hutbuergerinnenwatch-bremen/

23 Die genaue Ausführung des Vorfalls haben wir bereits im direkten Anschluss der Demo veröffentlicht: https://antideutschorg.wordpress.com/2020/02/22/die-provokation-der-juedischen-existenz/

24 Es gab zahlreiche Sympathie für den Nationalsozialismus bei den Kolonisierten des britischen Empires, wie Uli Krug basierend auf einem Buch von Dan Diner hier darlegt: https://jungle.world/artikel/2021/14/der-vergessene-ozean)

25 Folgerichtig kursieren im arabisch-sprachigen Raum überarbeitete Ausgaben, die entsprechende Passagen heraus kürzten und bis heute ideologischen Einfluss auf nationalistische Bewegungen ausüben.

26 Siehe dazu: https://www.deutschlandfunk.de/ns-und-naher-osten-exportierter-antisemitismus.886.de.html?dram:article_id=461073 

27 Siehe dazu das bereits erwähnte Buch von Nathan Weinstock: Der zerrissene Faden.

28 Bei Edward Said, der den Orientalismus als Diskurs des Okzident untersuchte, werden Juden:Jüdinnen pauschal dem Okzident zugezählt. Um dies argumentativ aufrechtzuerhalten, muss er dann auch die gesamte Kooperation der deutschen mit den arabischen Antisemit:innen unterschlagen. Diese Kooperation beweist einmal mehr das Potential des Antisemitismus, Herrschende (Okzident) und Beherrschte (Orient) zusammenzubringen.

29 Auch das hat historische Gründe. Denn es war die westliche Demokratie und die auf westlichen Prinzipien basierende Sowjetunion, welche historisch den Juden:Jüdinnen die Emanzipation von feudaler Unterdrückung versprachen.

Die Provokation der jüdischen Existenz – reloaded.

Dieser Text liegt schon ein kleines bisschen in der Schublade. Da die Ereignisse um Corona in der letzten Zeit sich überschlugen, haben wir mit der Veröffentlichung gewartet. Nun, damit in der staatlich verodneten Tristesse eine kritische Auseinandersetzung nicht versandet und der Text vollends an Aktualität verliert, veröffentlichen wir ihn doch. Stay save.

I – Versuch einer Erwiderung auf das Statement des BIPoC-Blocks.
Zugleich: Parteinahme gegen jede Rationalisierung des Antisemitismus.

Wir haben uns entschieden, nicht auf all die Unterstellungen, die im Statement des BIPoC-Blocks gegen uns erhoben werden, einzugehen. Unserer Meinung nach haben wir bereits in unserem letzten Text das Wesentliche zu den Vorfällen und der versuchten Rationalisierung antisemitischer Aggressionen gesagt. Unser diesbezüglicher Text hieß nicht zufällig Die Provokation der jüdischen Existenz. Wir sind der Meinung, dass die gesamten Angriffe und die im Nachgang geäußerten Vorwürfe gegenüber unserem Verhalten im Kern gegen die israelische Flagge gerichtet sind. Erst als wir diese verbal – und zugegebenermaßen auch emotional aufgebracht – verteidigten, meldeten sich einige Leute zu Wort und forderten uns zur Ruhe auf. Das verstärkte unseren Eindruck, dass nicht die antisemitischen Hasstiraden und Angriffe als Problem wahrgenommen wurden, sondern die Träger*innen der Fahnen. Wir bekamen das Gefühl, dass der Antisemitismus im Nest niemanden störte, aber die Kritiker*innen dieses Antisemitismus als Nestbeschmutzer*innen ausgemacht wurden.1 Der Text des BIPoC-Bündnisses gibt das nun offen zu und bestätigt unsere Ahnungen: „Auf uns schien es, als versuchten sie, uns durch das Schwenken der israelischen Nationalflagge zu provozieren.“ Die Israel-Flagge scheint trotz einiger vorangehender hehrer Worte gegen den Antisemitismus des deutschen Postnazismus und einer angeblichen Parteinahme für Israel nicht anders denkbar zu sein als als eine Provokation gegen BIPoCs. Anstatt darüber nachzudenken, was es heißt, dass diese Fahne einen physischen Angriff provozieren konnte und sich zu fragen, wie es sein kann, dass der Angreifer – der nicht zum ersten Mal als Antisemit auffällt – nach dem Angriff weiter unbehelligt im BIPoC-Block mitlaufen konnte, werden die Angegriffenen zu Aggressor*innen und Provokateur*innen. Uns als Kommunist*innen war und ist die Fahne jedoch immer nur eine Selbstverständlichkeit, die wir, wie wir an anderer Stelle diverse Male ausgeführt haben, auf jeder antifaschistischen Demonstration tragen werden.

In klassischer Manier des linksdeutschen Postnazismus versucht Ihr das Problem des Antisemitismus mit einigen Phrasen wegzuwischen, doch die Ungereimtheiten in diesen Phrasen und die Weigerung, auf die Phrasen ein Handeln folgen zu lassen – der Angreifer wurde nicht aus eurem Block geworfen (wie man unschwer in einem öffentlich zugänglichen Video2 erkennen kann), eine selbstkritische Auseinandersetzung darüber findet bei euch nicht statt – sprechen Bände. Mit diesem Verhalten seid Ihr so glaubhaft wie die SPD-Politiker*innen, die nach dem Anschlag von Halle voller Mitgefühl über die Gefahren für jüdisches Leben in Deutschland sprachen, um am nächsten Tag weiter Lobbyarbeit für Handelsbeziehungen mit der Islamischen Republik Iran zu machen, die keinen Hehl aus ihrem eliminatorischen Antisemitismus macht. Was Kommunist*innen, nicht nur in dieser Hinsicht, von der deutschen Sozialdemokratie und all ihren ideellen Gesinnungsgenossen halten müssen, dürfte allgemein bekannt sein.

Ihr geht in eurem Statement zunächst von einer Sonderstellung Israels aus, wenn Ihr schreibt: „Israel hat nach wie vor eine besondere Stellung für viele Juden*Jüdinnen. Bis heute ist Israel der einzige Staat, der ihnen Schutz vor dem weltweiten Antisemitismus bieten kann.“ Dagegen gibt es von unserer Seite nichts einzuwenden. Im Gegenteil, dieses Bewusstsein über die Rolle Israels als einzige „Zufluchtsstätte, wo Überlebende und Verfolgte nach langer Wanderschaft sich in tiefer Erschöpfung niederließen“3, wie der bis zu seinem selbstgewählten Lebensende jeder Zeit mit linkem Antizionismus kämpfende Shoah-Überlebende Jean Amery schrieb, ist für uns der Grund, warum wir die Israelfahnen mit auf die Demonstration nahmen. Angesichts eines weltweiten Antisemitismus, der sich auch und gerade in den jüngsten Anschlägen in Deutschland zeigt, darf nicht vergessen werden, dass ein Jude in Europa zumindest eine Sicherheit hat, „daß, wenn es ihm, wo immer, an den Kragen ginge, ein Fleck Erde da ist, der ihn aufnähme, unter allen Umständen. Er weiß, daß er, solange Israel besteht, nicht noch einmal unter schweigender Zustimmung der ungastlichen Wirtsvölker, günstigstenfalls unter deren unverbindlichen Bedauern, in den Feuerofen gesteckt werden kann.“4 Wir scheinen uns hier alle einig zu sein, dass es keine Alternative zur Parteinahme für Israel mehr geben kann und jede Neutralität ein Hohn auf die Opfer der alltäglichen antisemitischen Gewalt ist.

Später im Text ist Israel dann plötzlich nur eine Nation unter vielen. Seine Fahne ist nicht mehr Symbol für die jüdische Selbstverteidigung, sondern eine bloße Nationalfahne, die – im Gegensatz zur kubanischen Flagge des Angreifers und den zahlreichen kurdischen Fahnen – Grund genug für eine „Aufforderung dreier Personen an die Gruppe Solarium ihre mitgebrachte Nationalflagge wieder einzupacken, um den transnationalen Charakter der Demonstration zu stärken“ war. So ganz passt das nicht zusammen: Ist Israel nun eine Nation unter anderen (und als bürgerliche sogar eine schlimmere als die kubanische oder kurdische) oder eben doch der Jude unter den Staaten? Beides ist nicht möglich. Entweder ist Israel die „staatsgewordene jüdische Emanzipationsgewalt“5 und das Tragen ihres Symbols wird damit zur Selbstverständlichkeit einer jeden linken, antifaschistischen und antirassistischen Demonstration oder aber Israel ist nur ein Staat wie jeder andere. Dass schlussendlich einzig die israelische Fahne den „transnationalen Charakter“ stört, ist mehr als bezeichnend und entlarvt den nur schlecht als antinationale Staatskritik getarnten Antizionismus, der politischen Entsprechung des Antisemitismus.6 Auch die hier dargebotene Rationalisierung von Anspucken, Anschreien und physischer Gewaltanwendung, die besagtes Video dokumentiert und die nur durch die Intervention Dritter verhindert werden konnte, zu einer „Aufforderung“ kann da nicht mehr sonderlich verwundern.

Wir möchten noch einmal einige Dinge über die von Euch angesprochene „Aufforderung“– die wir weiter als das bezeichnen werden, was es war: ein antisemitischer Angriff sowie eine physische und verbale Delegitimierung der jüdischen Selbstverteidigung – klarstellen: Wir konnten die Situation des Angriffs nicht in Gänze überblicken, ein Teil unserer Gruppe zog sich verängstigt zurück, manche waren auf Grund des Gedränges zunächst außer Sicht- und Hörweite und mehrere uns Unbekannte kamen und solidarisierten sich mit uns. Sollten in dieser Situation von Dritten rassistische oder sexistische Aussagen gefallen sein, dann verurteilen wir dies aufs Schärfste und würden dem gerne nachgehen. Bloß abstrakte Vorwürfe, die sich pauschal gegen unsere gesamte Gruppe richten – woher auch immer Ihr erkennen könnt, welche der zahlreichen Personen im Gedränge zu unserer Gruppe gehörten und welche nicht – machen jedoch eine selbstkritische Reflexion unmöglich. Denn weder wissen wir, was gesagt oder getan wurde, noch können wir für alle im Gedränge beteiligten Personen sprechen, noch sprechen diese für uns oder liegen innerhalb unseres „Kontrollbereichs“. Um die Möglichkeit der selbstkritischen Reflexion beraubt, gibt es für uns als Gruppe nach eurem Statement nur zwei Möglichkeiten: Der pauschale Büßergang der gesamten Gruppe sowie der Verzicht auf eine Thematisierung und Kritik des antisemitischen Angriffes oder aber die Aufrechterhaltung dieser Kritik und damit die scheinbare Bestätigung eures Vorwurfs des Rassismus gegen uns. Damit tut Ihr erneut das, was wir bereits in unserem letzten Statement befürchteten und kritisierten: Ihr spielt Rassismus gegen Antisemitismus aus und tragt damit zu einer Verdrängung der gesellschaftlichen Dimension beider bei.

1998 erschien Leah C. Czolleks Text Sehnsucht nach Israel, in dem sie sich mit der Allgegenwart eines linken und feministischen Antisemitismus beschäftigte, die Weigerung der deutschen Linken, das Problem des Antisemitismus ernst zu nehmen, scharf kritisierte und ihre eigene Erfahrung als Jüdin innerhalb dieser Gruppen durchzuarbeiten versuchte. Der Text ist getragen von der Enttäuschung einer linken und feministischen Jüdin, dass ausgerechnet ihre Genoss*innen, mit denen sie gegen die herrschende Gesellschaft kämpfen möchte, den Antisemitismus der herrschenden Gesellschaft selbst reproduzieren. 18 Jahre später reflektierte sie erneut diesen Text und stellte erschüttert fest: „Solidarität haben Juden und Jüdinnen in der feministischen und antirassistischen Szene nicht zu erwarten.“7 Die Überlegungen, die sie zu diesem Urteil kommen lassen, können einiges zum Verständnis der hier behandelten Debatte beitragen. Für Czollek beginnt das Problem bereits in der geforderten Positionierung, welche die Illusion beinhaltet, eine gesellschaftliche Position ließe sich auf einen klaren Nenner bringen, gewissermaßen essentiell im Individuum fixieren.8 „Jede Irritation“, schreibt sie, „soll vermieden werden. Auf irgendeine Art soll die Unberechenbarkeit der Pluralität, die Unübersichtlichkeit der Pluralität, das Chaos der Pluralität gebannt werden.“9 In diesem Zwang zur Positionierung – auf den wir bereits im letzten Statement mit dem Begriff Zwangs-Outing eingegangen sind – manifestiert sich ein Streben nach „Reinheit und Einfachheit. Es sollen sichere Orte geschaffen werden, indem alles draußen zu bleiben hat und jene vor der Tür bleiben müssen, die die Reinheit stören.“10 Die Reinheit der Allianz gegen Diskriminierung wird dabei jedoch nicht dadurch gestört, dass Antisemit*innen im Block mitlaufen, sondern einzig und allein durch zwei israelische Flaggen, die diesen Zustand erst deutlich machen und deshalb als Eindringlinge ausgemacht und mit aller Macht abgewehrt werden müssen.

In dieser antisemitischen Projektion spielt es keine Rolle, dass wir diesen Teil der Demo nur passierten, um in den vorderen Block zu gelangen – in dem wir schon bei der Sarrazin-Demo standen. Unsere Intention war es niemals in den BIPoC-Block zu gelangen oder irgendeine Konfrontation zu erzeugen. Wir rechneten naiv nicht damit, dass wir von jemandem angegriffen werden, der uns „Hurensöhne“ nennt und im Nachgang deshalb als sexistische Angreifer*innen dargestellt werden würden, weil wir aus tiefster Überzeugung das Symbol der jüdischen Selbstverteidigung auf einer antifaschistischen Demonstration tragen und jede*n, der*die sich daran stört als Antisemit*in bezeichnen. Anders als es nun behauptet wird, wurden wir zu keinem Zeitpunkt von Women of Color während der Demo auf unser vermeintlich „sexistisches“ oder „rassistisches“ Verhalten angesprochen, im Gegenteil, wir wurden zweimal aggressiv dafür kritisiert mit der israelischen Fahne zu „provozieren“ (mit mehr Menschen hatten wir auch nicht Kontakt nach dem Angriff, weil wir die Demo vorzeitig verlassen haben). Beide Male war unsere Antwort stets die gleiche Frage: „Was provoziert dich an jüdischer Existenz? Wenn du dich an jüdischer Selbstverteidigung störst, dann sag es doch gerade raus, dass du Juden diese nicht gönnst.“ Die zusätzliche Unterstellung deshalb, es gäbe einen pauschalen Antisemitismus-Verdacht unsererseits gegenüber BIPoC ist deshalb haltlos, weil wir nur Dank der Hilfe Unbeteiligter körperlich unversehrt aus der Situation heraus gekommen sind. Hätten wir diese Situation provozieren wollen oder mit rassistischer Konnotation antizipiert, wären wir sicher besser vorbereitet auf den physischen Angriff gewesen, schließlich besteht von unserer Seite keinerlei Interesse an Märtyrertum.

In Eurem Text scheint es so, als wüsstet Ihr ganz genau über das antisemitische Moment, das sich hier aus eurem Block heraus gebildet hat. Ihr scheint es jedoch mit Hilfe des postnazistischen Jargons kleinreden und die Debatte lieber auf einen von uns ausgehenden Rassismus und Sexismus lenken zu wollen. Aus einer kleinen Gruppe – die auf Grund des Gedränges am Rand der Demo nicht geschlossen unterwegs sein konnte und so zum Zeitpunkt des Angriffes nur noch aus zwei Personen bestand – und zwei israelischen Fähnchen wird so eine faschistische Aggression. Aus antisemitischer Gewalt ein legitimes Mittel der Selbstverteidigung. Die direkt angegriffene Person, die nicht vermummt und klar zu erkennen war, ist dem Angreifer und anderen Beteiligten des BIPoC-Blocks übrigens bekannt. Bereits auf einer Busfahrt zu einer antifaschistischen Demonstration in Ostdeutschland wurde gemeinsam über Antisemitismus diskutiert und der Angegriffene wurde im letzten Sommer an seinem Arbeitsplatz vom Angreifer lautstark als „antideutscher Hurensohn [sic!]“ begrüßt. Nicht der eigene Antisemitismus und die Bereitschaft zur Gewalt gegen Israelfahnen lassen an der „Reinheit“ des eigenen Kollektivs zweifeln, sondern die Opfer dieser Gewalt. Soweit so bekannt, bedenkt man die seit Jahren in Deutschland herrschende linke Verklärung antisemitischer Terrorattentate zu einem revolutionären Befreiungskampf oder die permanente mediale Delegitimierung der jüdischen Selbstverteidigung des israelischen Staates. Neu ist vielmehr die versuchte Verschleierung mit Hilfe eines verbalen Zugeständnisses.

Und so schließen wir mit der traurigen Feststellung, dass auf einen antisemitischen Angriff mit Delegitimierung der Opfer geantwortet wird und man uns lieber des rassistischen Vorurteils bezichtigt, dass wir BIPoCs pauschal des Antisemitismus verdächtigen würden, anstatt sich zu fragen, wieso der Angriff überhaupt passieren konnte. Für uns ist überhaupt niemand des Antisemitismus unverdächtig, auch wenn wir nicht mit Angriffen dieser Art gerechnet und gewissermaßen der sublimatorischen Elemente der hansestädtischen Subjektkonstitution zu viel Vertrauen geschenkt haben. Wie wir bereits geschrieben haben, gehen wir davon aus, dass Antisemitismus eine notwendige Zutat der Subjektkonstitution innerhalb des Kapitalverhältnisses ist. So berechtigt die Kritik des BIPoC-Blocks am Antisemitismus des Postnazismus ist: Die Kritik am Antisemitismus der Anderen verschleiert immer nur den eigenen Antisemitismus. Dass wir mit dieser kommunistischen Kritik des Antisemitismus uns für die Autor*innen verdächtig machen, weil wir uns nicht mit postmodernen und essentialistischen Vorstellungen gemein machen können, wurde bereits auf der Demonstration deutlich: In einer Diskussionen, die uns über die Fahne aufgezwungen wurde, fragten wir, warum denn die jüdische Existenz so sehr provoziere. Wir bekamen darauf die Antwort, dass „diese Karte“ hier nicht funktioniere. Deutlicher kann man nicht sagen, dass man es nicht für nötig erachtet, sich mit dem eigenen, dem System inhärenten, Antisemitismus auseinanderzusetzen oder sich und seine Position innerhalb der Gesellschaft zu reflektieren. Damit zeigt sich die Wahrheit von Leah C. Czolleks Ausführungen: Der Platz für Jüdinnen und Juden war und ist in den geforderten Allianzen der Diskriminierten immer prekär – das bekam nicht zuletzt Jean Amery immer wieder zu spüren – erinnert doch alles Jüdische an das, was man stets bemüht ist im Namen der eigenen „Reinheit“ zu verdrängen. Auch wenn wir davon ausgehen müssen, dass es nicht das letzte Mal ist, dass nach antisemitischen Angriffen die Schuld beim Opfer gesucht wird, hoffen wir doch inständig, solche zutiefst menschenverachtenden Diskussionen und Diskursverdrehungen nicht mehr mitmachen zu müssen.

II – Versuch über den Antisemitismus der antirassistischen Pseudokritik.
Zugleich: Agitation für einen kommunistischen Antirassismus.

Die aktuelle Debatte zeigt, dass es nicht schaden kann, wenn versucht wird, die im ersten Teil behandelte Gemengelage auf einen allgemein gültigen Begriff zu bringen, sodass die Hoffnung aufkommen kann, Ähnliches könne in Zukunft von mehr Leuten selbst dechiffriert werden und nicht jede Rationalisierung des Antisemitismus werde fleißig geteilt, sofern sie nur im richtigen Jargon formuliert wird und mit Floskeln gegen israelbezogenen Antisemitismus versehen wird. Der zweite Teil möchte dazu beitragen, dass antisemitische Momente es zukünftig ein wenig schwerer haben, sich als Gesellschaftskritik auszugeben. Wir verstehen ihn als Beitrag zur Agitation für die kommunistische Sache, die mit der Erkenntnis über die falsche Einrichtung stehen und fallen muss und deren Verteidigung von jeher unser Motivation in der Kritik eines linken oder antirassistischen Antisemitismus war. Erst eine Menschheit, die den in dieser Gesellschaft internalisierten Antisemitismus im freudschen Sinne individuell durchgearbeitet hat, kann die „Einheit des Vielen ohne Zwang“ überhaupt erst antizipieren – was die Voraussetzung einer Umsetzung wäre.

Der Antisemitismus erfüllt für zu Subjekten degradierten Individuen11 im Kapitalverhältnis eine triebökonomische Funktion. Im Antisemitismus gelingt es dem Subjekt, den Schein der eigenen Handlungsfähigkeit zurück zu erlangen und sich wieder als Souverän seiner selbst einzusetzen. Die Zumutungen, denen ein Individuum in der kapitalistischen Vergesellschaftung ausgesetzt wird und an denen es als konsumierendes und lohnarbeitendes Subjekt nicht gerade unbeteiligt ist, finden hier eine psychohygienische Lösung. Die verdrängten, der Zurichtung zuwiderlaufenden, Wünsche und die eigene Beteiligung an der Zurichtung können vom Individuum abgespalten werden und auf das antisemitisch konstituierte Objekt projiziert werden. Die notwendigen Ambivalenzen des eigenen – vom Doppelcharakter der Geldware nicht unberührten – Trieblebens kann durch diese Projektion abgespalten werden und das eigene Ich kann eine einheitliche (und reine) Identität behaupten. Im Antisemitismus finden die Subjekte ein System, dass der unverstehbaren zweiten Natur auf ähnliche Weise Herr werden will, wie es der mythische Animismus in grauer Vorzeit bereits mit der unverstandenen ersten Natur tat. Im Juden finden sich die abstrakten – wie Naturgewalten wirkenden – sozialen und ökonomischen Gewalten personalisiert und damit rationalisiert wieder.12

Es ist zwar nicht falsch festzustellen, dass Antisemitismus ein Teil des gesamtgesellschaftlichen Verblendungszusammenhangs ist und sich auch innerhalb der Linken findet, da diese – trotz aller Kritik an ihr – keine Möglichkeit hat, aus der kapitalistischen Totalität einfach auszusteigen. Es kann allerdings nicht schaden, sich im Zuge der aktuellen Debatte einmal über die besonderen Spezifika eines antirassistischen13 Antisemitismus, wie er nicht zuletzt im Statement und Verhalten des BIPoC-Blocks deutlich wird, zu verständigen. Keineswegs soll damit gesagt werden, dass sich der antirassistische Antisemitismus von anderen Formen des Antisemitismus komplett differenzieren ließe. Im Gegenteil, jede Spielart des Antisemitismus beinhaltet den gleichen Kern: das Ausagieren der Zumutbarkeiten, die das Individuum in der Gesellschaft von Staat und Kapital ertragen muss, an den Juden und ihrem Staat.14

Das Statement, in dem die Vorwürfe gegen unsere Gruppe formuliert werden, stellt zunächst klar, dass sich die Autor*innen gegen Antisemitismus positionieren und derartige Angriffe auch verurteilen. Unklar ist allerdings, was sie unter Antisemitismus verstehen. Genau diese Lücke zwischen Verurteilung einer Sache und Uneinigkeit über ihren Begriff zeichnet die klassische Situation einer jeden Antisemitismus-Debatte innerhalb des Postnazismus im Allgemeinen und der Linken im Besonderen aus. Dass Ablehnung einer Sache wertlos ist, sofern der Begriff nicht im Ansatz der Sache entspricht, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass der antisemitische Angreifer in einem sich selbst als antisemitismuskritisch wähnenden Block weiter mitlaufen darf. Deutlich wird bei diesem Taschenspielertrick, dass man gerne bereit ist, den Antisemitismus der anderen zu kritisieren – und in dieser Kritik einige wahre Momente aufdecken kann – über den eigenen aber schweigen möchte. All die wahren Momente der Kritik des Antisemitismus werden zur Ideologie, wenn sie den eigenen Antisemitismus außen vor lassen. Diesen rhetorischen Kniff hat übrigens selbst die AfD mittlerweile erfolgreich für sich entdeckt, wenn sie linken und migrantischen Antisemitismus benennt, aber von den Drecksäcken in ihren eigenen Reihen schweigt und darauf noch genug Leute reinfallen.15 Die verbale Distanzierung von Antisemitismus allein kann nicht als Gradmesser dafür gelten, ob der Vorwurf des Antisemitismus legitim ist oder nicht. Ebensowenig können ethnische Identität oder erlebte Diskriminierungserfahrungen Begründung genug für einen Freispruch sein, meint man es mit einer fundamental-kommunistischen Kritik des Antisemitismus als inhärentes Moment der kapitalistischen Vergesellschaftung ernst. Das gilt natürlich auch umgekehrt: Alle Menschen innerhalb der kapitalistischen Vergesellschaftung stehen gleichermaßen unter dem Generalverdacht der kommunistischen Kritik, auch wenn uns da ehemalige Genoss*innen mit ihrer Fixierung auf den Islam vehement widersprechen würden. In einer Welt, in der die Menschen zu Subjekten zugerichtet werden und diese Zurichtung über sich ergehen lassen müssen, um überhaupt in dieser falschen Welt partizipieren zu können, müsste ein Individuum erst einmal begründen, warum es kein antisemitisches Individuum ist. Antisemitismus kann und muss allgemein unterstellt werden.

Der Vorwurf an uns, dass wir in rassistischer Weise davon ausgehen würden, dass BIPoCs antisemitisch wären, verkennt gerade dieses Moment der Totalität der Vergesellschaftung und verkehrt die Kritik des Antisemitismus ins Gegenteil: Identitätspolitik. Bedeutet der Vorwurf in diesem Fall tatsächlich: Warum nehmt ihr niemand aus eurem Generalverdacht heraus? Insbesondere in einem Moment, in dem der antisemitische Charakter einiger Personen innerhalb des Blocks durch deren Verhalten offen zu Tage tritt, der Block zunächst keinen diesbezüglichen Handlungsbedarf sieht und sich die allgemeine Unterstellung so bereits zu einem begründeten Verdacht erhärtet, muss diese Kritikabwehr als konterrevolutionär denunziert werden. Das Benennen von Antisemitismus als rassistisch zu diffamieren, weil einer bestimmten Gruppe keine Unschuldsvermutung gegeben wird, versucht, eben jene bestimmte Gruppe frei von Antisemitismus zu sprechen. Damit betreibt sie einen Essentialismus, dem wir als Kommunist*innen diametral gegenüber stehen. Auch hier wird wieder ein Taschenspielertrick angewandt: Nach einem antisemitischen Angriff wird plötzlich über Rassismus gesprochen. Die Unwilligkeit, über Antisemitismus zu reden, macht stutzig. Wenn man ihn doch konsensual ablehnt, wie man behauptet, warum muss das Thema der Debatte verschoben werden? Warum tut man sich so schwer, sich von den Antisemit*innen in den eigenen Reihen zu distanzieren? Der Verdacht liegt nahe, dass die Ablehnung des Antisemitismus nicht ganz glaubwürdig ist. Wenn dann ein Text geschrieben wird, der sich diesbezüglich an mehreren Stellen in Widersprüche verstrickt, dann kommt dies beinahe einem unbewussten Schuldeingeständnis gleich. Es gilt zu fragen, wo der Antirassismus –um den es hier geht, der vom BIPoC-Block vertreten wird – sich mit der falschen Gesellschaft so weit arrangiert hat, dass es einen Antisemitismus als psychologisches Ventil braucht, um die eigene Zugehörigkeit zum kritisierten Gegenstand abwehren zu können.

Einem antisemitischen Antirassismus geht es im Verhältnis zu Staat und Kapital wie den meisten linken Protestbewegungen: Sie wähnen sich selbst in einer verbalen Distanz und beanspruchen die Kritik für sich, scheitern aber daran, diese Kritik in ihrer Radikalität aufrecht zu erhalten und brauchen den Antisemitismus als Fluchtpunkt. Wie allzu häufig werden Staat und Kapital allein als konkrete und empirische Gegebenheiten begriffen, wie sie in Bankern oder Polizist*innen auftreten. Die berechtigte Wut gegenüber beispielsweise einer rassistischen Politik richtet sich gegen Subjekte, die diese Politik durchsetzen – ohne aber zu erkennen, dass diese Subjekte in diesem Moment bloß als Charaktermasken agieren. Wir geben uns nicht dafür her, Polizist*innen und sonstige Charaktermasken gegenüber einer linksradikalen Kritik zu verteidigen, doch wir verwehren uns gegen die Implikationen einer derartigen Verflachung der Kritik. Liegt die Verantwortlichkeit allein beim Subjekt, werden die dahinter liegenden abstrakten Zwänge nicht bedacht, dann wird davon ausgegangen, dass ein*e andere*r Verfassungsschutzpräsident*in oder ein*e andere*r Polizist*in gleichbedeutend mit einer anderen, nicht mehr rassistischen, Politik ist. Die logische Konsequenz daraus wäre, in die Politik zu gehen, zu versuchen die Macht im Staate zu ergreifen und aus dem rassistischen einen antirassistischen Staat zu machen.16 Verkannt wird, dass die staatliche Politik nicht in einem luftleeren Raum existiert, sondern – um die eigene Handlungsmöglichkeit überhaupt aufrecht erhalten zu können – notwendigerweise Gewalt anwenden muss. Jeder Staat muss aus Menschen Staatsbürger*innen und Fremde machen, die Anzahl der Staatsbürger*innen –derjenigen, denen er Rechte und Schutz gewährt – begrenzen und für die Loyalität der eigenen Staatsbürger*innen sorgen, denn eine Revolte oder gar Revolution würde dem ureigensten Zweck des Staates, die Garantie der Kapitalakkumulation, gefährden. Die Tragödien des 20. Jahrhunderts vom Leninismus über die nationalen Befreiungsbewegungen legen alle Zeugnis davon ab, wie die hehren Ideale dem Sachzwang geopfert werden mussten und wie das Erreichen der Machtzentrale alles, nur nicht das erträumte Ende der Gewalt, war.

Es ist für die Kritiker*innen der Gesellschaft unmöglich, nicht zugleich an jener Gesellschaft zu partizipieren. Die abstrakten Verhältnisse bilden keine über den Individuen existierenden Macht, sondern werden einzig und allein durch die Handlungen der Individuen reproduziert. Vereinfacht gesagt: The system works because you & me work. Die Individuen befinden sich notwendigerweise als Subjekte in einem alltäglichen Konkurrenzkampf untereinander. Was sehr wohl möglich für die Kritiker*innen ist: Sich dieser Verstrickung bewusst zu werden, sie als Ausgangspunkt für eine Reflexion zu nehmen, versuchen, sie in ihrer Abstraktheit zu denken, und einen Weg aus der Atomisierung in Subjekte zu suchen. Tun Kritiker*innen dies nicht, leugnen sie die eigene Verstricktheit – die ihnen doch bei jeder Banküberweisung oder Barzahlung dämmern muss –, reproduzieren sie diesen unsolidarischen Konkurrenzkampf unbewusst in ihrer Kritik und versteifen sich dabei auf den wirklichen Staat und seine Repräsentant*innen, dann bedürfen sie eines antisemitischen Momentes der Verdrängung. Im Antisemitismus wird es dem Individuum möglich , sich trotz eigener Verantwortlichkeit am Ganzen als rebellisch und unangepasst zu inszenieren. Gerade in der psychisch belastenden Position der Kritik kann so eine Linderung des Leidens erreicht werden. Insbesondere der Antizionismus macht es all jenen, die statt Kritik am Staat nur Nörgelei an der aktuellen Regierung haben und sich insgeheim bereits in sie einfühlen, möglich, sich dennoch als Kritiker*innen einer staatlichen Gewalt zu inszenieren und oft auch selbst als solche zu sehen. Deshalb ist linker Antisemitismus nicht als bloßer Denkfehler oder Marotte des Individuums zu betrachten, sondern notwendiges Resultat einer Verweigerung der radikalen Kritik und stetige Begleiterscheinung von ehemals Radikalen, die ihren Frieden mit dem eigenen Staat gemacht haben oder unter bestimmten Vorraussetzungen bereit sind zu machen.

Gerade in Versuchen der linksradikalen oder antirassistischen Organisierung nimmt der Antisemitismus eine nicht zu vernachlässigende Rolle ein. Er ermöglicht es, dass die teilweise auseinandergehenden Positionen sich in einer Harmonie (im Statement ist die Rede von Allianzen) auflösen, die sich allein durch die abspaltende Projektion aller Widersprüche auf das Objekt des gemeinsamen Antisemitismus aufrecht erhalten kann. Diese Gefahr besteht in jeder Kollektivierung und müsste gerade von Antirassist*innen und radikalen Linken permanent bedacht werden. Die Kunst einer jeder Kollektivierung liegt darin, „sich weder von der eigenen Ohnmacht noch der Macht der anderen dumm machen zu lassen“17 und zu versuchen, die inneren Widersprüche und Spannungsverhältnisse zwischen den einzelnen Gruppen und Personen auszuhalten und weder in einen Individualismus noch einen Kollektivismus aufzulösen. Ihr inhärenter Antisemitismus ist der Gradmesser für das Gelingen. Dieses Auflösen passiert allerdings in der Fixierung, der in sich selbst gespaltenen Subjekte auf eine Identität. In der antirassistischen Identitätspolitik wird aus der Kritik – der permanenten Auseinandersetzung mit einer Gesellschaft, die sich immer zwischen Widerstand und Anpassung bewegen muss, um nicht in Konformismus oder Einsiedlertum auszuarten – eine essentielle Lebensweise. Die notwendigen Ambivalenzen des*der Kritiker*in müssen aus dem Bewusstsein gedrängt und abgespalten werden. Damit die praktizierte Anpassung nicht mit dem eigenen widerständischen Selbstbild kollidiert, muss die eigene Gesellschaftlichkeit geleugnet werden. Statt Auseinandersetzung mit der Gesellschaft wird Kritik zum Verkaufsargument und zur Reklame für die eigene Ware Arbeitskraft. Die Vermutung liegt nahe, dass das Ausspielen von Rassismus gegen Antisemitismus so die unbeabsichtigte Fortsetzung des kapitalistischen Konkurrenzkampf auf der Ebene der Identität ist.

Diese Form des Antirassismus erweist sich so als komplett unbrauchbar für die kommunistische Agitation gegen die deutsche Realität. Mehr noch: Sie geht dieser Realität sogar unbewusst auf den Leim. Euer antisemitischer Antirassismus ist das Gegenteil der kommunistischen Emanzipation. Bis ihr euch nicht entschließen könnt, ein Interesse an radikaler Gesellschaftskritik zu entwickeln und mit uns über die dafür nötigen Prämissen18 zu diskutieren, ist uns das, was ihr so treibt „manchmal echt egal.“19

1Zu einem einführenden Verständnis des hier impliziten Topos der „Nestbeschmutzer*in“ empfehlen wir den Artikel Zu Recht das Nest beschmutzt auf Seite 20/21 in der dritten Ausgabe der Zeitschrift Unter Palmen aus Wien, die sich einer kritischen und linksradikalen Bildungsarbeit verpflichtet fühlt: https://unterpalmen.net/wp-content/uploads/2019/05/unter-palmen-3-horror-alm.pdf 
2Da im Video keine Gesichter verpixelt sind, werden wir es nicht weiter öffentlich verbreiten.
3Amery, Jean: Aufsätze zur Politik und Zeitgeschichte. Werke Bd. 7, S 144.
4Amery, Jean: Aufsätze zur Politik und Zeitgeschichte. Werke Bd. 7, S 155.
5Marian, Esther: Redemptorische Gewalt – Jean Amerys Interventionen für Israel in: Sans Phrase Heft 2, S. 138.
6Warum Antizionismus die politische Version des Antisemitismus ist und sie sich zueinander verhalten wie Staat und Kapital, haben wir in unserem Text Kapital, Staat, ihre Fetische und dieses deutsche Scheiszland versuchtdarzulegen: https://antideutschorg.wordpress.com/2020/01/07/kapital-staat-ihre-fetische-und-dieses-deutsche-scheiszland/
7Czollek, Leah C.: Sehnsucht nach Israel – reloaded in: Sans Phrase Heft 9, S. 114.
8Der Fetischcharakter eines Bewusstseins, dass gesellschaftliche (also relative) Momente im Individuum selbst (also alleine) auffinden möchte, dürfte hier auf der Hand liegen. Im isolierten Individuum findet sich so wenig gesellschaftliches, wie der Tauschwert sich innerhalb eines Gebrauchsgegenstand finden lässt.
9Czollek, Leah C.: Sehnsucht nach Israel – reloaded in: Sans Phrase Heft 9, S. 113.
10Czollek, Leah C.: Sehnsucht nach Israel – reloaded in: Sans Phrase Heft 9, S. 114.
11Was wir unter Subjekten verstehen und wie sich diese zum Individuum verhalten, haben wir in entsprechenden Abschnitten unseres ausführlichen Textes über Kapital, Staat, ihre Fetische und dieses deutsche Scheiszland: https://antideutschorg.wordpress.com/2020/01/07/kapital-staat-ihre-fetische-und-dieses-deutsche-scheiszland/ versucht darzulegen.
12 Uns ist bewusst, dass dieser kurze Absatz nicht genügt um das Thema hier ausgiebig zu behandeln. Wir hoffen aber, dass auch in diesem gerafften Absatz deutlich wird, welche Dimensionen der von uns in Anschlag gebrachte Begriff des Antisemitismus beinhaltet. Ausführlicheres dazu findet sich unter anderem bei Simon Gansinger: „Sie lieben den Wahn wie sich selbst.“ Zur Psychoanalyse der antisemitischen Paranoia in: Sans Phrase Heft 14, S. 131-169, bei Joachim Bruhn: Übermensch und Unmensch in: Was deutsch ist – zur kritischen Theorie der Nation oder bei Theodor W. Adorno und Max Horkheimer: Elemente des Antisemitismus in Dialektik der Aufklärung.
13Mit „antirassistisch“ ist im Folgenden die gegenwärtig populärste Spielart des Antirassismus gemeint: Der postmoderne Antirassismus, wie er vom FSR Philosophie Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg sehr treffend skizziert worden ist: https://uol.de/fileadmin/user_upload/fachschaften/fsphilo/Hochschulpolitik/_Postmoderne_Rassentrennung_an_der_Uni__-_Stellungnahme_FS_Philo.pdf
14Für uns ist die Differenzierung zwischen Antisemitismus und Antizionismus nicht haltbar. Warum das so ist und in welchem Verhältnis Antisemitismus und Antizionismus stehen, haben wir unter anderem in unseren Redebeiträgen beim Eingedenken am 27.01.: https://antideutschorg.wordpress.com/2020/01/30/im-eingedenken-an-die-opfer-des-nationalsozialismus-2/ & in unserem ausführlichen Text über Kapital, Staat, ihre Fetische und dieses deutsche Scheiszland: https://antideutschorg.wordpress.com/2020/01/07/kapital-staat-ihre-fetische-und-dieses-deutsche-scheiszland/ versucht darzulegen.
15Zum Antisemitismus-Begriff in der AfD empfehlenswert: https://www.youtube.com/watch?v=LvKAuHZ64ik
16Oder wie es Cafe Morgenland schreiben: „Wir wollen kein anderes, keine antikapitalistisches, kein antideutsches, kein antiimperialistisches, kein ökologisches sondern gar kein Deutschland.“ Ganzer Text: https://cafemorgenland.home.blog/2015/07/22/freitaler-geruch-22-07-2015/ 
17Adorno, Theodor W.: Minima Moralia.
18 Erste Überlegungen dazu haben wir in unserem Text Kapital, Staat, ihre Fetische und dieses deutsche Scheiszland zur Debatte gestellt: https://antideutschorg.wordpress.com/2020/01/07/kapital-staat-ihre-fetische-und-dieses-deutsche-scheiszland/ 
19Schloss Einstein Titelsong: https://www.youtube.com/watch?v=s-dnnhc3ILA 

Die Provokation der jüdischen Existenz.

Klarstellungen zu den antisemitischen Vorfällen auf der Demonstration am 20.02.2020 in Bremen.

Wir haben uns als Gruppe um 18:30 in der Menge am Ziegenmarkt getroffen, um gegen das rassistische und antisemitische Klima in Deutschland, wovon nicht nur die zahlreichen jüngsten Anschläge zeugen, zu demonstrieren. Bereits vor Beginn der Demonstration hat es uns positiv gestimmt, dass zahlreich Leute erschienen waren. Doch schon während der Auftaktkundgebung wurden wir zweimal auf die kleinen Israel-Fähnchen angesprochen, weil wir auf Grund der antisemitischen Anschläge der letzten Monate unsere Solidarität zeigen wollten. Neben der positiven Reaktion eines israelischen Demonstrationsteilnehmers wurden wir von einigen eher negativ gestimmten Leuten angesprochen. So sprachen uns beispielsweise zwei Menschen an und begannen eine Diskussion, warum wir ausgerechnet auf der heutigen Demonstration diese beiden Fähnchen dabei hätten. Wir erwiderten in kurzen Worten, dass die letzten Anschläge in Bremen wie auf das Büro der Linkspartei explizit auch antisemitisch motiviert gewesen seien. Der neonazistische Hass auf Migration und die sich bürgerlich gebende rechtspopulistische Hetze artikulieren sich nicht zuletzt auch über die Figur eines jüdischen Strippenziehers, die den Plan einer „Umvolkung Europas“ verfolgt. In der Regel wird George Soros zu diesem stilisiert.

Rassismus und Antisemitismus gehen Hand in Hand. Während im Rassismus das bürgerliche Subjekt die allgegenwärtige Drohung der Unverwertbarkeit auf ein Objekt projiziert, projiziert das gleiche Subjekt im Antisemitismus den Wunsch nach vollständiger Kontrolle und Herrschaft pathisch auf den Juden. Genau diese Spaltung findet sich in der angesprochen Verschwörungstheorie des „jüdischen Strippenziehers“ wieder. Die rassifizierten Objekte werden nicht als Menschen gesehen, sondern als willenlose Masse, über die eine sinistre Figur der totalen Herrschaft verfügt. Hinter dieser Ideologie steht beispielsweise auch der Mörder, der die schrecklichen Taten in Hanau verübte.1

Als sich die Demonstration formierte, standen wir zunächst am Ende des Demonstrationszuges und beschlossen, am Rand der Demonstration nach vorne zu laufen. Trotz der bereits erwähnten Diskussionen war uns nicht bewusst, dass die beiden Stückchen Stoff mit dem Davidstern derartig provozieren würden, weswegen wir sie weiterhin sichtbar trugen. Zu keinem Zeitpunkt der Demonstration haben wir sie ein- oder ausgepackt. Es sollte nicht mit ihnen bewusst irgendwer provoziert werden, sie wurden von Anfang bis Ende in gleichem Maße sichtbar getragen. Kurz vor der Sielwall-Kreuzung wurde aus dem Demonstrationszug heraus eine Person aus unserer Gruppe tätlich angegangen. Es wurde versucht, einer Person aus unserer Bezugsgruppe die Flagge zu entreißen und wurde aufgefordert, sie wegzutun. Aufgrund der diversen Passanten auf dem Gehsteig und der parkenden Autos sowie einer Straßenbahn liefen wir nicht geschlossen als Gruppe. Es dauerte einige Momente, bis wir alle die Situation überblicken konnten. Die angegriffene Person wurde von einem stadtbekannten linken Antisemiten extrem aggressiv aufgefordert ihre Israelfahne abzugeben. Dies verweigerte sie. Eine Gruppe uns unbekannter Demonstrationsteilnehmer*innen stellte sich schützend vor die angegriffene Person, die sich hinter ein parkendes Auto zurückzog. Hierbei wurde noch versucht die Person anzuspucken. Die Frauen aus unserer Gruppe zogen sich vorerst ebenfalls aus der Demonstration zurück. Andere von uns wurden in aggressiver Stimmlage gefragt, warum wir diese Provokation unternommen hätten. Uns wurde vorgeworfen, dass die Flagge hier auf der Demo nichts zu suchen habe, was auf Twitter später als „Schlichtungsversuch“ dargestellt wurde. Wir erklärten, den Umständen entsprechend emotional aufgebracht, dass wir keine Provokation beabsichtigten und mit der Fahne unsere Solidarität mit allen Opfern antisemitischer Gewaltausdrücken möchten, woraufhin wir erneut beleidigt und im Nachgang als rassistische und sexistische Aggressoren bezeichnet wurden. Der Angreifer spuckte noch einmal in unsere Richtung, ehe sich die Situation auflöste.

Wir bedankten uns bei allen, die uns zur Hilfe gekommen waren und zogen uns auf die Höhe des Lautsprecherwagens zurück. Wir fühlten uns nicht mehr sicher, erneut nach vorne zu laufen, weil der Angreifer von einer größeren Gruppe bei seiner Tat bejubelt wurde. Es war uns nicht möglich die Situation einzuschätzen. Es betrübt uns sehr, dass zu diesem Zeitpunkt kein Schutz für Jüdinnen und Juden auf der Demonstration bestand, sofern sie es wagten einen Davidstern offen sichtbar zu tragen.

Vor allem aber ist es bedauerlich, dass die einzige Möglichkeit für Juden oder Jüdinnen, die mit unserer Gruppe auf der Demo waren, Solidarität zu erfahren, ein Outing als Jüdin oder Jude gewesen wäre. Ebenso ist es erschreckend, dass ein Angriff auf jüdische Symbolik geduldet wird, sofern die Träger*innen als „weiß“ bezeichnet werden können und im Nachgang auf Twitter aus dieser Gruppe von Angegriffenen rassistische und sexistische Täter*innen gemacht werden sollen.

Am Lautsprecherwagen berichteten wir einem Ordner von dem Vorfall. So unwohl wir uns fühlten, kam es für uns nicht in Frage die Fahnen abzulegen, da sie das Symbol der einzigen Schutzmacht ist, auf die sich Jüdinnen und Juden verlassen können; das Versagen der Polizei beim Anschlag auf die Synagoge in Halle ist dafür ein weiterer trauriger Beleg. Dort angekommen wurden wir von einer hinter dem Lautsprecherwagen laufenden Gruppe mit einem freundlichen „Shalom“ und einigen ausgestreckten linken Fäusten gegrüßt. Ohne genau darüber informiert gewesen zu sein, wer die Gruppe war und in welchem Block wir uns befanden, beschlossen wir zunächst einmal hier zu bleiben.

Während der Zwischenkundgebung wurden wir auf die Fahnen angesprochen und erneut fragten wir, warum der Davidstern auf dem Stückchen Stoff so problematisch sei und erklärten, dass wenn Juden und ihre Selbstverteidigung nicht erwünscht sei, dass doch bitte offen ausgesprochen werden solle. Daraufhin wurde erwidert, dass dieser Spruch hier nicht funktioniere. Als wir uns erkundigen wollten, warum entsprechende Person immun gegenüber Antisemitismus sein solle, wurde uns vorgeworfen, aggressiv ein Gespräch gesucht zu haben. Andere aus der Demonstration ermahnten uns ruhig zu sein, weil gerade Redebeiträge verlesen wurden. Der Versuch einer schnellen Erklärung, dass nicht wir das Gespräch begonnen hätten, wurde ignoriert. Dass wir keinerlei Interesse an Auseinandersetzungen hatten und lediglich, für uns angesichts der auch antisemitisch motivierten Anschläge selbstverständlich, israelische Fahnen trugen, wurde nicht zur Kenntnis genommen. Im Gegenteil schienen es die Israelfahnen zu legitimieren, dass wir beleidigt und angesprochen wurden. Erst unsere Reaktion schien das eigentlich zu kritisierende zu sein. Die Israelfahnen und das Einfordern eines jüdischen Rechts auf Selbstverteidigung wurden erneut als Provokation wahrgenommen. Ein Schelm, wer hierbei an deutsche Nachrichtensendungen denkt, in denen erst bei einer israelischen Reaktion nach wochenlangem Raketenbeschuss aus dem Gaza-Streifen berichtet wird oder den klassischen Vorwurf des jüdischen Nestbeschmutzers.

Im darauffolgenden Redebeitrag wurde frenetisch geklatscht, als ein Redner erklärte: „Ich bin Jude, wenn jemand was gegen Juden hat!“ Doch hätten sich Jüdinnen oder Juden erst outen müssen, damit der artikulierte Antisemitismus als solcher hätte wahrgenommen werden können. Wir entschieden uns die Demonstration vorzeitig zu verlassen. Es betrübt uns sehr, dass diese antisemitischen Angriffe geduldet werden und im Nachgang als Produkt einer Provokation bezeichnet worden sind. Wenn Jüdinnen und Juden in Deutschland eine linke Demonstration vorzeitig verlassen müssen, weil sie sich nicht sicher fühlen, dann hat die gesamte Demonstration leider in ihrem Anspruch versagt. Wir möchten erneut betonen, dass wir uns außer des Zeigens der Fahne und der Erwiderung von Vorwürfen gegenüber dieser Fahne auf der gesamten Demonstration passiv verhalten haben.

Was im Nachgang in sozialen Medien passierte, ist fatal: Antisemitismus gegen Rassismus auszuspielen hat keinerlei emanzipatorisches Moment, sondern ist die Fortsetzung eines kapitalistischen Konkurrenzkampfes auf der Ebene der Identität. Wir möchten niemandem rassistische Erfahrungen absprechen oder rassistische Alltagsgewalt leugnen. Stattdessen möchten wir darauf aufmerksam machen, dass Antisemitismus nicht erst dort beginnt, wo ein Jude oder eine Jüdin sichtbar anwesend ist. Jede Ablehnung des israelischen Staates, als einzigen weltweiten Schutzraum der Überlebenden der Shoah und ihrer Nachkommen, ist bereits antisemitisch motiviert. Am israelischen Staat artikuliert sich die negative Staatskritik. Ihm wird konkret das zu Last gelegt, was sich in der Staaten- und Klassengesellschaft abstrakt tagtäglich äußert, wie sich am Antisemitismus negativ eine Ökonomiekritik äußert.2

In einer Gesellschaft, in der Staat und Kapital aufeinander verwiesen sind und sich gegenseitig bedingen, sind auch Antisemitismus und Antizionismus nicht voneinander trennbar. Antisemitismus und Antizionismus sind notwendiges und falsches Bewusstsein einer falsch eingerichteten Gesellschaft. Sie existieren als solche unabhängig von Herkunft oder sonstigen Identitätsmerkmalen in einer globalisierten Form, wie das Kapitalverhältnis selbst globalisierte Form ist. Im Antisemitismus versucht sich ein Individuum als Subjekt innerhalb dieser falschen Gesellschaft zu konstituieren, unabhängig vom Verhalten der Objekte. Wer den israelischen Staat ablehnt, der lehnt das jüdische Recht auf Selbstverteidigung ab. Jeder, der den Antizionismus gegenüber dem Antisemitismus verteidigen möchte, zieht (oftmals wahrscheinlich unbewusst) mit dem Staat in den Kampf gegen das Kapital. Auf den israelischen Staat wird all jenes projiziert, was der eigene – oder auch der erträumte eigene – Staat oder verstaatlichtes Kollektiv tagtäglich tun muss, um überhaupt als Staat existieren zu können. Der stumme Zwang der Verhältnisse scheint sich in Israel konkret zu äußern. Verkannt wird dabei, dass es gerade der israelische Staat ist, der als historische Notwendigkeit nach dem Scheitern der jüdischen Emanzipation zum Staatsbürger und zum proletarischen Genossen, als einziger die Sicherheit der Jüdinnen und Juden garantieren kann.

Die Reaktionen, die unsere Fahnen auf linken Demonstration hervorrufen zeugen davon, dass auch hier Individuen versuchen müssen, sich als Subjekte zu konstituieren. Antisemitismus ist gerade nicht nur Problem von militanten Rechten. Wir gehen auch insoweit mit all jenen d‘accord, die uns online kritisierten, dass Rassismus ebenfalls mehr ist, als das bloße Phänomen neonazistischer Schläger oder populistischer Hetze im Bundestag. Wir verwehren uns jedoch dagegen, Rassismus und Antisemitismus allein von den Empfindungen der Opfer des Angriffes abhängig zu machen und zwar aus den im Text erörterten Gründen. Als Ideologien und Ressentiments folgen beide einer Logik, auch wenn wir diese als zutiefst widerwärtig betrachten, können wir nicht ihren rationalisierenden Kern und ihre für die Subjektivität innerhalb der kapitalistischen Vergesellschaftung notwendige Funktion leugnen. Ihre Funktion und Logik liegen außerhalb der Opfer von Angriffen, mehr noch: diese Logik wird den Betroffenen übergestülpt. In dieser Logik werden die Betroffenen zu bloßen Objekten.

So sehr es uns um den Schutz und das Wohlergehen von Betroffenen geht, so wenig kann dies erreicht werden, wenn die Deutung über den Inhalt von Angriffen allein im subjektiven Bereich der Angegriffenen verschoben wird. Denken und Handeln ist rassistisch und/oder antisemitisch oder nicht. Es muss unabhängig von der Artikulation eigener Betroffenheit sein, wenn man keine Zwangsouting-Situationen hervorrufen will, wie die oben geschilderte. Das heißt, dass wir selbstverständlich offen für Kritik auch unserer Verhaltensweise gegenüber sind, wenn diese gegenüber uns artikuliert wird. Wenn – wie beispielsweise auf Twitter angedeutet wurde – unser Verhalten zu kritisieren ist, dann bitten wir dies zu tun und nehmen uns gerne dieser Kritik an. Kritik kann dabei aber nicht sein, dass im Zeigen einer Israelfahne oder dem argumentativen Verteidigen einer solchen eine rassistische Provokation gesehen wird. Menschen, die sich an der israelischen Fahne derartig stören, sind als Antisemit*innen zu benennen. Für ein Ausspielen von Rassismus gegen Antisemitismus stehen wir aber nicht zur Verfügung.

In diesem Sinne,
mit solidarischen Grüßen an alle, die an der bestehenden Gesellschaft etwas auszusetzen haben,
Solarium – kommunistische Gruppe Bremen.

1Siehe dazu: Joachim Bruhn: Unmensch und Übermensch: https://www.ca-ira.net/wp-content/uploads/2018/06/bruhn-deutsch_lp-1.pdf
2Siehe dazu den Absatz über Antisemitismus und Antizionismus in: Solarium: Kapital, Staat, ihre Fetische und dieses deutsche Scheiszland: https://antideutschorg.wordpress.com/2020/01/07/kapital-staat-ihre-fetische-und-dieses-deutsche-scheiszland/

Kapital, Staat, ihre Fetische und dieses deutsche Scheiszland.

Im folgenden möchten wir die überarbeitete Version eines internen Diskussionspapier mit Skizzenhaften Überlegungen für einen antideutschen Materialismus veröffentlichen, um die analytische Grundlage unserer bisher veröffentlichten Flugblätter offen darlegen zu können. Es geht uns darum um nichts weniger, als um den Versuch die Basis der vom antideutschen Materialismus ausgehende kommunistische Kritik der Welt aufzuzeigen. Dabei geht es uns allerdings nicht um besserwisserische Arroganz – die überlassen wir dem GegenStandPunkt und dem lokalen Ableger Argu.Diss – sondern um den Anstoß einer (nicht nur) in Bremen notwendigen Diskussion über linksradikale Gesellschaftskritik, die sich weder darin begnügt die Farce zu vergangenen linken Tragödien zu sein, noch – bewusst oder unbewusst – Erfüllungsgehilfin politischer Parteien zu werden. Die im folgenden skizzierten Begriffe erachten wir als Basis dieser Kritik.

Weil wir das nun folgende bereits als Flugblatt zugespitzt haben und weil es eigentlich um etwas anderes geht, sind die Verweise auf den Aufruf von NIKA Nordwest für die Demonstration gegen Thilo Sarrazin in Bremen bewusst implizit gehalten. Der bewusste Bezug zum Aufruf soll dennoch nicht verdrängt werden und hier nochmal vorangestellt werden. Die im Flugblatt geäußerte Kritik soll an dieser Stelle viel mehr als pars pro toto für eine kritisierenswerte Lage linker Kritik genommen werden.1 Des Weiteren sei bereits vorab angemerkt, dass das nun folgende keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann und will, sondern lediglich versucht ein wenig Grundsätzliches über einen antideutschen Materialismus zu sagen, der die Basis unserer Kritik an einer viel zu wenig radikalen Linken ist.

Das Kapital:

Anders als die antikommunistischen Marxisten es raunen, ist das Kapital kein Kreis von Personen, der in irgendwelchen Räumen über die Welt herrscht. Der von Marx erkannte Widerspruch von Kapital und Arbeit, der vom Marxismus erst zum Grundwiderspruch aufgeblasen wurde, um dann personifiziert zu werden, ist nicht die wesentliche Bestimmung des Kapitalismus. Jene wäre erst, mit einem Begriff von einer Vergesellschaftung, in der das Kapitalverhältnis zum totalen System geworden ist, also eine alles Denken und Handeln bestimmende Totalität erreicht hat, zu haben. Doch wie drückt sich diese Totalität aus, wie lässt sie sich auf den erforderlichen Begriff bringen?

Wer in Marx einen Theoretiker des Kapitals – und darin unterscheiden sich die meisten seiner Anhänger nicht voneinander, egal ob sie früher Sozialdemokraten, Stalinisten, Trotzkisten oder neuerdings Autonome und Antinationale sind – sehen möchte, der erwartet implizit das Begreifen und vernünftige Darstellen einer absolut unbegreiflichen und unvernünftigen Angelegenheit.2 Polemisch gesagt: Wenn es Marx nur darum gegangen wäre, das Wesen der Totalität theoretisch darzustellen, anstatt es als Unwesen zu denunzieren, dann hätte er lediglich Hegel interpretieren und keine Kritik der politischen Ökonomie schreiben müssen. Wenn er eine Theorie des Kapitals zu schreiben versucht hätte, dann hätte er dadurch in das Kapitalverhältnis eine Vernunft hineingelegt. Er wäre Linkshegelianer geblieben, anstatt den Versuch zu unternehmen, Hegel vom Kopf auf die Füße zu stellen und der idealistischen Theorie eine materialistische Kritik entgegenzustellen.

Wenn Jahrzehnte später nun Adorno unter dem Eindruck der Shoah und im Anschluss an Marx davon sprach, dass das Ganze das Unwahre und das Wesen des Kapitals ein Unwesen sei, dann sind das weit mehr als bloße akademische Spielereien mit hegelscher Dialektik, sondern es ist Ideologiekritik par excellence und damit notwendiger Anknüpfungspunkt für jede linksradikale Gesellschaftskritik. Hegel brachte, als Metaphysiker des Tausches, wie kein zweiter die Art und Weise, in der sich die bürgerliche Gesellschaft konstituiert, zu einem Bewusstsein. Welches, – und das meint der Ideologiebegriff – für den Erhalt dieser Gesellschaft zwar notwendig, auf Grund seiner Affirmation der Spaltung der Gattung in Herrschende und Beherrschte, allerdings grundsätzlich falsch ist.

Es kann aber auch nicht richtig sein, da die einzige Wahrheit über das paradoxe Verhältnis des Werts, welches den Einschluss aller durch alle im Ausschluss aller durch alle erreicht, dessen Abschaffung wäre. Das heißt, dass die gesellschaftliche Synthese, die das Kapitalverhältnis stiftet, alle ausschließt, weil es die Individuen zu Arbeitskraftbehältern und die sinnlichen Dinge zu Waren atomisiert und zugleich alle einschließt, in dem alles auf den Wert bezogen und dadurch miteinander austauschbar (und damit vergleichbar) wird. Der Mensch wird im sozialen Verhältnis des Wertes als bloßer Arbeitskraftbehälter sowohl vom gesellschaftlichen Reichtum ausgeschlossen, als auch als Verkäufer der Ware Arbeitskraft im Marktzusammenhang eingeschlossen.

Jede Theorietisierung dieses real-existierenden völligen Widersinns eines automatischen Subjekts des Kapitals, eines sich selbstverwertenden Wertes, eine ewig voranschreitende Prozession von Geld – Ware – mehr Geld, wäre eine Rationalisierung und damit Legitimierung der Herrschaft des Menschen über den Menschen, deren Abschaffung gerade das Ziel der kommunistischen Kritik ist. Der polemische Gehalt des marxschen Begriffs vom automatischen Subjekt liegt gerade in seiner paradoxen und theologischen Dimension: zum einen ist etwas entweder automatisch oder es ist Subjekt, zum anderen ist die Selbstverwertung des Wertes ein Zirkelschluss und deshalb logisch nicht korrekt und doch ökonomische Realität auf die jede ökonomische Theorie aufbaut.3 In gewisser Weise existiert im Kapitalismus mit dem Wert ein, sich jeder Rationalität entziehendes, göttliches Moment, dass dennoch vom Menschen geschaffen wurde.4

Die allgemeine Gültigkeit erhält dieses abstrakte Wertverhältnis durch seine sinnliche Form: das Geld. Dessen Rätsel – und die Denker der politischen Ökonomie haben bis heute keine Antwort darauf gefunden5 – liegt in seiner zugleich objektiven Gültigkeit als abstraktes Wesen des Werts und in seinem subjektiven Charakter als konkrete Erscheinung in der Geldware. Hier ist zum Einen auf die Unbegreiflichkeit zu verweisen, die in diesem logischen Paradox liegt und zum Anderen auf die weitgehenden Folgen für eine Gesellschaft, in der dieses Paradox zur bestimmenden Synthese – zum Ausschluss aller durch den Einschluss aller – werden konnte.6

Der Staat:

Wenn man wie Marx, über die Bedeutung des Geldes für das Kapitalverhältnis nachdachte und dabei eine britische Pound Sterling Münze in die Hand nimmt – was der gute Karl nach jedem Besuch seines Finanziers Engels tun musste, um seine Familie ernähren zu können – wird deutlich, dass auf der einen Seite der Wert in einer Zahl ausgedrückt wird, während sich auf der anderen Seite der Kopf des Souveräns befindet. Kurzum: es wird deutlich, dass der Staat nicht unbeteiligt an dieser Form der Vergesellschaftung sein kann. Es verwundert demnach nicht weiter, dass Marx nach dem Manifest der kommunistischen Partei und in den Arbeiten zur Kritik der politischen Ökonomie Abstand nahm von der Idee des Staates als Hebel zur Errichtung der befreiten Gesellschaft. Es bezeugt darüber hinaus den konterrevolutionären Charakter aller Erscheinungen des Marxismus-Leninismus und sonstigen sozialdemokratischen Elendsverwaltungsbestrebungen, dass Lenins Buch Staat und Revolution und nicht Staat ODER Revolution hieß. Doch was genau hat der Staat mit dem Kapitalverhältnis zu schaffen?

Wie bereits angedeutet ist das Kapitalverhältnis ein Verhältnis, in dem das Tauschverhältnis eine allgemeine Gültigkeit erlangt. Erst dadurch, dass Waren aufeinander im Tausch bezogen – also: verglichen – werden, entsteht Wert, Ware, Geld und Kapital. Eine Voraussetzung des Tausches ist, dass sich die Tauschenden als Freie und Gleiche gegenübertreten – denn wenn ich etwas einfach so nehmen kann, dann werde ich nicht dafür bezahlen. Diese Freiheit und Gleichheit wird garantiert durch die Vereinigung in Brüderlichkeit im Nationalstaat, der – mit den legitimatorischen Weihen seiner Staatsbürger gesegnet – die Freiheit und Gleichheit (und somit den Tausch) rechtlich garantiert, was auch heißt, dass er Rechtsübertritte ahndet. Dazu darf er nicht nur – als einziger – Gewalt einsetzen (Stichwort Gewaltmonopol), mehr noch: er definiert überhaupt erst was Gewalt ist.

Es ist mittlerweile unter kritischen Historikern nicht unüblich, sich die Entstehung von Staatlichkeit als das Agieren einer Mafiabande vorzustellen und es ist auch für unsere Belange hilfreich, sich den Prozess der ursprünglichen Zentralisation7 – die Entstehung einer Staatlichkeit – unter Berücksichtigung dieses Bildes zu vergegenwärtigen. Betrachten wir also exemplarisch Feudalherren, deren herrschaftliche Sitze nur unweit von einander entfernt liegen und die sich im permanenten Zwist um die zwischen ihnen befindlichen Ländereien befinden. Je länger der Zwist andauert, desto mehr Geld – welches sie von den Bauern, die ihre Ländereien bewirtschaften erhalten – brauchen beide, um ihr Söldnerheer finanzieren zu können. In gewisser Weise besteuern sie die Bauern, damit das funktioniert, müssen sie wiederum alle Gewalt – außer die eigene – von den Bauern fern halten, kurzum: sie verlangen Schutzgeld. Zum Eintreiben dieses Schutzgeldes benötigen sie Bürokraten, zur Aufrechterhaltung des Schutzes benötigen sie ein permanentes und stehendes Heer und so weiter. Langfristig setzt sich einer der beiden durch – oder sie kooperieren, das Gebiet vergrößert sich und damit notwendigerweise der Staatsapparat und das stehende Heer. Am Ende entsteht aus diversen ehemaligen Provinzen ein vereinigtes Königreich.

Das ist die – stark vereinfacht dargestellte – feudale Form von Staatlichkeit, in der die Herrschaft noch unmittelbar durch Gewalt ausgeübt wird und in der die Reichtümer vor allem den Gelüsten der Herrscher dienen. In der Epoche des Merkantilismus gewinnt das kaufmännische Bürgertum immer mehr ökonomische Macht, durch die sie Kompromisse mit der Feudalherrschaft eingehen und Privilegien erlangen können.8 Marx spricht davon, dass die Feudalherrschaft ihre eigenen Totengräber hervorbringt und verweist auf den Moment, in dem sich das Bürgertum gegen die Feudalherrschaft auflehnt und mit der Parole Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit sich die Welt nach ihren – auf Tausch basierenden – Vorstellungen einrichtet. Dabei wird jedoch nicht gänzlich mit der Herrschaft des Feudalismus gebrochen und Gewalt nicht einfach durch Recht ersetzt, wie es Liberale bis heute behaupten. Die Herrschaft wird durch das Recht vermittelt und Gewalt wird zur ersten Bedingung und letzten Garantie des Rechts.

Wie alle Waren durch den Wert aufeinander bezogen sind, so sind es die Menschen – die einzig als Träger der Ware Arbeitskraft relevant sind – im Recht durch den Souverän aufeinander. Denn nur, wer über seine Ware Arbeitskraft verfügt, kann diese zu Markte tragen. Erst als Staatsbürger sind sie rechtliche geschützte Subjekte.9 Dieses Rechtssubjekt ist das Ideal des allgemeinen Menschen, der von allen empirischen Besonderheiten und natürlichen Beschränkungen abstrahiert wird. Das heißt, dass der abstrakte Begriff des Menschen dem konkreten Menschen gegenübersteht. Verkörperung dieses abstrakten Bildes vom Menschen ist der Souverän,10 der mit seinem Gewaltmonopol diesen Zustand des Rechts erst ermöglichen kann.

Zwei Sachen, die an dieser Stelle leider ausfallen müssen, aber von Relevanz sind: Erstens muss erwähnt werden, dass der Staat nicht allein existiert, sondern im permanenten Kriegszustand gegenüber anderen Staaten, die – trotz temporärer Kollaboration – in einem Konkurrenzverhältnis zu einander stehen. Zweitens muss angemerkt werden, dass in der Idee der Nation Staat und Souveränität ideologisiert – gewissermaßen erfahrbar gemacht – werden, in dem der bloßen Abstraktion ein mythisches Leben eingehaucht wird. Der erste Weltkrieg ist – wie nicht zuletzt Rosa Luxemburg analysierte – die ebenso brutale wie logische Konsequenz von Staatlichkeit.

Die Subjekte I:

Dass die Waren sich nicht selbst zu Markte tragen können, wie Marx anmerkte, heißt – wenn man an die weiter oben angeschnittene Zentralität der Warenform für die gesamte Vergesellschaftung denkt –, dass der Mensch für Marx das Subjekt der Geschichte ist und bleibt. Das heißt, dass das automatische Subjekt seine Existenz allein der Handlung von nicht-automatischen, ergo menschlichen, Subjekten verdankt; dass die Realabstraktion Staat nur vermittels Subjekten – seien sie Polizisten, Politiker oder Soldaten – erscheinen kann. Wenn Marx allerdings sagt, dass sich die Geschichte scheinbar hinter dem Rücken der Subjekte vollziehen würde,11 spricht er damit das – schon vorher erwähnte – notwendig falsche Bewusstsein der Subjekte an. Er erklärt, dass sie – ohne es zu merken – zu Charaktermasken12 werden und attestiert ihnen einen fetischisierten Alltagsglauben.

Ihre Fetische:

Der Begriff des Fetischcharakters der bürgerlichen Gesellschaft wird von Marx im ersten Band des Kapitals entwickelt. Als solcher ist der aus der aufgeklärten und bürgerlichen Religionswissenschaft stammende Begriff13 zu tiefst polemisch. Als Fetisch gilt der Glaube von sogenannten primitiven Religionen, die in einem Gegenstand – zum Beispiel in einem bunt angemalten Stück Holz – magische Fähigkeiten behaupten. Im Bewusstsein des Verhältnisses von Mythos und Aufklärung, über das Adorno und Horkheimer später ein ganzes Buch14 schreiben sollten, attestiert Marx der aufgeklärten Gesellschaft des Bürgertums einen Okkultismus, der dem der primitiven Völker in Nichts nachsteht. Ein Wuppertaler Foucaultianer brachte diese aufgeklärte Form des mythischen Glaubens auf ein Bild, dessen Tragweite er mit seiner Ablehnung einer negativen Dialektik15 eventuell selbst nicht verstehen kann: „Und wie der erste Mensch vor Blitz und Donner stand, steht der moderne Mensch vorm Kontostand und bangt um seine Existenz. Ängstlich wie er immer war, murmelt er Beschwörungsformeln. Der Glaube ging, die schnöden Sorgen um das Übermorgen blieben.“16

Ohne allzu genau auf die einzelnen Fetische eingehen zu können, seien die für unsere Beobachtungen Wichtigsten an dieser Stelle noch einmal kurz angerissen. Als Warenfetisch versteht Marx die okkulte Annahme, dass jeder Gegenstand schon qua Natur eine Ware sei und damit ein Wert in ihm – also zum Beispiel in einem Tisch – selbst enthalten und nicht erst Ergebnis des gesellschaftlichen Tauschverhältnisses sei. Diese Fetischisierung ist gleichbedeutend mit einer Enthistorisierung des Kapitalverhältnisses, das nicht mehr als bestimmte aktuelle Form von Vergesellschaftung erscheint, sondern als stets allgegenwärtige: Wenn alle Dinge immer Waren mit Wert sind, dann ist das sie umgebende Verhältnis immer das Tauschverhältnis. Analog dazu der Staatsfetisch und der Rechtsfetisch, die einen Menschen qua Natur als Rechtssubjekt sehen (Stichwort: Menschenrechte oder Naturrechte) und somit die gesellschaftlichen Verhältnisse, die diesen Zustand erst hervorbringen, zu einer zweiten Natur werden lassen.17

Die Subjekte II:

In der von Staat, Kapital und ihren Fetischen bestimmten, bürgerlichen Gesellschaft kann der konkrete empirische Mensch – sofern er das Glück hat, ein Staatsbürger zu sein und nicht ohne Papiere im Mittelmeer ertrinken muss – nur in der Subjektform überleben.18 In dieser ist die Individualität zum Accessoire der Persönlichkeit degradiert.19 Sein Denken ist in die Warenform gebannt, die „erkenntnistheoretisch von der Philosophie und triebökonomisch von der Psychologie verdoppelt und rationalisiert wird.“20 Das Individuum steht also nicht im von Soziologie und Feuileton behaupteten Gegensatz zur Gesellschaft, sondern die Gesellschaft hat sich ins Innerste des Individuums eingebrannt. Zum Subjekt wird das Individuum, wenn es in der Lage ist, sich selbst als Eigentümer der Ware Arbeitskraft zu denken, seine eigenen Triebe so zu beherrschen, um zur gesellschaftlichen Produktion beitragen zu können – letzteres hat allerdings mehr mit Glück als Verstand zu tun.21 Kurzum: Subjektform, das heißt – nach einem Worte von Joachim Bruhn – „Kapital verwertend und Staatsloyal“22 zu sein, sprich: „Subjektform ist die Uniform“.23

Das Subjekt ist, wovon es in seinem fetischisierten Bewusstsein nur eine Ahnung (als Existenzangst) entwickeln kann, vollauf prekär. Permanent droht die eigene Wertlosigkeit und damit der Verlust der Subjektivität: „Derart ist das bürgerliche Subjekt verfasst, dass es Identität nicht aus sich selbst erzeugen kann, sondern nur im Prozess einer ständigen Abgrenzung, eines permanenten Zweifrontenkrieges gegen das ‚unwerte‘ und gegen das ‚überwertige‘ Leben. Bürgerliche Subjektivität existiert nur in der vollkommenen Leere der permanenten Vermittlung, die sie zwischen den Waren, im Tausch, und um den Preis der ihr andernfalls drohenden Annihilation zu stiften hat.“24 Die erste Front ist eine Abspaltung und Projektion, der eigenen – sich der Verwertung und Verrechtlichung entziehenden – triebhaften Naturbeschaffenheit, auf einen rassifizierten Menschen beziehungsweise Gruppe von Menschen, dem beziehungsweise denen man den Subjektstatus verweigern muss, um sich selbst als Subjekt wähnen zu können.25 Die Ambivalenzen zwischen Romantisierung der edlen Wilden und dem Streben nach ihrer totaler Beherrschung folgen der dialektischen Logik des Wertes.

Antisemitismus und Antizionismus:

In der zweiten Front werden pathisch die eigenen Sehnsüchte auf die „Gegenrasse als solche“ projiziert. Er ist das mörderische Streben des Bürgertums sich selbst zu rassifizieren, die eigene Subjektivität durch Aneignung des angeblich geheimen Wissens der Juden zu erlangen. Diese Abspaltung findet allerdings zweifach statt: ökonomisch im Antisemitismus und politisch im Antizionismus – das Eine bedingt das Andere so sehr, wie sich Staat und Kapital gegenseitig bedingen.

Dem Antisemiten erscheint das Kapitalverhältnis als Gegenüberstellung von Produktions- und Zirkulationssphäre, wobei die Produktion als „schaffend“ und die Zirkulation als „raffend“ gedacht werden. Dass die Warenproduktion nicht nur ohne die Zirkulation – also den Kauf- und Verkauf von Waren zum Zweck des Profites – nicht kann, sondern selbst bereits die Zirkulation – den Kauf der Produktionsmittel, ihre Aufwertung durch die gekaufte Ware Arbeitskraft und ihren Weiterverkauf – in sich enthält, kann das fetischisierte Bewusstsein, dass die Wertsteigerung auf magische Weise im Gegenstand selbst vermutet, nicht begreifen. Die Trennung und die Abspaltung stabilisiert das System, ist es doch so möglich, die Produktivität des Kapitalverhältnisses gegen seine ihm innewohnende Destruktivität auszuspielen. In Krisenzeiten der Verwertung erfüllt das Pogrom die Funktion des ritualisierten Opfers an die Gottheit des automatischen Subjekts – von der triebökonomischen Funktion ganz zu schweigen. Der Antizionist wiederum trennt die sich gegenseitig Bedingenden Recht und Gewalt, während er letzteres dem vermeintlich künstlich gesetzten jüdischen Staat zuschlägt, um den eigenen Staat als natürlich gewachsene Entität des Rechts halluzinieren zu können. Die Funktion ist in gewissem Maße analog zum Antisemitismus. Die Fetischisierung des Rechts verdrängt die Gewalt, deren Existenz jedoch unwiderlegbar ist, die einem anderen Subjekt mit finsteren Absichten zugeschoben werden muss.

Bei beiden ist der Neid auf das vermeintlich geheime Wissen der Juden und ihrem Staat nicht von der Hand zu weisen, ist das ihnen Unterstellte doch das eigene Verlangen: Verwertung und Herrschaft. Antisemitismus und Antizionismus sind die negative Ökonomie- und Staatskritik in den Formen des fetischisierten Bewusstseins. Beide sind somit gerade nicht Ausdruck einer Archaik oder Feudalität – im Falle des Irans Beleg seines irgendwie vormodernen Daseins – sondern im Gegenteil Ausdruck der bürgerlichen Moderne. Weder Bildungsarbeit noch Politik können irgendetwas gegen sie ausrichten, sind sie doch keine Unwissenheit, sondern logische Konsequenz der bürgerlichen Subjektivität, auf der jede Vorstellung von Politik notwendigerweise beruht.

Eine Kritik an Staat und Kapital, die ihren negativen und fetischisierten Konterpart nicht wahrnimmt, scheitert am eigenen Anspruch. Die Solidarität mit dem Staat Israel, als einzig möglicher Antwort auf den antisemitischen Vernichtungswahn der verstaatlichten Subjekte, steht somit nicht in Widerspruch zur Kritik an Staatlichkeit, sondern ist deren Bedingung. Wenn an den Juden die Übel der Moderne ausagiert werden sollen, dann ist es schlicht und ergreifend fahrlässig und konterrevolutionär, ihnen die Selbstverteidigung – in der einzig ihnen zu Verfügung stehenden Form des Staates – abzusprechen. Wenn der Kommunismus die Befreiung der Menschheit sein soll, dann kann diese nicht mit dem Preis des stets drohenden antisemitischen Mordes errichtet werden.

Dieses deutsche Scheiszland:

Folgt man dem bisher Dargelegten zustimmend, dann bleibt den lesenden Individuen nichts anderes übrig, als sich als antinational, israelsolidarisch und kommunistisch zu verstehen. Das heißt – um es herunter zu brechen – sich kritisch gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft und all der gescheiterten linken Versuche, diese zu überwinden, zu verhalten und darauf zu pochen, dass die staatenlose nicht ohne die klassenlose und die klassenlose nicht ohne die staatenlose Gesellschaft zu machen ist und dass Staat und Kapital sich nicht auf einzelne Personen herunter brechen lassen, sondern ihre Macht als Realabstraktion aus dem notwendigen und falschen Bewusstsein der gesamten Gesellschaft ziehen.26 So radikal diese Haltung – würde sie in letzter Konsequenz durchgezogen – auch gegenüber der gegenwärtigen Linken wäre, so sehr lässt sie doch außer Acht, dass die Lügen von Staat und Kapital beinahe auf mörderische Weise wahr gemacht worden wären und es, neben diversen von den Opfern des Nationalsozialismus gebildeten bewaffneten Widerstandsgruppen, allen voran den Staaten der Sowjetunion, der Vereinigten Staaten von Amerika und des Vereinigten Königreichs zu verdanken ist, dass dem nicht geschah. Ebenso wird außer Acht gelassen, dass dieses Unterfangen nicht zufällig von einem bestimmten Staat ausging: Deutschland.

Richard Wagners affirmative Emphase, dass es deutsch sei, eine Sache um ihrer selbst Willen zu tun, bekommt ihre historische Wahrheit in der antisemitischen Vernichtung um der Vernichtung Willen. Ihren materialistischen Gehalt erhält sie durch den Verweis auf Adornos Rede, dass ein Deutscher jemand sei, der keine Lüge aussprechen könne, ohne sie selbst zu glauben.27 Das heißt – in aller Kürze –, dass die Unwahrheiten der bürgerlichen Gesellschaft im Nationalsozialismus auf brutalste Art und Weise beinahe wahr gemacht worden wären, wie die bloß über den Wert vermittelte vermeintliche Egalität der Klassengesellschaft zur Auflösung des Klassenwiderspruchs in der Egalität des Mordkollektivs wurde; wie der Traum von der krisenfreien Ökonomie in der kriegerischen Konsumgemeinschaft realisiert werden sollte.28 Das Erbe dieser Gemeinschaft lebt fort im postnazistischen Sozialpakt, in der Unterstützung antisemitischer Mörderbanden, dem Aufschwingen zur moralischen Weltmacht und in der stetigen Möglichkeit, sich im Angesicht der Krise erneut auf die altvertraute – beinahe erfolgreiche – Krisenlösung zu besinnen.

Auf diesen Unterschied zwischen den Staaten – und Deutschland ist in diesem ideologiekritischen Sinne nicht der einzige, aber der erste deutsche Staat – zu bestehen, heißt sich der Bedingung der Möglichkeit der eigenen Kritik bewusst zu sein.29 Gerhard Scheit fasste treffend zusammen, dass Staat und Kapital zwar die Bedingungen der Möglichkeit der Katastrophe seien, aber selbst noch nicht die Katastrophe. Anders als es aktuell häufig versucht wird, lässt sich das Antideutsche nicht gegen das Kommunistische ausspielen, denn das Bejahen der bürgerlichen Gesellschaft ist die Akzeptanz der Bedingung der Möglichkeit ihres eigenen Umschlags in Barbarei; denn das Beharren auf kommunistischen Idealen und Prinzipien im Angesichts der mörderischen Vernichtungsdrohung staatsgewordener deutscher Ideologie ist schlicht und ergreifend zynisch. Um es in eine Parole zu fassen: Nieder mit Deutschland heißt Solidarität mit Israel und für den Kommunismus.

Die Subjekte III:

Alles was bisher über Subjektivität gesagt wurde, gilt natürlich auch für den deutschen Staat, der nur durch seine Staatsbürger überhaupt sein kann und der sich eben nicht bloß durch Wirtschaftsbosse und Politfunktionäre ausdrückt, sondern in dem jeder einzelne Staatsbürger in eine entsprechende Charaktermaske schlüpft. Das Ausspielen der klassenbewussten Antifa gegen die rassistischen Funktionäre von Staat und Kapital verkennt die gerade in Deutschland (gern) praktizierte Verbindung von Mob und Elite. Verkennt, dass der arbeitslose Faschist in Ostdeutschland mit den Sarrazins, Höckes und den Mitgliedern des Wirtschaftsclubs Havanna in Bremen in einem Verhältnis steht; dass sich die Subjektivität der ersten in Abschiebungen und Bevölkerungspolitik äußern kann, während letztere zum verzweifelten Versuch der Festigung ihrer bürgerlichen Subjektform – und das hat Joachim Bruhn im Fall eines Mörders von Solingen bereits auf dem Konkret Kongress 1993 deutlich dargelegt – einzig und allein der rassistische Mord bleibt.30 Die von buchgläubigen Kommunisten erstrebte Emanzipation der Deutschen zu Menschen, betrifft jeden Staatsbürger auf unterschiedliche Weise, aber doch gleichermaßen. Um eine Parole vom 10ten Dezember aufzugreifen: die Grenze verläuft weder zwischen den Kulturen, noch zwischen klassenbewusster Antifa und Wirtschaftsclub, sie verläuft durch die entfremdeten Subjekte hindurch.31

Dies festzustellen ist nicht gleichbedeutend mit einer Verdrängung der berechtigten Wut auf die Charaktermasken der politischen und ökonomischen Macht oder einer Predigt für den Verzicht auf nonverbale Kommunikation mit autoritären Dreckssäcken – notfalls auch vermittelt über deren Eigentum. Vielmehr ist dies festzustellen, um die Gemeinsamkeiten der rassistischen Formierung im Bewusstsein zu behalten, ohne dabei die einen zum bloßen Fußvolk der Anderen zu machen. Deutscher – und das heißt manifester Antisemit und Rassist – zu sein, ist eine Entscheidung, für die jeder im sartre‘schen Sinne zur Verantwortung zu ziehen ist.

Und ebenso sind Linke zur Verantwortung zu ziehen, die sich nicht in allerletzter Radikalität in eine Fundementalopposition zu diesem widerwärtigen Drecksland begeben und sich ausgerechnet an der Fahne Israels stören. Das Gegenteil von gut ist in der Welt von Kapital, Staat und ihren Fetischen leider, leider, leider gut gemeint.

XOXO,
Solarium – kommunistische Gruppe Bremen.

post scriptum: Zum konkreten Inhalt dieses Textes sind Diskussionsveranstaltungen geplant, außerdem werden wir in den nächsten Monaten versuchen Vorträge zu organisieren, die den im Text artikulierten Ansprüchen an eine Gesellschaftskritik Folge leisten möchten. Dazu bei Zeiten mehr.

1Unser entsprechendes Flugblatt: https://antideutschorg.wordpress.com/2019/12/11/der-staat-bist-du-charaktermasken-abschminken/
2Das zeichnet eine Theorie im strengen Sinne aus, dagegen zielte der Begriff der kritischen Theorie von Max Horkheimer.
3Das hat Marx in seiner Auseinandersetzung mit den ökonomischen Theorien von Adam Smith und David Riccardo erkannt, weswegen er ihnen eben keine alternative ökonomische Theorie entgegen stellte, sondern eine Kritik der politischen Ökonomie.
4Oder auch kantisch: als transzendental Subjekt auf den alle Vernunft bezogen ist.
5Die gesamte Geschichte der Ökonomie als Wissenschaft ist der Streit zwischen der objektiven Wertlehre und der subjektiven Wertlehre, die beide ständig gegeneinander Recht haben und sich doch irren.
6Der Ehrendoktor der Universität Bremen, Alfred Sohn-Rethel, geht dabei so weit , dass er die gesamte Philosophie des Abendlandes seit der Antike als eine versuchte Theoretisierung dieses Geldrätsels versteht – aber dazu bei einer von uns bald geschaffenen Gelegenheit mehr.
7Die notwendig in einem Verhältnis zu der von Marx dargelegten ursprünglichen Akkumulation steht.
8Die Geschichte der Bürgerrrechte der Hansestadt Bremen ist ein Beispiel für die historische Manifestation dieser logisch dargestellten Entwicklung. Wobei selbstverständlich die Komplexität keiner Geschichte – weder die Bremens noch die des britischen Königreiches – nahtlos in dieser linearen Logik aufgeht.
9Die Dialektik einer Aufklärung, die sich in ihr Gegenteil umkehrt, zeigt sich auch im Kolonialismus, durch den als rechts- und staatenlos wahrgenommene Individuen auf brutalste und unmittelbarste Weise ausgebeutet wurden. Der Reiz der nationalen Befreiungsbewegungen für diese Individuen, ob sie sich nun liberal oder sozialistisch artikulierten, liegt in der Verrechtlichung der eigenen Existenz und dem Schutz vor gänzlich irrationaler Willkür.
(Exkurs: Was dieses Moment angeht, so ist nicht nur die Geschichte Vietnams und Kubas, sondern auch die Entwicklung des Realsozialismus im sowjetischen Einflussbereich ein Zeugnis davon, dass der Realsozialismus ein bürgerliches Verstaatlichungsprojekt war, dass sich lediglich im Inhalt – Sozialstaat und Arbeitszwang – von westlichen Nationalstaaten unterschied.)
10Man darf Souverän hier nicht mit den demokratischen Gestalten verwechseln, die temporär in dessen Charaktermaske hineinschlüpfen (und somit selbst auf ein Idealbild von Herrscher bezogen werden). Besonders deutlich wird die Funktion des Souveräns als Verkörperung (der hobbesche Leviathan) dort, wo Person und Funktion zusammengewachsen sind, wie im britischen Königshaus. Die gesamte Fernsehserie the Crown gibt Auskunft darüber, wie wenig Individualität den zur bloßen Charaktermasken degradierten Mitgliedern der Königsfamilie eingestanden werden darf, damit sie ihre Funktion als Idealtyp des Menschen an sich ausüben können. Überhaupt kann in einer Auseinandersetzung mit der britischen Geschichte und den Ritualen der gegenwärtigen Politik viel von einer Souveränität als zu erfüllende Rolle gelernt werden, was in Deutschland im Traum vom Führer und der Projektion auf den amerikanischen Präsidenten verdrängt wird.
11Adorno spricht hier von Ohnmacht.
12Bloßen Funktionsträgern des automatischen Subjekts, hinter denen sich ein empirisches Individuum befindet, dass von sich selbst abstrahieren muss, um funktionieren zu können.
13Wie Marx sehr oft auf Begriffe aus der Theologie und Religionswissenschaft zurückgreift, wenn er versucht die Widersinnigkeit des Kapitals zu fassen.
14Die Dialektik der Aufklärung.
15Wie dieser selbst sagt: „Ich zitier‘ Adorno, doch ich denk nicht dran ihn ernst zu nehmen.“
16Prezident – Menschenpyramiden
17Weil es nicht oft genug gesagt werden kann: eine Linke, die sich auf das Völkerrecht oder die Menschenrechte beruft, ist eine Linke, die in den Formen von Staat und Kapital denkt und damit eine Linke, die ihren einzigen Zweck – die Errichtung der befreiten Gesellschaft – verwirkt hat und damit auf den Müllhaufen (oder Ablagestapel) der Geschichte entsorgt werden kann.
18Der soziale Tod der Subjektlosigkeit ist dabei miteingeschlossen.
19Für alle Kapitalesekreisabsolventen: Das Subjekt verhält sich zum Individuum, wie der Tauschwert zum Gebrauchswert.
20Bruhn, Joachim: „Typisch deutsch“ – Christian R. und der linke Antirassismus, in: Was deutsch ist,Seite 162.
21Der arbeitslose Alkoholiker kann als Deutschrapper über Nacht zum Subjekt werden.
22Bruhn, Joachim: Videomitschnitt vom Konkret Kongress 1993.
23Bruhn, Joachim: Subjektform ist Uniform, auf: https://www.ca-ira.net/verein/positionen-und-texte/bruhn-subjektform-uniform/
24Bruhn, Joachim: Unmesch und Übermensch, in: Was deutsch ist, Seite 96.
25Die vorkoloniale Rassifizierung der britischen Landbevölkerung, die als doppelt freie (frei von besitzt werden und frei von eigenem Besitz) Proletarier zu den Fabriken in die Städte strömte (siehe Malik, Keenan: Multiculturalism and its Discontents) sind ein Beispiel, das diesen materialistischen Begriff von Rassismus gegenüber postmodernen Identitätstheorien deutlich unterscheidet. Aber auch der koloniale Rassismus kann nur im begrifflich hergestellten Bezug der Subjektivität auf Staat und Kapital überhaupt als etwas anderes als bloße Willkür erscheinen.
26Kurzum: sich dem angeblichen Widerspruch zwischen Anarchismus und Marxismus gänzlich zu entziehen.
27Erwähnt sei hier noch Friedrich Engels, der dem deutschen Bürgertum vorwarf, die Mittel – wie den Staat oder den Antisemitismus – der Kapitalakkumulation zum heiligsten Zweck zu verklären.
28Dazu siehe bitte: Scheit, Gerhard: die Meister der Krise.
29Siehe dazu: Redaktion antideutsch.org: Verteidigung der falschen Freiheit, auf: https://antideutschorg.wordpress.com/2019/01/06/verteidigung-der-falschen-freiheit-/ & derselbe: Kann es einen Materialismus geben, der nicht antideutsch ist?, auf: https://antideutschorg.wordpress.com/2018/11/05/wertarbeit/
30Bruhn, Joachim: „Typisch deutsch“ – Christian R. und der linke Antirassismus, in: Was deutsch ist.
31Die Subjekte, die zugleich Individuum wie Charaktermaske sind, sind in sich selbst gespalten.

DER STAAT BIST DU! CHARAKTERMASKEN ABSCHMINKEN!

Flugblatt, das auf der Demonstration ‚Sarrazin, halt‘s Maul‘ am 10.12.2019 in Bremen verteilt wurde.1

Liebe GenossInnen von der Kampagne NIKA Nordwest und sonstige UnterstützerInnen des heutigen Aufrufs. Anders als die autoritären MarxistInnen es raunen, ist das Kapital kein Kreis von Personen, die in irgendwelchen Räumen über das Vorgehen auf unserer Welt entscheiden. Das Kapital ist viel mehr eine gesellschaftliche Synthesis, die alle ausschließt, weil es die Individuen zu Subjekten und die sinnlichen Dinge zu Waren atomisiert und zugleich alle einschließt, indem alles auf den Wert bezogen und dadurch miteinander austauschbar ( also vergleichbar) wird.

Diese gesellschaftliche Synthesis des Kapitals wird im Tausch hergestellt. In ihm werden Waren auf das soziale Verhältnis des Wertes bezogen. Im Tausch allein kann sich der Wert selbst verwerten und kann als scheinbar „automatisches Subjekt“ prozessieren. Eben weil dieses Prinzip in der Gegenwart eine allgemeine Gültigkeit erlangt, und nicht, weil es eine herrschende Klasse mit Profitgier gibt, lässt sich vom Kapitalismus als System sprechen. Der Garant dieses Tauschverhältnisses ist der Staat, der durch seine Monopolisierung der Gewalt ein Recht setzt, das überhaupt erst den Tausch zwischen Freien und Gleichen ermöglicht. Denn wenn sich etwas genommen werden kann, ohne Konsequenzen befürchten zu müssen, braucht sich dafür kein Geld gegeben werden.

Dass die Waren sich nicht selbst zu Markte tragen können, wie Marx anmerkte, heißt in Anbetracht des Tausches als vergesellschaftendes Prinzip, dass der Mensch allein das Subjekt der Geschichte ist und bleibt. Das heißt, dass das „automatische Subjekt“ seine Existenz allein der Handlung von nicht-automatischen, ergo menschlichen, Subjekten verdankt; dass der Staat nur vermittels Subjekten – seien sie PolizistInnen oder PolitikerInnen – erscheinen kann. Wenn Marx allerdings sagt, dass sich die Geschichte scheinbar hinter dem Rücken der Subjekte vollziehen würde, spricht er damit das notwendig und falsche Bewusstsein der Subjekte an. Diese werden zu Charaktermasken,2 die einem fetischisierten Alltagsglauben anhängen und eine bürgerliche Subjektivität erlangen, womit sie das soziale Verhältnis des Wertes reproduzieren, ohne dabei jedoch als Individuen mit ihrer Funktion gänzlich identisch zu sein.

In der von Staat, Kapital und ihren Fetischen bestimmten, bürgerlichen Gesellschaft kann der konkrete empirische Mensch – sofern er das Glück hat, StaatsbürgerIn zu sein und nicht ohne Papiere im Mittelmeer ertrinken muss – nur in der Subjektform überleben. In dieser ist die Individualität zum Accessoire der Persönlichkeit degradiert. Sein Denken ist in die Warenform gebannt, die „erkenntnistheoretisch von der Philosophie und triebökonomisch von der Psychologie verdoppelt und rationalisiert wird.“3 Das Individuum steht also nicht im Gegensatz zur Gesellschaft, sondern die Gesellschaft hat sich ins Innerste des Individuums eingebrannt. Zum Subjekt wird das Individuum, wenn es in der Lage ist, sich selbst als EigentümerIn der Ware Arbeitskraft zu denken, seine eigenen Triebe soweit zu beherrschen, um zur gesellschaftlichen Produktion beitragen zu können. Kurzum: Subjekt sein, das heißt – nach einem Worte von Joachim Bruhn – „Kapital verwertend und Staatsloyal“4 zu sein.

Das Subjekt ist, wovon es selbst in seinem fetischisierten Bewusstsein nur eine Ahnung (als Existenzangst) entwickeln kann, vollauf prekär. Permanent droht die eigene Wertlosigkeit und damit der Verlust der Subjektivität: „Derart ist das bürgerliche Subjekt verfasst, dass es Identität nicht aus sich selbst erzeugen kann, sondern nur im Prozess einer ständigen Abgrenzung, eines permanenten Zweifrontenkrieges gegen das ‚unwerte‘ und gegen das ‚überwertige‘ Leben. Bürgerliche Subjektivität existiert nur in der vollkommenen Leere der permanenten Vermittlung, die sie zwischen den Waren, im Tausch, und um den Preis der ihr andernfalls drohenden Annihilation zu stiften hat.“5

Die erste Front ist eine Abspaltung und Projektion, der eigenen – sich der Verwertung und Verrechtlichung entziehenden – triebhaften Naturbeschaffenheit, auf ein rassifiziertes „Objekt“, dem man den Subjektstatus verweigern muss, um sich selbst als Subjekt wähnen zu können. Die Ambivalenzen zwischen Romantisierung der edlen Wilden und das Streben nach ihrer totaler Beherrschung folgen der dialektischen Logik. In der zweiten Front werden pathisch die eigenen Sehnsüchte auf die „Gegenrasse als solche“ projiziert. Er ist das mörderische Streben des Bürgertums sich selbst zu rassifizieren, die eigene Subjektivität durch Aneignung des angeblich geheimen Wissens der Juden zu erlangen. Diese Abspaltung findet allerdings zweifach statt: ökonomisch im Antisemitismus und politisch im Antizionismus – das eine bedingt das andere so sehr, wie sich Staat und Kapital gegenseitig bedingen.

Dem Antisemiten erscheint das Kapitalverhältnis als Gegenüberstellung von Produktions- und Zirkulationssphäre, wobei die Produktion als „schaffend“ und die Zirkulation als „raffend“ gedacht werden. Dass die Warenproduktion selbst bereits die Zirkulation – den Kauf der Produktionsmittel, ihre Aufwertung durch die gekaufte Ware Arbeitskraft und ihr Weiterverkauf – in sich enthält, kann das fetischisierte Bewusstsein, dass die Wertsteigerung auf magische Weise im Gegenstand selbst vermutet, nicht begreifen. Die Trennung und die Abspaltung erhält das System, ist es doch so möglich, die Produktivität des Kapitalverhältnisses gegen seine ihm innewohnende Destruktivität auszuspielen. In Krisenzeiten der Verwertung erfüllt das Pogrom die Funktion des ritualisierten Opfers an die Gottheit des automatischen Subjekts – von der triebökonomischen Funktion ganz zu schweigen. Der Antizionist wiederum trennt Recht und Gewalt, welche sich gegenseitig bedingen, während er letzteres dem vermeintlich künstlich gesetzten jüdischen Staat zuschlägt, um den eigenen Staat als natürlich gewachsene Entität des Rechts halluzinieren zu können. Die Funktion ist in gewissem Maße analog zum Antisemitismus. Die Fetischisierung des Rechts verdrängt die Gewalt, deren Existenz jedoch unwiderlegbar ist, die einem anderen Subjekt zugeschoben werden muss.

Bei beiden ist der Neid auf das vermeintlich geheime Wissen der Juden nicht von der Hand zu weisen, ist das ihnen Unterstellte doch das eigene Verlangen: Verwertung und Herrschaft. Antisemitismus und Antizionismus sind die negative Ökonomie- und Staatskritik in den Formen des fetischisierten Bewusstseins. Beide sind somit gerade nicht Ausdruck einer Archaik oder Feudalität – im Falle des Irans Beleg seines irgendwie vormodernen Daseins –, sondern im Gegenteil Ausdruck der bürgerlichen Moderne. Politik kann gegen sie nichts ausrichten, sind sie doch keine Unwissenheit, sondern logische Konsequenz der bürgerlichen Subjektivität, auf der jede Vorstellung von Politik notwendigerweise beruht.

Die deutsche Vergesellschaftung ist dabei von einer besonderen Widerwärtigkeit. Richard Wagners affirmative Emphase, dass es deutsch sei, eine Sache um ihrer selbst Willen zu tun, bekommt ihre historische Wahrheit in der antisemitischen Vernichtung um der Vernichtung Willen. Ihren materialistischen Gehalt erhält sie durch den Verweis auf Adornos Rede, dass ein Deutscher jemand sei, der keine Lüge aussprechen könne, ohne sie selbst zu glauben. In aller Kürze heißt das, dass die Unwahrheiten der bürgerlichen Gesellschaft im Nationalsozialismus auf brutalste Art und Weise beinahe wahr gemacht worden ist, wie die bloß über den Wert vermittelte vermeintliche Egalität der Klassengesellschaft zur Auflösung des Klassenwiderspruchs in der Egalität des Mordkollektivs, wie der Traum von der krisenfreien Ökonomie in der kriegerischen Konsumgemeinschaft. Das Erbe dieser Gemeinschaft lebt fort im postnazistischen Sozialpakt, in der Unterstützung antisemitischer Mörderbanden, dem Aufschwingen zur moralischen Weltmacht und in der stetigen Möglichkeit, sich im Angesicht der Krise erneut auf die altvertraute – beinahe erfolgreiche – Krisenlösung zu besinnen.

Alles was bisher über Subjektivität gesagt wurde, gilt natürlich auch für den deutschen Staat, der nur durch seine StaatsbürgerInnen überhaupt sein kann und der sich eben nicht bloß durch Wirtschaftsbosse und PolitfunktionärInnen ausdrückt, sondern in dem jedeR einzelneR StaatsbürgerIn in eine entsprechende Charaktermaske schlüpft. Das Ausspielen der klassenbewussten Antifa gegen die rassistischen FunktionärInnen von Staat und Kapital verkennt die gerade in Deutschland (gern) praktizierte Verbindung von Mob und Elite. Verkennt, dass der arbeitslose Faschist in Ostdeutschland mit den Sarrazins, Höckes und den Mitgliedern des Wirtschaftsclubs Havanna in Bremen in einem Verhältnis steht; dass sich die Subjektivität der ersten in Abschiebungen und Bevölkerungspolitik äußern kann, während letztere zur Festigung ihrer bürgerlichen Subjektform – und das hat Joachim Bruhn im Fall eines Mörders von Solingen bereits auf dem Konkret Kongress 1993 deutlich dargelegt – einzig und allein der rassistische Mord bleibt.6 Die von buchgläubigen Kommunisten erstrebte Emanzipation der Deutschen zu Menschen, betrifft jeden Staatsbürger auf unterschiedliche Weise, aber doch gleichermaßen.

Dies festzustellen ist nicht gleichbedeutend mit einer Verdrängung der berechtigten Wut auf die Charaktermasken der politischen und ökonomischen Macht oder einer Predigt für den Verzicht auf nonverbalen Kommunikation mit autoritären Dreckssäcken – notfalls auch vermittelt über deren Eigentum. Vielmehr ist dies festzustellen, um die Gemeinsamkeiten der rassistischen Formierung im Bewusstsein zu behalten, ohne dabei die einen zum bloßen Fußvolk der Anderen zu machen. DeutscheR – und das heißt manifesteR AntisemitIn und RassistIn – zu sein, ist eine Entscheidung, für die jedeR im sartre‘schen Sinne zur Verantwortung zu ziehen ist.

Und ebenso sind Linke zur Verantwortung zu ziehen, die sich nicht in allerletzter Radikalität in eine Fundementalopposition zu diesem widerwärtigen Drecksland begeben. Das Gegenteil von gut ist in der Welt von Kapital, Staat und ihren Fetischen leider, leider, leider gut gemeint, liebe Genossinnen und Genossen von NIKA Nordwest.

Please don‘t shoot the messenger,
Solarium – kommunistische Gruppe Bremen.

1Dieses Flugblatt ist die gekürzte (und auf den Aufruf: https://www.nationalismusistkeinealternative.net/bremen-sarrazin-halts-maul-gegen-rassismus-und-klassenkampf-von-oben/ zugespitzte)
Version eines internen Kommuniqués zur Verständigung über Kapital, Staat, ihre Fetische und dieses deutsche Scheiszland, das in den nächsten Wochen in Gänze auf antideutsch.org veröffentlicht wird.
2Bloßen FunktionsträgerInnen des automatischen Subjekts.
3Bruhn, Joachim: Was deutsch ist,S. 162.
4Bruhn, Joachim: Videomitschnitt vom Konkret Kongress 1993.
5Bruhn, Joachim: Was deutsch ist, S. 96.
6Bruhn, Joachim: „Typisch deutsch“ - Christian R. und der linke Antirassismus, in: Was deutsch ist.